Die diesjährige "Freiheit-statt-Angst"-Demonstration ist gelaufen. Die Mailinglisten, Blogs und Twitterbeiträge haben eine realistische Chance, nach Wochen der Vorbereitung wieder über etwas Anderes zu berichten, und zu meiner Schande muss ich sagen: gut so. Nach mehr als drei Jahrzehnten braven Mitgetrottes auf allem, was es an linken Traditionsmärschen so gibt, fällt es mir zunehmend schwerer, in dieser Protestform noch den Ansatz irgendeines Sinns zu erkennen. Gut, wer einfach Lust hat, wieder ein paar nette Leute zu treffen und einen schönen Tag zu haben, soll sich gern den Spaß gönnen, aber erwartet jemand ersthaft, dass sich durch die Tatsache, dass an einem Fleck der Republik aufgerundet 0,3 Promille des Volkes im Kreis laufen, auch nur das kleinste bisschen ändert? Meine Stadt veranstaltet mehrmals im Jahr Massenbesäufnisse, an denen weit mehr Leute teilnehmen, und das einzige Beben, das durchs Land geht, ist das Basswummern der auftretenden Bands.
Weswegen war ich nicht alles auf der Straße: gegen die Volkszählung, gegen die Atomraketen, gegen Kernkraft, gegen den zweiten Irakkrieg, gegen den dritten Irakkrieg, gegen den Überwachungsstaat, gegen die Werftenschließungen, gegen Arbeitgeberwillkür, gegen Kürzungen im Bildungssektor, gegen Sozialabbau und natürlich auch gegen die Nazis - sehen Sie sich um, was es gebracht hat. Die einzige Demonstration, die wirklich zu einer Veränderung führte, war die Montagsdemonstration in der DDR, da war ich erstens nicht dabei, zweitens mussten Hunderttausende unter erheblichen Risiken über Wochen immer wieder vor die Haustür, und drittens hätte vielleicht nicht einmal das zum Sturz des Regimes geführt, wenn nicht gleichzeitig diejenigen, die nicht demonstrierten, geflüchtet wären.
In der Bundesrepublik können Sie demonstrieren, bis Ihre Schuhe Löcher haben, da ändert sich nichts. So lange Sie sich grundgesetzkonform, und das heißt vor allem: friedlich, versammeln, kann es Ihnen sogar passieren, dass Ihnen ein freundlicher Polizist im Winter eine Tasse Kaffee zum Aufwärmen anbietet. Als wir bei einer besonders kläglich besuchten Demonstration anboten, statt auf der Straße auf dem Bürgersteig zu gehen, grinste der Einsatzleiter nur fröhlich: "Was denn, Sie haben doch alles ordentlich angemeldet, natürlich sperren wir für Sie die Straße ab, gibt doch gleich viel mehr her." Recht hatte er; an dieser Stelle noch einmal herzlichen Dank.
Damit mir keiner etwas in den letzten Absatz hinein liest, was ich nicht meine: Gewaltsame Demonstrationen mögen den größeren Unterhaltungswert besitzen, aber abgesehen davon, dass ich von Prügeleien nichts halte, bringen sie auch nichts. In Kreuzberg gibt es seit Jahrzehnten am 1. Mai die traditionelle Straßenschlacht mit der Polizei - der Sache hat dieser Unsinn eher geschadet als genützt. Interessant wird die Sache erst, wenn so viele Leute auf die Straße gehen, dass sich mathematisch interessierte Abgeordnete zu fragen beginnen, was das wohl in Prozenten bedeuten und möglicherweise die Sitzverteilung im Parlament ändern könnte. Sagen wir, die Grenze läge bei einem Prozent Stimmanteilen. Das hieße, dass bei etwa 60 Millionen Wahlberechtigten und einer katastrophal niedrigen Wahlbeteiligung von 70 Prozent 420.000 Menschen nötig wären, um einen Bundestagsabgeordneten ins Grübeln zu bringen. Im Jahr 2003 demonstrierten 500.000 Menschen in Berlin gegen den Irakkrieg, und siehe da: Kanzler Schröder entdeckte den Pazifisten in sich. Meine Schätzung ist also gar nicht so schlecht.
Damit wäre endlich das Stichwort gefallen, auf das ich die ganze Zeit hinaus wollte: Schätzung. Offenbar ist es bei einer Demonstration völlig egal, worum es geht, so lange genug Leute anmarschieren. Aus diesem Grund haben die Veranstalter das Interesse, die Zahl möglichst hoch zu schätzen. Gleichzeitig unterstellen sie der Polizei, ihre Schätzungen künstlich niedrig zu halten. Welchen Vorteil es der Polizei einbringen soll, die Zahlen nach unten zu manipulieren, bleibt offen. Ungeachtet dieser Frage hat es sich inzwischen eingebürgert, Polizei- und Veranstalterschätzung zu nehmen und den wahren Wert irgendwo dazwischen festzulegen.
Das funktioniert natürlich nur, wenn sich beide Seiten einigermaßen zusammenreißen. Dieses Mal scheint in Berlin jedoch einiges durcheinander gelaufen zu sein. Spricht die Polizei von etwa 10.000, die taz im Verlauf des Nachmittags von 13.000 bis 15.000 und die Veranstalter am Ende von 25.000 Menschen, muss man den guten Willen schon etwas strapazieren, um diese Spannbreite noch halbwegs erklären zu können, aber wenn die Piratenpartei auf einmal über 30.000 Teilnehmner aus dem Hut zaubert, bekomme ich bei aller Sympathie Zweifel, ob hier die Wahrheit nicht Opfer des Wahlkampfs wird. Es mag ein wenig Enttäuschung mitschwingen, dass man die in euphorischen Diskussionen aufgeworfene Zahl von 100.000 nicht einmal ansatzweise erreichte, aber man sollte bei allem Interesse, zwei Wochen vor der Bundestagswahl als eine Kraft zu erscheinen, die Chancen auf einen Einzug ins Parlament hat, einen gewissen Realitätssinn bewahren. Wohlgemerkt, die Fünf-Prozent-Hürde wird am 27. September bei etwa 2,1 Millionen Stimmen liegen, da hilft es nicht viel, die optimistische Schätzung des Veranstalters noch einmal um weitere 20 Prozent zu überbieten.
Möglicherweise habe ich zu viel Zeit mit Mathematikern und zu wenig Zeit mit Vertrieblern zugebracht, als dass ich dem Gefeilsche um eine Zahl etwas abgewinnen könnte, die sich dank 116 an der Demonstrationsroute platzierter Kameras wahrscheinlich bis auf die Person genau feststellen ließe. Ich weiß, auf einer solchen Veranstaltung herrscht ständiges Kommen und Gehen, aber nicht 20.000 Menschen bei einer Maximalzahl von etwa 30.000. Ich will auch nicht die von der Polizei später unkommentierte Schätzung von 10.000 Teilnehmern überbewerten. Ich finde es nur enttäuschend, wenn eine Bewegung, die angetreten ist, um das im Pomp erstarrte Politestablishment aufzumischen, im Ernstfall in die albernen Riten ihrer Gegner verfällt. Wir lachen uns doch auch halb tot, wenn die SPD-Vertreter an Wahlabenden freudestrahlend die Degradierung ihrer Partei zur Splitterbewegung mit den Worten kommentieren, sie hätten ihr Wahlziel erreicht, die absolute Mehrheit der Union zu verhindern. Ich finde 20.000 Menschen, die sich für ein so trockenes Thema wie Datenschutz auf die Straße begeben, eine befriedigende Zahl. Die eigentliche Abstimmung, wie ernst das Grundgesetz künftig im Bundestag genommen wird, findet am 27. September statt.
Nachtrag: Der Adrenalinschub bei den Piraten scheint nachzulassen. In einer späteren Presseerklärung ist auch nur noch von 25.000 Teilnehmern die Rede.