Die gute Nachricht zuerst: Die Große Koalition ist abgewählt. Die schlechte Nachricht: nur eine Hälfte. Das Abschneiden der SPD wäre schon fast bemitleidenswert, wenn die Partei das Ergebnis als Chance zur Erneuerung begriffe. Dazu müssten die Verantwortlichen natürlich endlich verstehen, dass eine einst den Kanzler stellende Partei ambitioniertere Ziele haben sollte, als nur den Wiedereinzug ins Parlament zu schaffen.
Neu ist die Situation für die SPD freilich nicht, nur gab es immer wieder historische Zufälle, die über die Lage hinweg täuschten: 1998 hatten die Leute Kohl so satt, dass selbst Schröder sie nicht ausreichend abschrecken konnte. 2002 war die Erinnerung an Kohl noch wach, Schröder mit Gummistiefeln beim Oderhochwasser so anrührend und sein Gegenkandidat eine dermaßene Lachnummer, dass die SPD sich gerade noch so halten konnte. 2005 wäre eigentlich eine gute Gelegenheit gewesen, die heillos zerstrittene rot-grüne Mannschaft zum geordneten Rückzug in die Opposition antreten zu lassen, um sich dort neu zu sortieren und 2009 gestärkt wieder anzutreten. Statt dessen ließ sich eine vor Machtgier zu keinem klaren Gedanken mehr fähige SPD auf eine Große Koalition mit der sträflich unterschätzten Kanzlerin Merkel ein. In dieser Koalition ließ sich die SPD vier Jahre lang von der CDU vor sich her treiben und gab sich mit einer ans Pathologische grenzenden Realitätsverleugnung der Illusion hin, man sei der kraftstrotzende Regierungspartner und die schlechten Umfrageergebnisse ließen sich durch ein weiteres Oderhochwasser schon wieder hinbiegen.
Die SPD habe in ihrer einhundertsechsundvierzigjährigen Geschichte so manche Krise erlebt, hieß es in den vergangenen Monaten immer wieder, deswegen werde sie auch diese überstehen. Eine hübsche Hoffnung, aber nicht unbedingt eine begründete. Nur weil ich n Jahre lebe, heißt das nicht, dass ich auch n+1 Jahre leben werde. Gehen Sie auf den nächstbesten Friedhof, wenn Sie mir nicht glauben. Vielleicht ist die Zeit für die SPD einfach abgelaufen. Der akademisch-ökologisch-mittelständische Flügel ist zu den GrünInnen, der proletarisch-sozialistische Flügel zur Linkspartei und der IT-Bürgerrechtler-Flügel zu den Piraten abgewandert. In völliger Fehleinschätzung der Situation hat die SPD diese Abwanderung nicht nur hingenommen, sondern vor allem beim Wegbruch des linken Arbeitnehmerflügels sogar noch aktiv unterstützt, weil man sich als Partei der Mitte etablieren ("profilieren" wäre in diesem Zusammenhang ein Oxymoron) wollte und davon ausginge, die verlorenen Schäfchen werden schon von allein wieder zur Herde finden. Warum die ehemaligen Mitglieder aus den auf ihre Bedürfnisse spezialisierten Parteien wieder in den sozialdemokratischen Mischmasch zurückkehren sollen, wo sie ständig in der Minderheit sind, vermag die SPD nicht zu vermitteln.
So lange die Stimmanteile ausreichten, um wenigstens noch als Koalitionspartner unentbehrlich zu sein, konnte sich die SPD der Illusion hingeben, alles sei im Prinzip in Ordnung. Jetzt aber haben ihre Prozentzahlen die Region erreicht, in der auch Linkspartei, GrünInnen und FDP unterwegs sind. Statt sich mit der CDU um die Kanzlerfrage zu streiten, ist die SPD nur ein möglicher Bündnispartner von vielen, und ihre Konkurrenten haben nur zu gut die arroganten Verleumdungen in Erinnerung, mit denen die SPD sie einst klein zu halten versuchte. Unwählbar seien sie alle, von Demokratiefeinden unterwandert, Rattenfänger, denen kein vernünftiger Mensch seine Stimme geben dürfe. Knapp ein Drittel der Wähler sehen dies anders. Das sind zehn Prozent mehr als die, welche der SPD noch etwas zutrauen.
Dreiundzwanzig Prozent sind natürlich besser als nichts. Die SPD ist nicht am Boden zerstört, aber wenn ihr in den kommenden Jahren keine Antwort auf die Frage "Wer braucht euch noch?" einfällt, gibt es nichts, was den freien Fall bremst. Eins scheint mir klar: Mit der jetzigen Mannschaft gelingt die Antwort nicht.
Dann heißt es also schwarz-gelb. Knapp die Hälfte meines Lebens werde ich von dieser Farbkombination regiert worden sein. Ich bin also im Training und habe eine grobe Ahnung von dem, was kommen wird. Die FDP wird bei jeder größeren Schweinerei entsetzt aufschreien, mit ihnen den Liberalen, ginge das auf gar keinen Fall, eher friere die Hölle zu. Die CDU sagt daraufhin "OK, wir senken die Steuern für Einkommen ab 100.000 €", und schlagartig kann man im Fegefeuer Schlittschuh laufen. Warten Sie ab, wann wir die Bundeswehr im Innern haben. Eine einfache Stoppuhr mit Sekundenzeiger sollte reichen.
Ideologisch hat der Neuaufguss von schwarz-gelb seine Vorteile. Diese Regierung wird so agieren, wie man es von ihr erwartet. Auf ein linkes Korrektiv braucht man gar nicht erst zu hoffen. Gespannt bin ich unter anderem auf die kommende Ausweitung der Internetzensur - vor allem auf technischer Ebene. Bei den IP-Blockaden wird es wohl kaum bleiben. Was kommt danach? Ich tippe auf Sendezeiten für bestimmte Inhalte. Diese Idee wurde in der Vergangenheit immer wieder diskutiert und ist so herzerweichend dumm, dass unsere christliberalen Internetexperten der Versuchung nicht lange werden widerstehen können.
Das Abschneiden der Piraten offenbart den Unterschied zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung. Wer die Internetaktivität dieser Partei beobachtete, musste den Eindruck bekommen, die Kanzlerschaft sei in greifbarer Nähe, und nicht wenige Wahlkämpfer ließen sich zur Äußerung hinreißen, die Fünf-Prozent-Hürde sei ein realistisches Ziel. Am Ende waren es zwei Prozent - ein Achtungserfolg, wenngleich auch meilenweit vom Einzug ins Parlament entfernt. Nüchtern betrachtet war es auch gut so. Weder personell noch programmatisch war man für den Bundestag gewappnet. Die Piraten hätten sich gnadenlos blamiert und wären wieder in der Versenkung verschwunden. Nun aber haben sie genug Stimmen bekommen, um sich ermutigt zu fühlen, aber auch wenig genug, um zu wissen, dass sie noch viel vor sich haben. Die Informationsgesellschaft wirft Fragen auf, die von den bisherigen Parteien nicht angemessen beantwortet werden. Den Bedarf für eine auf diese Fragen spezialisierte Partei gibt es also. Die kommenden vier Jahre werden zeigen, ob die Piraten diese Partei sind.
Sonntag, 27. September 2009
Nichtwählen allein reicht nicht
Das System der repräsentativen Demokratie ist korrupt. Eine vom Volk meilenweit abgehobene politische Kaste lässt sich im Vierjahresrhythmus in ihrer Herrschaft bestätigen, um sich in der Zwischenzeit in ihr Raumschiff zurückzuziehen, in dem sie bis in alle Ewigkeit ihre sinnlosen Machtspielchen vollzieht und sich in den Spielpausen persönlich bereichert. Nichtwählen, das ist ist die Antwort. Dem Establishment zeigen, dass man nicht länger bereit ist, diese Verhöhnung der demokratischen Idee weiter mitzutragen. Trotz aller Anfeindungen stolz und mutig dazu stehen, dass man sich von den politischen Laiendarstellern nicht länger einlullen lässt.
Hach, da fühle ich mich doch gleich viel wohler, nachdem ich das geschrieben habe. Bekräftigt werde ich in meiner Auffassung noch durch einen Telepolis-Artikel, der ausführlich die grundsätzlichen Fehler des Ansatzes erläutert, durch Wahlen Macht an Vertreter abzugeben. Die wahren Demokraten, so betont der Artikel immer wieder, seien diejenigen, die sich tapfer der Versuchung widersetzen, nicht wählen und märtyrerhaft die an Verfolgung grenzenden Angriffe einer politisch korrekten Gesinnungspolizei ertragen. Kopf hoch, habt Mut! Der deutsche Widerstand stirbt, doch er ergibt sich nicht!
Jetzt haben wir's denen da oben aber kräftig gegeben. Die fangen bestimmt schon an zu zittern, weil wir sie durchschaut haben. Heute Abend wird Frau Merkel vor die Kameras treten und sagen: "Ich finde es ja prima, dass meine Regierung eine satte Mehrheit errungen hat, aber tut mir leid, ich kann die Wahl nicht annehmen. Gerade erfahre ich, dass 30% der Wahlberechtigten gar nicht mit abgestimmt haben. Das macht mich irgendwie total traurig. Ich und meine Kollegen haben deswegen beschlossen, den Bundestag aufzulösen und erst dann wieder zusammenzutreten, wenn wieder viel mehr Leute wählen gehen und wir eine wirkliche demokratische Legitimation haben. In der Zwischenzeit müsst ihr euch eben selbst etwas beschäftigen."
Wissen Sie, was passieren wird, wenn wirklich niemand mehr wählen geht? Weihnachtsmann und Osterhase werden gemeinsam ihre Geschenke austeilen, mit anderen Worten: Der Fall wird nie eintreten. Es gibt im Wahlgesetz keinen Passus, der festlegt, ab welcher Beteiligung eine Wahl gültig ist und was zu geschehen hat, falls dieses Quorum nicht erreicht wird. Mit anderen Worten: Solange es irgendetwas zum Auszählen gibt, wird es ein Wahlergebnis geben, aus dem sich eine Sitzverteilung ableitet, auch wenn nur die Kandidaten selbst wählen gehen und einfach sich selbst ankreuzen.
Es mag dem Telepolis-Autor nicht passen, aber wenn jemand nicht wählen geht und das auch noch für eine wahnsinnig tolle Entscheidung hält, muss er sich von mir, der ich nun wirklich nicht zu politischer Korrektheit neige, gefallen lassen, dass ich ihn für eine Idioten halte. Ich kann nachvollziehen, dass man auf die sich an Überflüssigkeit gegenseitig überbietende Riege von Politikersimulationen keine Lust mehr hat. Ich kann das Misstrauen verstehen, das viele Leute gegenüber einem System empfinden, in dem wie in einer Casting-Sendung ein paar Karrierejunkies von Ortsvereins- bis aus Landesebene durch verschiedene Auswahlrunden genudelt werden, bis zum Schluss ein stromlinienförmiger Strahlemann übrig bleibt, dessen Hauptverdienst vor allem darin besteht, sich auf seiem Weg nach oben die wenigsten Feinde gemacht zu haben. Ich bin sogar bereit, darüber zu diskutieren, ob man politische Ämter nicht besser einfach auslosen sollte, weil damit die Chance, per Zufall jemanden mit Verstand zu erwischen, höher als beim jetzigen Verfahren ist und vor allem deutlicher wäre, dass politische Verantwortung vor allem eines ist: eine Bürde, keine Belohnung für Beliebtheit. Ein Regierungschef, der wirklich begriffen hat, was sei Amt bedeutet, müsste eigentlich statt mit einem strahlenden Lächeln mit abgekauten Nägeln herumlaufen.
Wenn also jemand nicht zur Wahl geht, kann ich das verstehen. Dummerweise lassen es die Meisten darauf bewenden, und genau das kritisiere ich. Demokratien, egal ob parteienbasiert oder nicht, funktionieren nur bei aktiver Teilnahme des Volkes. Wer schmollend daheim herumsitzt, akzeptiert faktisch nur das Bestehende, auch wenn er noch so mit den Zähnen knirscht. Wer irgendetwas erreichen will, und sei es die Abschaffung des Parlamentarismus, muss aktiv werden, muss mit Leuten in Kontakt treten, muss Unterstützer gewinnen. Einfach nur maulen reicht nicht.
Nachtrag: Fast noch dämlicher als Nichtwählen ist in meinen Augen das bewusste ungültige Ausfüllen des Stimmzettels. Glaubt wirklich jemand, der Wahlvorstand falte beim Auszählen den Zettel auseinander, liefe bleich an, sage: "Da hat einer 'Alles Schwachköpfe' draufgeschrieben. Du liebe Güte, der hat ja Recht. Ich rufe sofort den Kanzler an, er soll die Wahlen absagen und bessere Kandidaten suchen." Ich habe über zehn Jahre als Wahlhelfer gearbeitet. Kein einziges Mal hat ein ungültiger Stimmzettel zu mehr Reaktionen geführt als zur Frage: "Wo is'n der Stapel mit den Ungültigen?"
Hach, da fühle ich mich doch gleich viel wohler, nachdem ich das geschrieben habe. Bekräftigt werde ich in meiner Auffassung noch durch einen Telepolis-Artikel, der ausführlich die grundsätzlichen Fehler des Ansatzes erläutert, durch Wahlen Macht an Vertreter abzugeben. Die wahren Demokraten, so betont der Artikel immer wieder, seien diejenigen, die sich tapfer der Versuchung widersetzen, nicht wählen und märtyrerhaft die an Verfolgung grenzenden Angriffe einer politisch korrekten Gesinnungspolizei ertragen. Kopf hoch, habt Mut! Der deutsche Widerstand stirbt, doch er ergibt sich nicht!
Jetzt haben wir's denen da oben aber kräftig gegeben. Die fangen bestimmt schon an zu zittern, weil wir sie durchschaut haben. Heute Abend wird Frau Merkel vor die Kameras treten und sagen: "Ich finde es ja prima, dass meine Regierung eine satte Mehrheit errungen hat, aber tut mir leid, ich kann die Wahl nicht annehmen. Gerade erfahre ich, dass 30% der Wahlberechtigten gar nicht mit abgestimmt haben. Das macht mich irgendwie total traurig. Ich und meine Kollegen haben deswegen beschlossen, den Bundestag aufzulösen und erst dann wieder zusammenzutreten, wenn wieder viel mehr Leute wählen gehen und wir eine wirkliche demokratische Legitimation haben. In der Zwischenzeit müsst ihr euch eben selbst etwas beschäftigen."
Wissen Sie, was passieren wird, wenn wirklich niemand mehr wählen geht? Weihnachtsmann und Osterhase werden gemeinsam ihre Geschenke austeilen, mit anderen Worten: Der Fall wird nie eintreten. Es gibt im Wahlgesetz keinen Passus, der festlegt, ab welcher Beteiligung eine Wahl gültig ist und was zu geschehen hat, falls dieses Quorum nicht erreicht wird. Mit anderen Worten: Solange es irgendetwas zum Auszählen gibt, wird es ein Wahlergebnis geben, aus dem sich eine Sitzverteilung ableitet, auch wenn nur die Kandidaten selbst wählen gehen und einfach sich selbst ankreuzen.
Es mag dem Telepolis-Autor nicht passen, aber wenn jemand nicht wählen geht und das auch noch für eine wahnsinnig tolle Entscheidung hält, muss er sich von mir, der ich nun wirklich nicht zu politischer Korrektheit neige, gefallen lassen, dass ich ihn für eine Idioten halte. Ich kann nachvollziehen, dass man auf die sich an Überflüssigkeit gegenseitig überbietende Riege von Politikersimulationen keine Lust mehr hat. Ich kann das Misstrauen verstehen, das viele Leute gegenüber einem System empfinden, in dem wie in einer Casting-Sendung ein paar Karrierejunkies von Ortsvereins- bis aus Landesebene durch verschiedene Auswahlrunden genudelt werden, bis zum Schluss ein stromlinienförmiger Strahlemann übrig bleibt, dessen Hauptverdienst vor allem darin besteht, sich auf seiem Weg nach oben die wenigsten Feinde gemacht zu haben. Ich bin sogar bereit, darüber zu diskutieren, ob man politische Ämter nicht besser einfach auslosen sollte, weil damit die Chance, per Zufall jemanden mit Verstand zu erwischen, höher als beim jetzigen Verfahren ist und vor allem deutlicher wäre, dass politische Verantwortung vor allem eines ist: eine Bürde, keine Belohnung für Beliebtheit. Ein Regierungschef, der wirklich begriffen hat, was sei Amt bedeutet, müsste eigentlich statt mit einem strahlenden Lächeln mit abgekauten Nägeln herumlaufen.
Wenn also jemand nicht zur Wahl geht, kann ich das verstehen. Dummerweise lassen es die Meisten darauf bewenden, und genau das kritisiere ich. Demokratien, egal ob parteienbasiert oder nicht, funktionieren nur bei aktiver Teilnahme des Volkes. Wer schmollend daheim herumsitzt, akzeptiert faktisch nur das Bestehende, auch wenn er noch so mit den Zähnen knirscht. Wer irgendetwas erreichen will, und sei es die Abschaffung des Parlamentarismus, muss aktiv werden, muss mit Leuten in Kontakt treten, muss Unterstützer gewinnen. Einfach nur maulen reicht nicht.
Nachtrag: Fast noch dämlicher als Nichtwählen ist in meinen Augen das bewusste ungültige Ausfüllen des Stimmzettels. Glaubt wirklich jemand, der Wahlvorstand falte beim Auszählen den Zettel auseinander, liefe bleich an, sage: "Da hat einer 'Alles Schwachköpfe' draufgeschrieben. Du liebe Güte, der hat ja Recht. Ich rufe sofort den Kanzler an, er soll die Wahlen absagen und bessere Kandidaten suchen." Ich habe über zehn Jahre als Wahlhelfer gearbeitet. Kein einziges Mal hat ein ungültiger Stimmzettel zu mehr Reaktionen geführt als zur Frage: "Wo is'n der Stapel mit den Ungültigen?"
Mittwoch, 23. September 2009
Countdown steht auf 4
Noch vier Tage bis zur Wahl - Zeit sich zu überlegen, wo die Kreuzchen denn nun landen sollen. Zum Glück haben die Parteien ganz ähnliche Sorgen, weswegen sie ihre Kandidaten bis kurz vor Schluss in die Arenen schicken. In diesem Fall war es eine Podiumsdiskussion in Bonn, die sich der verschiedenen Haltungen zum Thema Bürgerrechte annahm. Geladen hatten der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung, die Humanistische Union und der Verein Mehr Demokratie e.V., gekommen waren Ulrich Kelber (SPD), Katja Dörner (Grüne), Stephan Eisel (CDU), Paul Schäfer (Linke) und Philipp Große (FDP). Philipp - wer? Der FDP-Abgeordnete für Bonn heißt doch Westerwelle, oder? Man muss fair bleiben. Westerwelle ist die Nummer 1 der FDP und hat einen etwas anderen Reiseplan als seine Mitbewerber. Da reicht es bei einer vergleichsweise kleinen Versammlung wie dieser, wenn der Bezirkssprecher der Jungen Liberalen einspringt. Der bringt zwar nicht ganz so viel auf die Waage, aber so lange er gut vorbereitet ist und die Fragen beantwortet, kann man doch froh sein, dass alle im Bundestag vertretenen Parteien jemanden geschickt haben.
Alle im Bundestag vertretenen Parteien? Da waren doch noch die Piraten, warum hat die keiner eingeladen? Das Thema passt doch ganz fantastisch zu denen. Das stimmt, aber sieht man sich an, was die Piraten unter "im Bundestag vertreten" verstehen, so handelt es sich dabei um einen einzelnen Abgeordneten am Ende seiner parlamentarischen Laufbahn, der kurz vor Ablauf der Legislaturperiode (und seines Mandats) im Streit die SPD-Fraktion verlassen und einen Aufnahmeantrag in die Piratenpartei gestellt hat. Ich will niemandem auf die Füße treten, aber das ist eine andere Liga als die anderen Parteien, die seit Jahren mit direkt oder über die Liste entsandten Abgeordneten im Bundestag vertreten sind. Selbst wenn man formaljuristisch akzeptiert, dass die Piraten mit einem Abgeordneten auf irgendeine Weise im Bundestag sitzen, haben die anderen fünf Parteien wenigstens noch Direktkandidaten, die sie für Bonn ins Rennen schicken. Hätte man die Piraten eingeladen, wäre der Ausgewogenheit halber auch eine Einladung an die anderen Parteien angemessen gewesen, und wie man gleich sehen wird, hatten die Veranstalter allein schon aus zeitlichen Gründen keine Lust, sich das Podium mit Vertretern der MLPD, den Violetten und erst recht nicht mit der NPD vollzustopfen. Sehen Sie sich den Stimmzettel für Bonn an, treiben Sie ein wenig Kopfrechnen und sagen Sie mir dann, ob Sie es ertragen hätten, wenn auch nur die Hälfte der in Frage kommenden 20 Parteien auf dem Podium vertreten gewesen wären.
Die Spielregeln waren einfach: Jeder Mitveranstalter stellt sich vor und den Kandidaten eine Frage. Jeder bekommt zur Antwort zweieinhalb Minuten, nach denen der Moderator auch nicht mehr viel mit sich handeln ließ. Dazwischen gab es fürs Publikum Fragerunden, wobei auch hier die Antwortzeit auf zweieinhalb Minuten begrenzt war. Erfreulicherweise hielten sich die Kandidaten an diese Spielregel, wenngleich bei einzelnen der Eindruck aufkam, sie fühlten sich durch diese Einschränkung in ihrer Ehre verletzt.
Es kam viel an diesem Abend zur Sprache, aber als Computerjunkie waren mir die Punkte Datenschutz und Internetzensur am wichtigsten, weswegen ich nur wiedergebe, was dazu gesagt wurde.
Philipp Große von der FDP forderte ein neues Datenschutzgesetz, dem der Leitgedanke der strikten Datensparsamkeit zugrunde liegt. Er betonte dabei aber auch die Verantwortung des Einzelnen und regte an, das Datenschutzbewusstsein der Leute deutlich zu schärfen. Große sprach sich gegen Netzsperren aus, weil man dadurch eine Pandorabüchse geöffnet hat. Er fordert, die Betroffenen von Überwachungsmaßnahmen konsequenter als bisher zu informieren.
Stephan Eisel von der CDU wünscht sich mehr Transparenz beim Datenschutz. Einen großen Teil seiner Argumentation verwandte er auf das Zensurgesetz, das er unterstützt. Er wehrte sich gegen die Verunglimpfung der Gegner des Zensurgesetzes, forderte aber auch für die Befürworter eine fairere Behandlung. Als einziger Podiumsgast sprach er sich deutlich für eine Ausweitung der bereits im Gesetz beschlossenen Zensurmaßnahmen auf alle rechtswidrigen Inhalte aus und nannte als Beispiel rechtsradikale Seiten.
Paul Schäfer von den Linken ist gegen das Zensurgesetz. Er will keine verdachtsunabhängigen Datensammlungen und ist deswegen auch gegen Vorratsdatenspeicherung.
Ulrich Kelber von der SPD möchte sich in der kommenden Legislaturperiode für ein Arbeitnehmer-Datenschutzgesetz engagieren. Er möchte den Auskunftsanspruch der Betroffenen verbessern, wenn diese erfahren wollen, was über sie gespeichert ist. Bei Datenerhebungen wünscht er sich ein striktes Opt-In-Prinzip. Weiterhin regt er ein "Whistleblower-Gesetz" an, das es Informanten ermöglichen soll, auf verdeckte Misstände in ihren Unternehmen hinzuweisen, ohne dafür die Kündigung riskieren zu müssen. Schließlich erläuterte er seinen Standpunkt zum Zensurgesetz, gegen das er zwar schwere Bedenken hat, aber aus Fraktionsdisziplin zusammen mit den Abgeordneten der Großen Koalition verabschiedete. In diesem Zusammenhang merkte er an, er hielte den Satz "Das Internet darf kein rechtsfreier Raum sein" für ausgemachten Blödsinn.
Katja Dörner von den Grünen sprach sich ebenfalls für ein neues Datenschutzgesetz aus. Sie will Privatunternehmen mehr in die Pflicht nehmen und die Haftungsbedingungen für die illegale Datenweitergabe verschärfen. Ähnlich wie Kelber möchte sie die Auskunftsansprüche der Betroffenen stärken. Ihr Akzent besteht in besserer personeller Ausstattung der Datenschutzbeauftragten. Sie ist gegen die Internetzensur und hält das beschlossene Gesetz für reine Symbolpolitik. Die vielen Enthaltungen grüner Abgeordneter bei der Verabschiedung des Gesetzes interpretierte sie als Zeichen, dass man zwar einerseits gegen das Gesetz sei, andererseits gegen Kindesmissbrauch vorgehen wolle.
Inhaltlich gab es insgesamt nicht viel Neues. Vor allem zum Zensurgesetz scheint inzwischen alles gesagt zu sein. Befürworter wie Gegner spulten ihren Katalog ab, wobei ich auf beiden Seiten gern gesehen hätte, wenn offenkundig falsche oder zumindest in dieser Pauschalität nicht korrekte Aussagen in den letzten Monaten einer Revision unterzogen worden wären. Beide Seiten haben sich inzwischen mit der Materie zu intensiv beschäftigt, als dass sie die Nebelgranaten des jeweiligen Gegners nicht zu Genüge kennen. Im Publikum dürfte auch kaum jemand gesessen haben, der sich mit dem Thema so wenig auskannte, dass er die kleinen Flunkereien nicht bemerkt hätte.
Ein wenig störend war am Abend die immer wieder aufflackernde Privatfehde zwischen Eisel und Kelber. Ich weiß nicht, wer damit angefangen hat, aber wer sich Eisels Internetseite ansieht, findet dort zum Zeitpunkt, da ich diesen Artikel schreibe, allein zwei Artikel, in denen Kelber direkt angegangen wird. Auch Eisels Gekrittele an der Aussage des Moderators, laut einer Statistik sei die Direktwahl Kelbers "wahrscheinlich", wirkt auf mich unnötig provinziell. Ich wähle Leute, weil ich sie gut finde, nicht weil die anderen schlecht sind, und jeder sollte wissen, dass die einzige wirklich zuverlässige Aussage, wer das Direktmandat für Bonn in den kommenden vier Jahren innehaben wird, am Sonntag ab 18 Uhr getroffen werden kann.
Womit wir bei meiner höchst subjektiven Einschätzung wären, wer bei der Diskussionsveranstaltung am besten punkten konnte. Paul Schäfer war ordentlich, stach aber nirgendwo besonders heraus. Philipp Große stellte seinen Standpunkt und den seiner Partei gut dar, aber was der spätere Mandatsinhaber Westerwelle im Einzelnen meint, kann Große natürlich nicht wissen. Stephan Eisel gebührt der Respekt, sich der Veranstaltung überhaupt gestellt zu haben, wohl wissend, dass die Stimmung dort nicht gerade für ihn war.
Kommen wir zu den beiden, die aus meiner Sicht die Veranstaltung für sich entschieden: Ulrich Kelber ist Informatiker, und das merkt man einfach, wenn er von Datenschutz spricht. Man mag nicht jede seiner Haltungen teilen, insbesondere beim Zensurgesetz halte ich seine Entscheidung weiterhin für falsch, aber der Mann ist ein Profi und beim Thema Bürgerrechte in seinem Element.
Siegerin nach Punkten ist aus meiner Sicht Katja Dörner, die noch ein wenig bessere Akzente setzte, klar gegen das Zensurgesetz ist und als Neueinsteigerin einfach weniger verbraucht wirkt. Sowohl sie als auch Kelber nahmen sich nach Ende der Veranstaltung noch eine halbe Stunde Zeit und standen mit kleineren Diskussionsrunden zusammen. Dies nur als kleiner Tipp für die anderen Podiumsgäste: So hinterlässt man wenigstens den Eindruck, als interessiere man sich für die Meinung potenzieller Wähler.
Am Ende bleibt eine Frage, die ich am Abend nicht loswurde, die mich aber seit einiger Zeit beschäftigt: Es mag ja sein, dass abgesehen von Herrn Eisel alle Podiumsgäste gegen Internetzensur waren, aber zumindest im Fall Kelbers handelt es sich dabei innerhalb der Partei um eine Minderheitenmeinung, und bei den anderen Parteien muss man nur ein wenig im Internet suchen, um herauszufinden, dass Internetzensur dort auch begrüßt, mitunter sogar deren Ausweitung gefordert wird. Die FDP hat in den vergangenen Jahrzehnten einfach zu oft mit großer Geste Forderungen aufgestellt, nur um sie unmittelbar später wieder fallen zu lassen, als dass ich ihr plötzlich wieder erwachtes Interesse an Menschen- und Bürgerrechten sonderlich ernst nehmen könnte. Bei den Linken und Grünen frage ich mich, wie lange sie der Versuchung widerstehen, die Nazis aus dem Netz auszublenden. Zu deutlich erinnere ich mich noch an den Schwenk der Grünen im Jugoslawienkrieg, und da ging es nicht um ein paar Internetseiten, sondern um einen handfesten Krieg.
Egal, ob es nun um das BKA-Gesetz, die Vorratsdatenspeicherung, die Onlinedurchsuchung, den Hackerparagraphen oder schließlich die Internetzensur ging - immer wieder beobachtete ich den gleichen Frontverlauf: Eine techniklastige Gruppe, für die elektronische Kommunikation nicht einfach ein wichtiges Werkzeug ist, sondern einen charakteristischen Teil ihrer Person ausmacht, stemmt sich vehement gegen eine andere Gruppe, für die Telefone einfach nur zum Sprechen da sind und die beim Internet als Erstes an Bombenbauanleitungen, Terroristen, Nazis, Ufologen, Flamewars und Pornos denken. Katja Dörner sprach bei der Veranstaltung von einer Generationenfrage. Auffällig ist, dass diese beiden Seiten nicht zueinander finden, und ich habe den Eindruck, dass Online- und Offline-Welt seit Jahren so weit auseinander driften, dass ein wichtiger Punkt der demokratischen Willensbildung nicht mehr funktioniert. Die Offline-Welt sieht in der Online-Welt nichts, was für sie irgendeinen Wert bedeutet, die Online-Welt wiederum hält die Offline-Welt für ein altmodisches Relikt. Vertreter beider Welten stolpern unglaublich tapsig in der jeweils anderen Hemisphäre herum. Wichtig ist aber: In beiden Welten leben Menschen. Menschen, die wohl oder übel zwischen beiden Welten hin und her pendeln müssen und in beiden Welten Bedürfnisse und Rechte haben. Diese Welten müssen einander zu verstehen versuchen, und dazu gehört deutlich mehr als wie Herr Eisel stolz auf seine niedrige Compuserve-Nummer zu sein.
Wie stellen Sie sich vor, diese Kluft zu überbrücken?
Alle im Bundestag vertretenen Parteien? Da waren doch noch die Piraten, warum hat die keiner eingeladen? Das Thema passt doch ganz fantastisch zu denen. Das stimmt, aber sieht man sich an, was die Piraten unter "im Bundestag vertreten" verstehen, so handelt es sich dabei um einen einzelnen Abgeordneten am Ende seiner parlamentarischen Laufbahn, der kurz vor Ablauf der Legislaturperiode (und seines Mandats) im Streit die SPD-Fraktion verlassen und einen Aufnahmeantrag in die Piratenpartei gestellt hat. Ich will niemandem auf die Füße treten, aber das ist eine andere Liga als die anderen Parteien, die seit Jahren mit direkt oder über die Liste entsandten Abgeordneten im Bundestag vertreten sind. Selbst wenn man formaljuristisch akzeptiert, dass die Piraten mit einem Abgeordneten auf irgendeine Weise im Bundestag sitzen, haben die anderen fünf Parteien wenigstens noch Direktkandidaten, die sie für Bonn ins Rennen schicken. Hätte man die Piraten eingeladen, wäre der Ausgewogenheit halber auch eine Einladung an die anderen Parteien angemessen gewesen, und wie man gleich sehen wird, hatten die Veranstalter allein schon aus zeitlichen Gründen keine Lust, sich das Podium mit Vertretern der MLPD, den Violetten und erst recht nicht mit der NPD vollzustopfen. Sehen Sie sich den Stimmzettel für Bonn an, treiben Sie ein wenig Kopfrechnen und sagen Sie mir dann, ob Sie es ertragen hätten, wenn auch nur die Hälfte der in Frage kommenden 20 Parteien auf dem Podium vertreten gewesen wären.
Die Spielregeln waren einfach: Jeder Mitveranstalter stellt sich vor und den Kandidaten eine Frage. Jeder bekommt zur Antwort zweieinhalb Minuten, nach denen der Moderator auch nicht mehr viel mit sich handeln ließ. Dazwischen gab es fürs Publikum Fragerunden, wobei auch hier die Antwortzeit auf zweieinhalb Minuten begrenzt war. Erfreulicherweise hielten sich die Kandidaten an diese Spielregel, wenngleich bei einzelnen der Eindruck aufkam, sie fühlten sich durch diese Einschränkung in ihrer Ehre verletzt.
Es kam viel an diesem Abend zur Sprache, aber als Computerjunkie waren mir die Punkte Datenschutz und Internetzensur am wichtigsten, weswegen ich nur wiedergebe, was dazu gesagt wurde.
Philipp Große von der FDP forderte ein neues Datenschutzgesetz, dem der Leitgedanke der strikten Datensparsamkeit zugrunde liegt. Er betonte dabei aber auch die Verantwortung des Einzelnen und regte an, das Datenschutzbewusstsein der Leute deutlich zu schärfen. Große sprach sich gegen Netzsperren aus, weil man dadurch eine Pandorabüchse geöffnet hat. Er fordert, die Betroffenen von Überwachungsmaßnahmen konsequenter als bisher zu informieren.
Stephan Eisel von der CDU wünscht sich mehr Transparenz beim Datenschutz. Einen großen Teil seiner Argumentation verwandte er auf das Zensurgesetz, das er unterstützt. Er wehrte sich gegen die Verunglimpfung der Gegner des Zensurgesetzes, forderte aber auch für die Befürworter eine fairere Behandlung. Als einziger Podiumsgast sprach er sich deutlich für eine Ausweitung der bereits im Gesetz beschlossenen Zensurmaßnahmen auf alle rechtswidrigen Inhalte aus und nannte als Beispiel rechtsradikale Seiten.
Paul Schäfer von den Linken ist gegen das Zensurgesetz. Er will keine verdachtsunabhängigen Datensammlungen und ist deswegen auch gegen Vorratsdatenspeicherung.
Ulrich Kelber von der SPD möchte sich in der kommenden Legislaturperiode für ein Arbeitnehmer-Datenschutzgesetz engagieren. Er möchte den Auskunftsanspruch der Betroffenen verbessern, wenn diese erfahren wollen, was über sie gespeichert ist. Bei Datenerhebungen wünscht er sich ein striktes Opt-In-Prinzip. Weiterhin regt er ein "Whistleblower-Gesetz" an, das es Informanten ermöglichen soll, auf verdeckte Misstände in ihren Unternehmen hinzuweisen, ohne dafür die Kündigung riskieren zu müssen. Schließlich erläuterte er seinen Standpunkt zum Zensurgesetz, gegen das er zwar schwere Bedenken hat, aber aus Fraktionsdisziplin zusammen mit den Abgeordneten der Großen Koalition verabschiedete. In diesem Zusammenhang merkte er an, er hielte den Satz "Das Internet darf kein rechtsfreier Raum sein" für ausgemachten Blödsinn.
Katja Dörner von den Grünen sprach sich ebenfalls für ein neues Datenschutzgesetz aus. Sie will Privatunternehmen mehr in die Pflicht nehmen und die Haftungsbedingungen für die illegale Datenweitergabe verschärfen. Ähnlich wie Kelber möchte sie die Auskunftsansprüche der Betroffenen stärken. Ihr Akzent besteht in besserer personeller Ausstattung der Datenschutzbeauftragten. Sie ist gegen die Internetzensur und hält das beschlossene Gesetz für reine Symbolpolitik. Die vielen Enthaltungen grüner Abgeordneter bei der Verabschiedung des Gesetzes interpretierte sie als Zeichen, dass man zwar einerseits gegen das Gesetz sei, andererseits gegen Kindesmissbrauch vorgehen wolle.
Inhaltlich gab es insgesamt nicht viel Neues. Vor allem zum Zensurgesetz scheint inzwischen alles gesagt zu sein. Befürworter wie Gegner spulten ihren Katalog ab, wobei ich auf beiden Seiten gern gesehen hätte, wenn offenkundig falsche oder zumindest in dieser Pauschalität nicht korrekte Aussagen in den letzten Monaten einer Revision unterzogen worden wären. Beide Seiten haben sich inzwischen mit der Materie zu intensiv beschäftigt, als dass sie die Nebelgranaten des jeweiligen Gegners nicht zu Genüge kennen. Im Publikum dürfte auch kaum jemand gesessen haben, der sich mit dem Thema so wenig auskannte, dass er die kleinen Flunkereien nicht bemerkt hätte.
Ein wenig störend war am Abend die immer wieder aufflackernde Privatfehde zwischen Eisel und Kelber. Ich weiß nicht, wer damit angefangen hat, aber wer sich Eisels Internetseite ansieht, findet dort zum Zeitpunkt, da ich diesen Artikel schreibe, allein zwei Artikel, in denen Kelber direkt angegangen wird. Auch Eisels Gekrittele an der Aussage des Moderators, laut einer Statistik sei die Direktwahl Kelbers "wahrscheinlich", wirkt auf mich unnötig provinziell. Ich wähle Leute, weil ich sie gut finde, nicht weil die anderen schlecht sind, und jeder sollte wissen, dass die einzige wirklich zuverlässige Aussage, wer das Direktmandat für Bonn in den kommenden vier Jahren innehaben wird, am Sonntag ab 18 Uhr getroffen werden kann.
Womit wir bei meiner höchst subjektiven Einschätzung wären, wer bei der Diskussionsveranstaltung am besten punkten konnte. Paul Schäfer war ordentlich, stach aber nirgendwo besonders heraus. Philipp Große stellte seinen Standpunkt und den seiner Partei gut dar, aber was der spätere Mandatsinhaber Westerwelle im Einzelnen meint, kann Große natürlich nicht wissen. Stephan Eisel gebührt der Respekt, sich der Veranstaltung überhaupt gestellt zu haben, wohl wissend, dass die Stimmung dort nicht gerade für ihn war.
Kommen wir zu den beiden, die aus meiner Sicht die Veranstaltung für sich entschieden: Ulrich Kelber ist Informatiker, und das merkt man einfach, wenn er von Datenschutz spricht. Man mag nicht jede seiner Haltungen teilen, insbesondere beim Zensurgesetz halte ich seine Entscheidung weiterhin für falsch, aber der Mann ist ein Profi und beim Thema Bürgerrechte in seinem Element.
Siegerin nach Punkten ist aus meiner Sicht Katja Dörner, die noch ein wenig bessere Akzente setzte, klar gegen das Zensurgesetz ist und als Neueinsteigerin einfach weniger verbraucht wirkt. Sowohl sie als auch Kelber nahmen sich nach Ende der Veranstaltung noch eine halbe Stunde Zeit und standen mit kleineren Diskussionsrunden zusammen. Dies nur als kleiner Tipp für die anderen Podiumsgäste: So hinterlässt man wenigstens den Eindruck, als interessiere man sich für die Meinung potenzieller Wähler.
Am Ende bleibt eine Frage, die ich am Abend nicht loswurde, die mich aber seit einiger Zeit beschäftigt: Es mag ja sein, dass abgesehen von Herrn Eisel alle Podiumsgäste gegen Internetzensur waren, aber zumindest im Fall Kelbers handelt es sich dabei innerhalb der Partei um eine Minderheitenmeinung, und bei den anderen Parteien muss man nur ein wenig im Internet suchen, um herauszufinden, dass Internetzensur dort auch begrüßt, mitunter sogar deren Ausweitung gefordert wird. Die FDP hat in den vergangenen Jahrzehnten einfach zu oft mit großer Geste Forderungen aufgestellt, nur um sie unmittelbar später wieder fallen zu lassen, als dass ich ihr plötzlich wieder erwachtes Interesse an Menschen- und Bürgerrechten sonderlich ernst nehmen könnte. Bei den Linken und Grünen frage ich mich, wie lange sie der Versuchung widerstehen, die Nazis aus dem Netz auszublenden. Zu deutlich erinnere ich mich noch an den Schwenk der Grünen im Jugoslawienkrieg, und da ging es nicht um ein paar Internetseiten, sondern um einen handfesten Krieg.
Egal, ob es nun um das BKA-Gesetz, die Vorratsdatenspeicherung, die Onlinedurchsuchung, den Hackerparagraphen oder schließlich die Internetzensur ging - immer wieder beobachtete ich den gleichen Frontverlauf: Eine techniklastige Gruppe, für die elektronische Kommunikation nicht einfach ein wichtiges Werkzeug ist, sondern einen charakteristischen Teil ihrer Person ausmacht, stemmt sich vehement gegen eine andere Gruppe, für die Telefone einfach nur zum Sprechen da sind und die beim Internet als Erstes an Bombenbauanleitungen, Terroristen, Nazis, Ufologen, Flamewars und Pornos denken. Katja Dörner sprach bei der Veranstaltung von einer Generationenfrage. Auffällig ist, dass diese beiden Seiten nicht zueinander finden, und ich habe den Eindruck, dass Online- und Offline-Welt seit Jahren so weit auseinander driften, dass ein wichtiger Punkt der demokratischen Willensbildung nicht mehr funktioniert. Die Offline-Welt sieht in der Online-Welt nichts, was für sie irgendeinen Wert bedeutet, die Online-Welt wiederum hält die Offline-Welt für ein altmodisches Relikt. Vertreter beider Welten stolpern unglaublich tapsig in der jeweils anderen Hemisphäre herum. Wichtig ist aber: In beiden Welten leben Menschen. Menschen, die wohl oder übel zwischen beiden Welten hin und her pendeln müssen und in beiden Welten Bedürfnisse und Rechte haben. Diese Welten müssen einander zu verstehen versuchen, und dazu gehört deutlich mehr als wie Herr Eisel stolz auf seine niedrige Compuserve-Nummer zu sein.
Wie stellen Sie sich vor, diese Kluft zu überbrücken?
Wir wählen die Nullaussage
Deutschland ist eine Demokratie, und da hat jeder das Recht, zu wählen, was auch immer ihm in den Kram passt. Wer jedoch bei der kommenden Wahl die CDU wählt, weil die so tolle Plakate hat, dem gehört sofort das Wahlrecht entzogen.
Was soll ein so grenzdebiler Slogan wie "Wir wählen die Zuversicht"? Wenn mich mein Drogendealer am Bahnhof fragt, ob ich was zur Beruhigung, zum Aufputschen oder was haben möchte, wovon man gute Laune bekommt, dann komme ich vielleicht auf die Idee, zu sagen, dass ich Zuversicht haben möchte, aber doch bitte nicht dann, wenn es darum geht, die Regierung eines Achtzig-Millionen-Staates zu bestimmen.
Es ist mir völlig egal, ob die Bundesregierung grinst wie ein Rudel Schimpansen auf Dope oder einen Dauerflunsch zieht wie eine Basset-Hound-Ausstellung, so lange sie ihre Arbeit vernünftig erledigt. Sie muss nicht einmal Spaß an der Sache haben, den haben die meisten Arbeitnehmer in diesem Land auch nicht und gehen trotzdem jeden Morgen hin. Das Ergebnis zählt, und solltet ihr es wider Erwarten schaffen, das Land aus der Krise zu steuern, fragt keiner danach, ob ihr dabei zuversichtlich wart.
Bei Adenauer reichte es wenigstens noch für "Wir wählen die Freiheit". Freiheit stellt noch einen Wert dar, Zuversicht ist nichts weiter als eine Strategie zum Katastrophenmanagement. Zuversichtlich kann ich selbst dann noch sein, wenn ich ungesichert von der Eiger-Nordwand abstürze. An der Tödlichkeit des Aufschlags ändert das nichts. Wären die Passagiere der Titanic weniger zuversichtlich gewesen, was die Unsinkbarkeit von 50.000 Tonnen Stahl anbelangt, hätten einige Tausend mehr die Katastrophe überlebt.
Noch wertfreier ist die Parole "Wir wählen die Kanzlerin". Was bitte soll das bedeuten? "Die Frau ist zwar an jeder Aufgabe gescheitert, die komplizierter war, als sich die Schuhe zuzubinden, aber hey, sie ist die Kanzlerin." Ist es das, was ihr sagen wollt? Sind das die einzigen Gründe, die für eure Partei sprechen? Ich hoffe nicht.
Seht euch die Wahlplakate der Konkurrenz an. Die sind zwar auch schlecht, aber wenigstens lassen deren Parolen erkennen, dass hier eine politische Wahl ansteht und nicht die zur Miss Germany.
Was bin ich froh, wenn die Wahl vorbei ist.
Was soll ein so grenzdebiler Slogan wie "Wir wählen die Zuversicht"? Wenn mich mein Drogendealer am Bahnhof fragt, ob ich was zur Beruhigung, zum Aufputschen oder was haben möchte, wovon man gute Laune bekommt, dann komme ich vielleicht auf die Idee, zu sagen, dass ich Zuversicht haben möchte, aber doch bitte nicht dann, wenn es darum geht, die Regierung eines Achtzig-Millionen-Staates zu bestimmen.
Es ist mir völlig egal, ob die Bundesregierung grinst wie ein Rudel Schimpansen auf Dope oder einen Dauerflunsch zieht wie eine Basset-Hound-Ausstellung, so lange sie ihre Arbeit vernünftig erledigt. Sie muss nicht einmal Spaß an der Sache haben, den haben die meisten Arbeitnehmer in diesem Land auch nicht und gehen trotzdem jeden Morgen hin. Das Ergebnis zählt, und solltet ihr es wider Erwarten schaffen, das Land aus der Krise zu steuern, fragt keiner danach, ob ihr dabei zuversichtlich wart.
Bei Adenauer reichte es wenigstens noch für "Wir wählen die Freiheit". Freiheit stellt noch einen Wert dar, Zuversicht ist nichts weiter als eine Strategie zum Katastrophenmanagement. Zuversichtlich kann ich selbst dann noch sein, wenn ich ungesichert von der Eiger-Nordwand abstürze. An der Tödlichkeit des Aufschlags ändert das nichts. Wären die Passagiere der Titanic weniger zuversichtlich gewesen, was die Unsinkbarkeit von 50.000 Tonnen Stahl anbelangt, hätten einige Tausend mehr die Katastrophe überlebt.
Noch wertfreier ist die Parole "Wir wählen die Kanzlerin". Was bitte soll das bedeuten? "Die Frau ist zwar an jeder Aufgabe gescheitert, die komplizierter war, als sich die Schuhe zuzubinden, aber hey, sie ist die Kanzlerin." Ist es das, was ihr sagen wollt? Sind das die einzigen Gründe, die für eure Partei sprechen? Ich hoffe nicht.
Seht euch die Wahlplakate der Konkurrenz an. Die sind zwar auch schlecht, aber wenigstens lassen deren Parolen erkennen, dass hier eine politische Wahl ansteht und nicht die zur Miss Germany.
Was bin ich froh, wenn die Wahl vorbei ist.
Dienstag, 22. September 2009
Sprich mir nach
Falls ich es nicht schon gesagt haben sollte: Es ist Wahlkampf, und da gibt es reichlich Gelegenheit, im Rahmen von Diskussionsveranstaltungen herauszufinden, wer in den kommenden vier Jahren meine Interessen ignorieren wird. Als Nerd spitze ich bei solchen Veranstaltungen natürlich besonders dann die Ohren, wenn es um das zur Rettung unseres Seelenheils dankenswerterweise ins Leben gerufene Internetverhinderungsgesetz geht. Die Argumente und Behauptungen sind hinlänglich bekannt, reichlich Zeit also, sich bei den Debatten weniger für den Inhalt, sondern die Form zu interessieren.
Hierbei fällt mir auf, wie wir von den Zensurbefürwortern gezwungen werden, deren Neusprech-Vokabular zu benutzen. Wehe, wenn wir es wagen, Zensur beim Namen zu nennen, dann jammern sie herum, wie gemein wir zu ihnen wären, das sei doch keine Zensur, sondern genüge allenfalls der Definition von Zensur, was bekanntlich etwas ganz Anderes wäre, und das fänden sie total fies, dass wir ihnen so etwas unterstellen, und das würden sie Mami sagen, und dann kommt die, und dann schimpft die ganz doll und - oh, schon die Zeit um? Ich glaube, damit habe ich Ihre Frage beantwortet. Die einzige Chance, diese Tiraden zu vermeiden, besteht darin, den Ärger runter zu schlucken, von "Sperren" zu reden und sich das Lächeln anzusehen, das in allen Sprachen der Welt heißt: "Siehst du, ich kann dich nicht nur zwingen, das zu sehen, was ich will, ich kann dich sogar zu sagen zwingen, dass du das ganz toll findest."
So funktioniert Macht: durch entsprechende Wortwahl den Gegner bereits vor der Auseinandersetzung in die Defensive zwingen. Das funktioniert seit Jahrzehnten. Beispielsweise spricht das Grundgesetz in Artikel 4 Absatz 3 vom "Kriegsdienst", trotzdem werden die Leute, die ihn verweigern "Wehrdienstverweigerer" genannt. Aus "Krieg" wird auf einmal "sich wehren", und dagegen können ja nur völlige Idioten etwas haben. Aus "Studiengebühren" werden "Studienbeiträge" - naja, seinen Beitrag wird ja wohl jeder leisten, oder? Aus dem "elektronischen Krankenschein" wird die "Gesundheitskarte", was nicht nur verzerrt, sondern sogar noch inhaltlich falsch ist. Ich gehe ja nicht zum Arzt, weil ich gesund, sondern weil ich krank bin.
Was mich stört, ist weniger die Tatsache, dass Sprache nicht zur Übermittlung sondern zur Verschleierung von Informationen missbraucht wird. Was mich stört, ist die Tatsache, dass mich die Regierung zwingen kann, diese Sprachpanscherei auch noch mitzuspielen und ansonsten das Gespräch verweigert. Wenn mich die Verkäuferin bei Starbucks fragt, ob ich den Coffee of the Week to go tall, grande oder venti haben will, reicht es, wenn ich meinen Ausweis zücke und sage: "Mädel sprich deutsch mit mir, denn das ist die Amtssprache des Landes, auf dessen Boden wir beide uns gerade befinden. Wenn mein Geld auch nur in die Nähe deiner Kasse kommen soll, dann gibst du mir einen großen Becher Kaffee, Darreichungsform: heiß und jetzt." Die Starbucks-Verkäuferin begreift sowas, weil sie mir etwas verkaufen möchte. Der Bundestagsabgeordnete, der meine Bürgerrechte einschränken und dafür von mir gewählt werden möchte, ist beleidigt, wenn ich ihm das nicht abkaufen möchte.
Sieht so eine funktionierende Demokratie aus?
Hierbei fällt mir auf, wie wir von den Zensurbefürwortern gezwungen werden, deren Neusprech-Vokabular zu benutzen. Wehe, wenn wir es wagen, Zensur beim Namen zu nennen, dann jammern sie herum, wie gemein wir zu ihnen wären, das sei doch keine Zensur, sondern genüge allenfalls der Definition von Zensur, was bekanntlich etwas ganz Anderes wäre, und das fänden sie total fies, dass wir ihnen so etwas unterstellen, und das würden sie Mami sagen, und dann kommt die, und dann schimpft die ganz doll und - oh, schon die Zeit um? Ich glaube, damit habe ich Ihre Frage beantwortet. Die einzige Chance, diese Tiraden zu vermeiden, besteht darin, den Ärger runter zu schlucken, von "Sperren" zu reden und sich das Lächeln anzusehen, das in allen Sprachen der Welt heißt: "Siehst du, ich kann dich nicht nur zwingen, das zu sehen, was ich will, ich kann dich sogar zu sagen zwingen, dass du das ganz toll findest."
So funktioniert Macht: durch entsprechende Wortwahl den Gegner bereits vor der Auseinandersetzung in die Defensive zwingen. Das funktioniert seit Jahrzehnten. Beispielsweise spricht das Grundgesetz in Artikel 4 Absatz 3 vom "Kriegsdienst", trotzdem werden die Leute, die ihn verweigern "Wehrdienstverweigerer" genannt. Aus "Krieg" wird auf einmal "sich wehren", und dagegen können ja nur völlige Idioten etwas haben. Aus "Studiengebühren" werden "Studienbeiträge" - naja, seinen Beitrag wird ja wohl jeder leisten, oder? Aus dem "elektronischen Krankenschein" wird die "Gesundheitskarte", was nicht nur verzerrt, sondern sogar noch inhaltlich falsch ist. Ich gehe ja nicht zum Arzt, weil ich gesund, sondern weil ich krank bin.
Was mich stört, ist weniger die Tatsache, dass Sprache nicht zur Übermittlung sondern zur Verschleierung von Informationen missbraucht wird. Was mich stört, ist die Tatsache, dass mich die Regierung zwingen kann, diese Sprachpanscherei auch noch mitzuspielen und ansonsten das Gespräch verweigert. Wenn mich die Verkäuferin bei Starbucks fragt, ob ich den Coffee of the Week to go tall, grande oder venti haben will, reicht es, wenn ich meinen Ausweis zücke und sage: "Mädel sprich deutsch mit mir, denn das ist die Amtssprache des Landes, auf dessen Boden wir beide uns gerade befinden. Wenn mein Geld auch nur in die Nähe deiner Kasse kommen soll, dann gibst du mir einen großen Becher Kaffee, Darreichungsform: heiß und jetzt." Die Starbucks-Verkäuferin begreift sowas, weil sie mir etwas verkaufen möchte. Der Bundestagsabgeordnete, der meine Bürgerrechte einschränken und dafür von mir gewählt werden möchte, ist beleidigt, wenn ich ihm das nicht abkaufen möchte.
Sieht so eine funktionierende Demokratie aus?
Sonntag, 20. September 2009
Ich war jung und brauchte die Aufmerksamkeit
Am Sonntag mache ich drei Kreuze - zwei auf den Wahlzettel und dann eines, wenn dieses Theater langsam vorbei ist und sich die Leute wieder wie Vertreter einer Spezies gebärden, die sich selbst das Attribut "sapiens" verpasste.
Es geht hektisch zu in den letzten Tagen vor der Wahl - so hektisch, dass Andreas Popp, seines Zeichens stellvertretender Vorsitzender der Piratenpartei, der "Jungen Freiheit", ihres Zeichens ein mit äußerst fragwürdigem Leumund ausgestattetes Blatt, ein Interview gab und im Nachhinein feststellte: "Oh G'tt, die sind ja rechts." Die Reaktion aus dem Lager der selbsternannten Hüter der Demokratie folgte prompt: Keine Handbreit den Faschisten, schlagt die Rechten, wo ihr sie trefft, wer mit Nazis redet, ist selber einer, dem Faschismus keine Chance, wehret den Änfängen, hoch die internationale Solidarität, und was das linke Phrasenmuseum noch so alles hergibt. Das Tolle: Solche Parolen schreiben sich fast von allein, und beim Schreiben durchströmt einen die warme Gewissheit, etwas von Grund auf Richtiges und Gutes getan zu haben. In der Tat lässt sich gegen die Warnungen vor der aufkeimenden Braunen Brut kaum etwas erwidern, ohne in den Verdacht zu geraten, unglaublich naiv, wenn nicht gar selbst ein Faschist zu sein. Der Rufer in der Wüste hingegen kann nur gewinnen. Erstarkt der Faschismus, dann geschieht das, wovor man die ganze Zeit gewarnt hat, erstarkt er nicht, beweist es, wie wichtig ständige Wachsamkeit ist. Mit der gleichen Strategie hat die Bundesfamilienministerin auch ihr Internetverhinderungsgesetz durchgepeitscht.
Was man lostritt, wenn man wenige Tage vor einer Wahl, bei der man mit den Stimmen der Linkswähler ins Parlament möchte, ausgerechnet einem am äußerst rechten Rand befindlichen Blatt ein Interview gibt, hätte man als stellvertretender Vorsitzender einer Partei nicht nur wissen können, sondern wissen müssen. In dieser Position gehört es einfach dazu, die zentralen Blätter der verschiedenen politischen Strömungen zu kennen. Dass Popp in seinem Blog mit entlarvender Ehrlichkeit seine unglaublichen Defizite auf diesem Gebiet offenbarte, spricht für ihn. Wenigstens versucht er nichts zu vertuschen. Auf der anderen Seite sollte man den Hinweis nicht überstrapazieren, es handle sich bei der Piratenpartei um eine sehr junge Gruppierung, die immense Schwierigkeiten mit ihrem raschen Wachstum der letzten Monate hatte. Erstens existiert die Piratenpartei nicht erst seit Verabschiedung des Internetverhinderungsgesetzes im Juni, zweitens setzt man in Spitzenpositionen keine blutigen Anfänger, sondern Leute, die wenigstens ab und zu Zeitung lesen, zumal es die zur Debatte stehende Publikation sogar im Internet gibt.
Die eigentliche Frage ist jedoch aus meiner Sicht weniger, ob die Piraten noch ganz bei Trost sind, es ist auch nicht die Frage, wie der richtige Umgang mit dem rechten Rand auszusehen hat, es ist vielmehr die Frage wo diese Partei überhaupt genau steht.
Der Vergleich mit den GrünInnen der frühen Achtziger wurde oft bemüht, und viele Kommentatoren haben zwischenzeitlich angemerkt, dass der Vergleich hinkt. Was aber nicht heißt, dass er vollkommener Unsinn ist. In mancherlei Hinsicht stimmt er nämlich, beispielsweise bei der politischen Standortbestimmung. Weder die frühen GrünInnen noch die Piraten lassen sich ins klassische Rechts-links-Schema sauber einordnen. Beide Parteien treten - oder traten zumindest - als Anti-Parteien auf. Die verkrustete Politlandschaft gilt es aufzubrechen, und damals wie heute soll Basisdemokratie den Weg weisen. Wer die praktisch aus einem einzigen zottligen, pulloverstrickenden und Kinder säugenden Eklat bestehenden GrünInnen-Parteitage der Achtziger mit der Ödnis heutiger Tagungen der nominell gleichen Partei vergleicht, wird als ähnlichste Veranstaltung die Piratenparteitage finden, auf denen schwarze T-Shirts schon fast ein Muss und Dreispitze, Plastiksäbel sowie Enterhaken ein gern gesehenes Accessoire darstellen. Ist sowas nun links oder rechts?
Natürlich, eine gewisse Linkslastigkeit stellt man bei beiden Parteien fest, aber genauso wie seinerzeit ökologischer Boden mit dem Blut und Boden eines Baldur Springmann zusammenpasste, fühlen sich heute von der Forderung nach Meinungsfreiheit auch die Leute angezogen, welche unter diesem Begriff vor allem die Freiheit zur Volksverhetzung verstehen. Bezeichnend war auch der Umgang mit Bodo Thiesen und dessen haarscharf am Rande der Rechtsstaatlichkeit entlang schrammenden Äußerungen. In der Diskussion fiel auf, wie schwer es war, die Ebenen auseinander zu halten. Ging es darum, die Shoah zu leugnen oder darum, darüber zu diskutieren, ob es sinnvoll ist, das Leugnen der Shoah zu verbieten? Wer sich auf dieses Gebiet wagt, spielt wahrscheinlich auch gern Rugby auf Minenfeldern.
Damit der Satz, der Ihnen die ganze Zeit durch den Kopf geht, endlich ausgesprochen wird: Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen. Wird dadurch die Sache klarer? Reicht es, einfach einen individuell geprägten Begriff durch einen anderen ebenso individuell geprägten zu ersetzen, um zu wissen, wo Meinungsäußerung aufhört und die Straftat beginnt? Wer klare Grenzen zieht, riskiert, dass Provokateure so nah wie möglich an die Grenzlinie gehen und ausprobieren, was passiert, wenn man den Fuß ein klitzekleines Stück näher an und vielleicht sogar über die Linie schiebt. Wer die Grenzen verwischt, setzt sich dem Vorwurf aus, mit zweierlei Maß zu messen.
Um den Schlenker abzuschließen: Ich glaube nicht, dass es ein Patentrezept zum Umgang mit politischen oder religiösen Extremisten gibt, so laut und selbstverliebt manche das Gegenteil behaupten mögen. Zurück zur Frage: Wo stehen die Piraten?
Um das herauszufinden, bekomme ich gesagt, solle ich mir einfach das Partei- und das Wahlprogramm ansehen. Mit Verlaub, das letzte Mal, dass ich ein Parteiprogramm durchgelesen habe, war irgendwann in den Achtzigern im Geschichtsunterricht. Glaubt wirklich jemand ernsthaft, diese seitenlangen Ergüsse der Aussagelosigkeit gäben Auskunft darüber, was man von der jeweiligen Partei zu erwarten hat? Gönnen Sie sich den Spaß und lesen sich mit einem Bekannten gegenseitig zufällig gewählte Passagen eines beliebigen Wahlprogramms vor. Ich bin mir sicher, in der Hälfte der Fälle können Sie nicht mit Sicherheit sagen, von welcher Partei gerade die Rede ist.
Was wäre denn, hätte auch nur eine der in den letzten sechs Jahrzehnten an einer Bundesregierung beteiligten Parteien ihre schriftlich fixierten Ideen durchgesetzt? Genau, wir hätten Vollbeschäftigung und alle eine Villa am See. Die Staatsverschuldung wäre so niedrig, dass die Regierung Goldbarren an Passanten verschenkt, nur um das schwere Zeug endlich los zu sein, und alles wäre so umweltfreundlich, dass man an Auspuffrohren schnuppert, wenn man etwas frische Luft haben will.
Stünde das tatsächliche Handeln der NPD in deren Parteiprogramm, wäre sie seit Jahrzehnten verboten.
Verstehen Sie jetzt, warum ich der Pro-7-Märchenstunde mehr glaube als irgendeinem Parteiprogramm?
Wo stehen die Piraten? In den Kommentaren der vergangenen Tage wird den Piraten immer wieder vorgeworfen, sich der Einordnung in das links-rechte Schubladendenken zu widersetzen. Man solle doch endlich Stellung beziehen, heißt es, alles Andere sei unredlich. Die Piraten antworten dann gern, sie stünden nicht links oder rechts, sondern vorn, und darüber lästert das politische Establishment. Natürlich ist die Antwort genauso wertlos wie sie alt ist. Bereits der rechtsradikalem Gedankengut unverdächtige FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle sagte Anfang des Jahrtausends auf einer Wahlkampfrede: "Und dann werden wir gefragt: Gehen die Freien Demokraten nach links (große ausladende Geste nach links) oder gehen die Freien Demokraten nach rechts (große ausladende Geste nach rechts), nein, liebe Freunde, wir gehen nach (beide Hände jetzt nach vorne ausladend) vorn!" Spätestens seit dieser Rede sollte "vorn" als möchtegern-witzige Antwort auf die Frage nach der politischen Position eine rhetorische No-Go-Area sein. Wen das nicht überzeugt, der sollte spätestens nach Renate Künast eines Besseren belehrt sein, die vor kurzem in einer Fernsehsendung erklärte, die GrünInnen stünden "links in der Mitte, aber auf jeden Fall vorn". Das klingt beinahe wie im Loriot-Sketch: "hinten, hinten unten", nur dass keiner darüber lacht.
Trotzdem steckt ein Körnchen Wahrheit in dieser Antwort. Sieht man sich die etablierten Parteien an, aus deren Reihen der Befehl erschallt, sich gefälligst einzuordnen, sieht man, wie weit man dort vom selbstgefällig erhobenen Anspruch entfernt ist. Die FDP hatten wir eben schon. Die SPD hat seit der Agenda 2010 jede erdenkliche Anstrengung unternommen, sich ihrer linken Vergangenheit zu entledigen, was sie in dieser Form natürlich nie zugibt. Die CDU ihrerseits hat unter Merkel viele linke Positionen besetzt und nennt es nur anders. Beide ehemaligen Volksparteien sehen sich sowieso am liebsten in der Mitte - dort, wo sich offenbar jeder tummelt, dem völlig egal ist, worum es eigentlich geht, solange er genug Wähler hat.
Spätestens seit den GrünInnen sollte klar sein, wie unnütz und irreführend die alten Schablonen "wir = die Guten = links = intellektuell = progressiv" und "die Anderen = die Bösen = rechts = dumm = konservativ" sind. Wer Windmühlen zur Stromerzeugung benutzt, Gentechnik ablehnt, Lebensmittel möglichst naturnah erzeugt und Wiesen unbebaut lässt anstatt ein schönes modernes Einkaufszentrum darauf zu bauen, ist konservativ, ohne dass sich viele Linke daran stören. Können sich die älteren Semester noch an die Jahrzehnte erinnern, in denen alle Welt den Computer bereits als selbstverständliches Kommunikations- und Arbeitsmittel ansah, während die grün-alternativen Gruppen mahnend mit "1984" wedelten? Selbst heute redet ein Matthias Güldner noch so daher, als misstraue er jedem stromdurchflossenen Objekt, das komplexer als ein Tauchsieder ist. Klingt so eine progressiv-linke Partei? Andererseits diskutiert man auch gewagte Ideen wie das Grundeinkommen - einen Ansatz, der unser komplettes Sozialsystem umkrempeln könnte.
Allein bei der Linkspartei kann man noch diskutieren, wie rein und unverfälscht sie die linke Lehre vertritt, und auch hier stellt sich die Frage, ob das Festhalten an einem Gesellschaftsentwurf aus dem 19. Jahrhundert, der seine zahlreichen historischen Chancen glamourös vermasselt hat, noch als progressiv durchgeht.
Ich kenne Sozialdemokraten, die Gesamtschulen für ausgemachten Blödsinn halten und ihre Kinder autoritär erziehen. Ich kenne CDU-Aktivisten, die es völlig in Ordnung finden, wenn ihre Töchter als Punks herum laufen und selbstverständlich ihren fair gehandelten Kaffee im Bioladen kaufen. Die Zeiten sind vorbei, da eine Mauer die Welt in zwei Hälften teilte und man ganz genau wusste, was man im jeweiligen Lager zu denken hatte. "Die Welt ist komplizierter geworden." - das ist es doch, was die Politprofis seit zwanzig Jahren bei jeder Gelegenheit predigen. "Komplizierter" heißt aber auch: Die Menschen gucken nicht mehr im Knigge nach, ob eine Meinung "links" oder "rechts" ist, so lange sie ihnen passt. Die Piraten mögen unprofessionell agieren, viele ihrer Sympathisanten mögen eher aus einem Bauchgefühl heraus dieser Partei zuneigen, aber was meinen Sie, wie unausgegorenes Zeug ich von einem Sozial- oder Christdemokraten höre, der "die Partei schon so lange wählt, wie [er] denken kann". Glauben Sie, meine Oma liest bei jeder Wahl nach, ob die Sozis heimlich das Parteiprogramm geändert haben? Das Einzige, was meine Oma davon abhalten könnte, SPD zu wählen, wäre die Apokalypse, und selbst im Amageddon fände sie vielleicht noch eine Wahlkabine. Warum? "Schnack nich, dat heff ick ümmer schon so mook."
Kurz: Die Piraten sind ein mehr oder weniger diffuses Gemisch verschiedener politischer Strömungen - so, wie es die anderen Parteien faktisch auch wären, wenn sie die Größe besäßen, dies zuzugeben. Das heißt aber nicht, dass jede Partei sich aus der großen populistischen Lostrommel die nächstbeste These angeln und versuchen soll, ob sie damit genug Wähler bekommt. Ein Konzept, ein Profil sollte man schon erkennen können. Nach der Wahl werden die Parteien etwas Gelegenheit haben, sich den Dreck vergangener Wahlschlachten abzuwischen, die Kleidung zurecht zu rücken und etwas aufzuräumen. Ich hoffe, dass die Piraten diese Gelegenheit für sich nutzen werden.
Es geht hektisch zu in den letzten Tagen vor der Wahl - so hektisch, dass Andreas Popp, seines Zeichens stellvertretender Vorsitzender der Piratenpartei, der "Jungen Freiheit", ihres Zeichens ein mit äußerst fragwürdigem Leumund ausgestattetes Blatt, ein Interview gab und im Nachhinein feststellte: "Oh G'tt, die sind ja rechts." Die Reaktion aus dem Lager der selbsternannten Hüter der Demokratie folgte prompt: Keine Handbreit den Faschisten, schlagt die Rechten, wo ihr sie trefft, wer mit Nazis redet, ist selber einer, dem Faschismus keine Chance, wehret den Änfängen, hoch die internationale Solidarität, und was das linke Phrasenmuseum noch so alles hergibt. Das Tolle: Solche Parolen schreiben sich fast von allein, und beim Schreiben durchströmt einen die warme Gewissheit, etwas von Grund auf Richtiges und Gutes getan zu haben. In der Tat lässt sich gegen die Warnungen vor der aufkeimenden Braunen Brut kaum etwas erwidern, ohne in den Verdacht zu geraten, unglaublich naiv, wenn nicht gar selbst ein Faschist zu sein. Der Rufer in der Wüste hingegen kann nur gewinnen. Erstarkt der Faschismus, dann geschieht das, wovor man die ganze Zeit gewarnt hat, erstarkt er nicht, beweist es, wie wichtig ständige Wachsamkeit ist. Mit der gleichen Strategie hat die Bundesfamilienministerin auch ihr Internetverhinderungsgesetz durchgepeitscht.
Was man lostritt, wenn man wenige Tage vor einer Wahl, bei der man mit den Stimmen der Linkswähler ins Parlament möchte, ausgerechnet einem am äußerst rechten Rand befindlichen Blatt ein Interview gibt, hätte man als stellvertretender Vorsitzender einer Partei nicht nur wissen können, sondern wissen müssen. In dieser Position gehört es einfach dazu, die zentralen Blätter der verschiedenen politischen Strömungen zu kennen. Dass Popp in seinem Blog mit entlarvender Ehrlichkeit seine unglaublichen Defizite auf diesem Gebiet offenbarte, spricht für ihn. Wenigstens versucht er nichts zu vertuschen. Auf der anderen Seite sollte man den Hinweis nicht überstrapazieren, es handle sich bei der Piratenpartei um eine sehr junge Gruppierung, die immense Schwierigkeiten mit ihrem raschen Wachstum der letzten Monate hatte. Erstens existiert die Piratenpartei nicht erst seit Verabschiedung des Internetverhinderungsgesetzes im Juni, zweitens setzt man in Spitzenpositionen keine blutigen Anfänger, sondern Leute, die wenigstens ab und zu Zeitung lesen, zumal es die zur Debatte stehende Publikation sogar im Internet gibt.
Die eigentliche Frage ist jedoch aus meiner Sicht weniger, ob die Piraten noch ganz bei Trost sind, es ist auch nicht die Frage, wie der richtige Umgang mit dem rechten Rand auszusehen hat, es ist vielmehr die Frage wo diese Partei überhaupt genau steht.
Der Vergleich mit den GrünInnen der frühen Achtziger wurde oft bemüht, und viele Kommentatoren haben zwischenzeitlich angemerkt, dass der Vergleich hinkt. Was aber nicht heißt, dass er vollkommener Unsinn ist. In mancherlei Hinsicht stimmt er nämlich, beispielsweise bei der politischen Standortbestimmung. Weder die frühen GrünInnen noch die Piraten lassen sich ins klassische Rechts-links-Schema sauber einordnen. Beide Parteien treten - oder traten zumindest - als Anti-Parteien auf. Die verkrustete Politlandschaft gilt es aufzubrechen, und damals wie heute soll Basisdemokratie den Weg weisen. Wer die praktisch aus einem einzigen zottligen, pulloverstrickenden und Kinder säugenden Eklat bestehenden GrünInnen-Parteitage der Achtziger mit der Ödnis heutiger Tagungen der nominell gleichen Partei vergleicht, wird als ähnlichste Veranstaltung die Piratenparteitage finden, auf denen schwarze T-Shirts schon fast ein Muss und Dreispitze, Plastiksäbel sowie Enterhaken ein gern gesehenes Accessoire darstellen. Ist sowas nun links oder rechts?
Natürlich, eine gewisse Linkslastigkeit stellt man bei beiden Parteien fest, aber genauso wie seinerzeit ökologischer Boden mit dem Blut und Boden eines Baldur Springmann zusammenpasste, fühlen sich heute von der Forderung nach Meinungsfreiheit auch die Leute angezogen, welche unter diesem Begriff vor allem die Freiheit zur Volksverhetzung verstehen. Bezeichnend war auch der Umgang mit Bodo Thiesen und dessen haarscharf am Rande der Rechtsstaatlichkeit entlang schrammenden Äußerungen. In der Diskussion fiel auf, wie schwer es war, die Ebenen auseinander zu halten. Ging es darum, die Shoah zu leugnen oder darum, darüber zu diskutieren, ob es sinnvoll ist, das Leugnen der Shoah zu verbieten? Wer sich auf dieses Gebiet wagt, spielt wahrscheinlich auch gern Rugby auf Minenfeldern.
Damit der Satz, der Ihnen die ganze Zeit durch den Kopf geht, endlich ausgesprochen wird: Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen. Wird dadurch die Sache klarer? Reicht es, einfach einen individuell geprägten Begriff durch einen anderen ebenso individuell geprägten zu ersetzen, um zu wissen, wo Meinungsäußerung aufhört und die Straftat beginnt? Wer klare Grenzen zieht, riskiert, dass Provokateure so nah wie möglich an die Grenzlinie gehen und ausprobieren, was passiert, wenn man den Fuß ein klitzekleines Stück näher an und vielleicht sogar über die Linie schiebt. Wer die Grenzen verwischt, setzt sich dem Vorwurf aus, mit zweierlei Maß zu messen.
Um den Schlenker abzuschließen: Ich glaube nicht, dass es ein Patentrezept zum Umgang mit politischen oder religiösen Extremisten gibt, so laut und selbstverliebt manche das Gegenteil behaupten mögen. Zurück zur Frage: Wo stehen die Piraten?
Um das herauszufinden, bekomme ich gesagt, solle ich mir einfach das Partei- und das Wahlprogramm ansehen. Mit Verlaub, das letzte Mal, dass ich ein Parteiprogramm durchgelesen habe, war irgendwann in den Achtzigern im Geschichtsunterricht. Glaubt wirklich jemand ernsthaft, diese seitenlangen Ergüsse der Aussagelosigkeit gäben Auskunft darüber, was man von der jeweiligen Partei zu erwarten hat? Gönnen Sie sich den Spaß und lesen sich mit einem Bekannten gegenseitig zufällig gewählte Passagen eines beliebigen Wahlprogramms vor. Ich bin mir sicher, in der Hälfte der Fälle können Sie nicht mit Sicherheit sagen, von welcher Partei gerade die Rede ist.
Was wäre denn, hätte auch nur eine der in den letzten sechs Jahrzehnten an einer Bundesregierung beteiligten Parteien ihre schriftlich fixierten Ideen durchgesetzt? Genau, wir hätten Vollbeschäftigung und alle eine Villa am See. Die Staatsverschuldung wäre so niedrig, dass die Regierung Goldbarren an Passanten verschenkt, nur um das schwere Zeug endlich los zu sein, und alles wäre so umweltfreundlich, dass man an Auspuffrohren schnuppert, wenn man etwas frische Luft haben will.
Stünde das tatsächliche Handeln der NPD in deren Parteiprogramm, wäre sie seit Jahrzehnten verboten.
Verstehen Sie jetzt, warum ich der Pro-7-Märchenstunde mehr glaube als irgendeinem Parteiprogramm?
Wo stehen die Piraten? In den Kommentaren der vergangenen Tage wird den Piraten immer wieder vorgeworfen, sich der Einordnung in das links-rechte Schubladendenken zu widersetzen. Man solle doch endlich Stellung beziehen, heißt es, alles Andere sei unredlich. Die Piraten antworten dann gern, sie stünden nicht links oder rechts, sondern vorn, und darüber lästert das politische Establishment. Natürlich ist die Antwort genauso wertlos wie sie alt ist. Bereits der rechtsradikalem Gedankengut unverdächtige FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle sagte Anfang des Jahrtausends auf einer Wahlkampfrede: "Und dann werden wir gefragt: Gehen die Freien Demokraten nach links (große ausladende Geste nach links) oder gehen die Freien Demokraten nach rechts (große ausladende Geste nach rechts), nein, liebe Freunde, wir gehen nach (beide Hände jetzt nach vorne ausladend) vorn!" Spätestens seit dieser Rede sollte "vorn" als möchtegern-witzige Antwort auf die Frage nach der politischen Position eine rhetorische No-Go-Area sein. Wen das nicht überzeugt, der sollte spätestens nach Renate Künast eines Besseren belehrt sein, die vor kurzem in einer Fernsehsendung erklärte, die GrünInnen stünden "links in der Mitte, aber auf jeden Fall vorn". Das klingt beinahe wie im Loriot-Sketch: "hinten, hinten unten", nur dass keiner darüber lacht.
Trotzdem steckt ein Körnchen Wahrheit in dieser Antwort. Sieht man sich die etablierten Parteien an, aus deren Reihen der Befehl erschallt, sich gefälligst einzuordnen, sieht man, wie weit man dort vom selbstgefällig erhobenen Anspruch entfernt ist. Die FDP hatten wir eben schon. Die SPD hat seit der Agenda 2010 jede erdenkliche Anstrengung unternommen, sich ihrer linken Vergangenheit zu entledigen, was sie in dieser Form natürlich nie zugibt. Die CDU ihrerseits hat unter Merkel viele linke Positionen besetzt und nennt es nur anders. Beide ehemaligen Volksparteien sehen sich sowieso am liebsten in der Mitte - dort, wo sich offenbar jeder tummelt, dem völlig egal ist, worum es eigentlich geht, solange er genug Wähler hat.
Spätestens seit den GrünInnen sollte klar sein, wie unnütz und irreführend die alten Schablonen "wir = die Guten = links = intellektuell = progressiv" und "die Anderen = die Bösen = rechts = dumm = konservativ" sind. Wer Windmühlen zur Stromerzeugung benutzt, Gentechnik ablehnt, Lebensmittel möglichst naturnah erzeugt und Wiesen unbebaut lässt anstatt ein schönes modernes Einkaufszentrum darauf zu bauen, ist konservativ, ohne dass sich viele Linke daran stören. Können sich die älteren Semester noch an die Jahrzehnte erinnern, in denen alle Welt den Computer bereits als selbstverständliches Kommunikations- und Arbeitsmittel ansah, während die grün-alternativen Gruppen mahnend mit "1984" wedelten? Selbst heute redet ein Matthias Güldner noch so daher, als misstraue er jedem stromdurchflossenen Objekt, das komplexer als ein Tauchsieder ist. Klingt so eine progressiv-linke Partei? Andererseits diskutiert man auch gewagte Ideen wie das Grundeinkommen - einen Ansatz, der unser komplettes Sozialsystem umkrempeln könnte.
Allein bei der Linkspartei kann man noch diskutieren, wie rein und unverfälscht sie die linke Lehre vertritt, und auch hier stellt sich die Frage, ob das Festhalten an einem Gesellschaftsentwurf aus dem 19. Jahrhundert, der seine zahlreichen historischen Chancen glamourös vermasselt hat, noch als progressiv durchgeht.
Ich kenne Sozialdemokraten, die Gesamtschulen für ausgemachten Blödsinn halten und ihre Kinder autoritär erziehen. Ich kenne CDU-Aktivisten, die es völlig in Ordnung finden, wenn ihre Töchter als Punks herum laufen und selbstverständlich ihren fair gehandelten Kaffee im Bioladen kaufen. Die Zeiten sind vorbei, da eine Mauer die Welt in zwei Hälften teilte und man ganz genau wusste, was man im jeweiligen Lager zu denken hatte. "Die Welt ist komplizierter geworden." - das ist es doch, was die Politprofis seit zwanzig Jahren bei jeder Gelegenheit predigen. "Komplizierter" heißt aber auch: Die Menschen gucken nicht mehr im Knigge nach, ob eine Meinung "links" oder "rechts" ist, so lange sie ihnen passt. Die Piraten mögen unprofessionell agieren, viele ihrer Sympathisanten mögen eher aus einem Bauchgefühl heraus dieser Partei zuneigen, aber was meinen Sie, wie unausgegorenes Zeug ich von einem Sozial- oder Christdemokraten höre, der "die Partei schon so lange wählt, wie [er] denken kann". Glauben Sie, meine Oma liest bei jeder Wahl nach, ob die Sozis heimlich das Parteiprogramm geändert haben? Das Einzige, was meine Oma davon abhalten könnte, SPD zu wählen, wäre die Apokalypse, und selbst im Amageddon fände sie vielleicht noch eine Wahlkabine. Warum? "Schnack nich, dat heff ick ümmer schon so mook."
Kurz: Die Piraten sind ein mehr oder weniger diffuses Gemisch verschiedener politischer Strömungen - so, wie es die anderen Parteien faktisch auch wären, wenn sie die Größe besäßen, dies zuzugeben. Das heißt aber nicht, dass jede Partei sich aus der großen populistischen Lostrommel die nächstbeste These angeln und versuchen soll, ob sie damit genug Wähler bekommt. Ein Konzept, ein Profil sollte man schon erkennen können. Nach der Wahl werden die Parteien etwas Gelegenheit haben, sich den Dreck vergangener Wahlschlachten abzuwischen, die Kleidung zurecht zu rücken und etwas aufzuräumen. Ich hoffe, dass die Piraten diese Gelegenheit für sich nutzen werden.
Montag, 14. September 2009
Überwachung ist k3w7
Wenn bei einer Belagerung den Verteidigern die Waffen ausgehen, fangen sie in ihrer Verzweiflung an, alles mögliche über die Zinnen zu werfen: alte Fässer, Kuhmist und am Ende Sachen, die selbst den Angreifern die Tränen des Mitleids in die Augen treten lassen.
Noch-Justizministerin Zypries scheint auch nicht mehr allzu weit von dem Moment entfernt zu sein, an dem der Burgherr entnervt beschließt, die Tore öffnen zu lassen, anstatt auch nur eine Minute länger in diesem Drecksloch von Burg ausharren zu müssen. Sie schmeißt jetzt mit Begriffen um sich, die zur Zeit ihrer politischen Sozialisierung vor knapp 40 Jahren in der linken Szene noch als Schimpfwörter galten. "Konservativ" zum Beispiel findet sie ganz besonders böse, und deswegen benutzt sie die Kampfvokabel aus der Mottenkiste auch gleich, um die Piratenpartei in Misskredit zu bringen. Dabei übersieht sie in ihrer selbstverkündeten Progressivität allerdings, dass sich die Zeiten inzwischen gewandelt haben und "konservativ" längst nicht mehr den bösen Leumund von einst besitzt. Konservativ sind zum Beispiel die GrünInnen, wenn sie Natur erhalten und mit Windmühlen Strom gewinnen wollen. Konservativ ist die Linkspartei, wenn sie sich für den Erhalt von Arbeitsplätzen und soziale Absicherung einsetzt. Konservativ, ja schon fast reaktionär sind all die Bürgerrechtsgruppen, die sich dafür engagieren, ein vor 60 Jahren verabschiedetes Grundgesetz in seinem Geist zu erhalten, anstatt ständig so daran herum zu huddeln, als hätte man noch ein zweites in Reserve.
Dieser Konservativismus ist es übrigens auch, der mich dazu veranlasst, die Vorratsdatenspeicherung für ausgemachten Blödsinn zu halten. In der Bundesrepublik, in der ich aufwuchs, mussten die Ermittlungsbehörden dem Verdächtigen eine Straftat nachweisen. Heute muss ich beweisen, dass ich trotz meines computergenerierten Persönlichkeitsprofils, das auf einer statistischen Analyse meiner Bewegungsdaten basiert, kein Terrorist bin. Was, Frau Noch-Ministerin, ist aus der guten alten Unschuldsvermutung geworden? Wenn es progressiv sein sollte, sich den Überwachungsstaat herbei zu sehnen, bin ich gerne konservativ.
Hat eigentlich jemand der guten Frau inzwischen erklärt, was ein Browser ist?
Noch-Justizministerin Zypries scheint auch nicht mehr allzu weit von dem Moment entfernt zu sein, an dem der Burgherr entnervt beschließt, die Tore öffnen zu lassen, anstatt auch nur eine Minute länger in diesem Drecksloch von Burg ausharren zu müssen. Sie schmeißt jetzt mit Begriffen um sich, die zur Zeit ihrer politischen Sozialisierung vor knapp 40 Jahren in der linken Szene noch als Schimpfwörter galten. "Konservativ" zum Beispiel findet sie ganz besonders böse, und deswegen benutzt sie die Kampfvokabel aus der Mottenkiste auch gleich, um die Piratenpartei in Misskredit zu bringen. Dabei übersieht sie in ihrer selbstverkündeten Progressivität allerdings, dass sich die Zeiten inzwischen gewandelt haben und "konservativ" längst nicht mehr den bösen Leumund von einst besitzt. Konservativ sind zum Beispiel die GrünInnen, wenn sie Natur erhalten und mit Windmühlen Strom gewinnen wollen. Konservativ ist die Linkspartei, wenn sie sich für den Erhalt von Arbeitsplätzen und soziale Absicherung einsetzt. Konservativ, ja schon fast reaktionär sind all die Bürgerrechtsgruppen, die sich dafür engagieren, ein vor 60 Jahren verabschiedetes Grundgesetz in seinem Geist zu erhalten, anstatt ständig so daran herum zu huddeln, als hätte man noch ein zweites in Reserve.
Dieser Konservativismus ist es übrigens auch, der mich dazu veranlasst, die Vorratsdatenspeicherung für ausgemachten Blödsinn zu halten. In der Bundesrepublik, in der ich aufwuchs, mussten die Ermittlungsbehörden dem Verdächtigen eine Straftat nachweisen. Heute muss ich beweisen, dass ich trotz meines computergenerierten Persönlichkeitsprofils, das auf einer statistischen Analyse meiner Bewegungsdaten basiert, kein Terrorist bin. Was, Frau Noch-Ministerin, ist aus der guten alten Unschuldsvermutung geworden? Wenn es progressiv sein sollte, sich den Überwachungsstaat herbei zu sehnen, bin ich gerne konservativ.
Hat eigentlich jemand der guten Frau inzwischen erklärt, was ein Browser ist?
Samstag, 12. September 2009
Glaube keiner Demonstrationsteilnehmerzahl, die du nicht selbst erlogen hast.
Die diesjährige "Freiheit-statt-Angst"-Demonstration ist gelaufen. Die Mailinglisten, Blogs und Twitterbeiträge haben eine realistische Chance, nach Wochen der Vorbereitung wieder über etwas Anderes zu berichten, und zu meiner Schande muss ich sagen: gut so. Nach mehr als drei Jahrzehnten braven Mitgetrottes auf allem, was es an linken Traditionsmärschen so gibt, fällt es mir zunehmend schwerer, in dieser Protestform noch den Ansatz irgendeines Sinns zu erkennen. Gut, wer einfach Lust hat, wieder ein paar nette Leute zu treffen und einen schönen Tag zu haben, soll sich gern den Spaß gönnen, aber erwartet jemand ersthaft, dass sich durch die Tatsache, dass an einem Fleck der Republik aufgerundet 0,3 Promille des Volkes im Kreis laufen, auch nur das kleinste bisschen ändert? Meine Stadt veranstaltet mehrmals im Jahr Massenbesäufnisse, an denen weit mehr Leute teilnehmen, und das einzige Beben, das durchs Land geht, ist das Basswummern der auftretenden Bands.
Weswegen war ich nicht alles auf der Straße: gegen die Volkszählung, gegen die Atomraketen, gegen Kernkraft, gegen den zweiten Irakkrieg, gegen den dritten Irakkrieg, gegen den Überwachungsstaat, gegen die Werftenschließungen, gegen Arbeitgeberwillkür, gegen Kürzungen im Bildungssektor, gegen Sozialabbau und natürlich auch gegen die Nazis - sehen Sie sich um, was es gebracht hat. Die einzige Demonstration, die wirklich zu einer Veränderung führte, war die Montagsdemonstration in der DDR, da war ich erstens nicht dabei, zweitens mussten Hunderttausende unter erheblichen Risiken über Wochen immer wieder vor die Haustür, und drittens hätte vielleicht nicht einmal das zum Sturz des Regimes geführt, wenn nicht gleichzeitig diejenigen, die nicht demonstrierten, geflüchtet wären.
In der Bundesrepublik können Sie demonstrieren, bis Ihre Schuhe Löcher haben, da ändert sich nichts. So lange Sie sich grundgesetzkonform, und das heißt vor allem: friedlich, versammeln, kann es Ihnen sogar passieren, dass Ihnen ein freundlicher Polizist im Winter eine Tasse Kaffee zum Aufwärmen anbietet. Als wir bei einer besonders kläglich besuchten Demonstration anboten, statt auf der Straße auf dem Bürgersteig zu gehen, grinste der Einsatzleiter nur fröhlich: "Was denn, Sie haben doch alles ordentlich angemeldet, natürlich sperren wir für Sie die Straße ab, gibt doch gleich viel mehr her." Recht hatte er; an dieser Stelle noch einmal herzlichen Dank.
Damit mir keiner etwas in den letzten Absatz hinein liest, was ich nicht meine: Gewaltsame Demonstrationen mögen den größeren Unterhaltungswert besitzen, aber abgesehen davon, dass ich von Prügeleien nichts halte, bringen sie auch nichts. In Kreuzberg gibt es seit Jahrzehnten am 1. Mai die traditionelle Straßenschlacht mit der Polizei - der Sache hat dieser Unsinn eher geschadet als genützt. Interessant wird die Sache erst, wenn so viele Leute auf die Straße gehen, dass sich mathematisch interessierte Abgeordnete zu fragen beginnen, was das wohl in Prozenten bedeuten und möglicherweise die Sitzverteilung im Parlament ändern könnte. Sagen wir, die Grenze läge bei einem Prozent Stimmanteilen. Das hieße, dass bei etwa 60 Millionen Wahlberechtigten und einer katastrophal niedrigen Wahlbeteiligung von 70 Prozent 420.000 Menschen nötig wären, um einen Bundestagsabgeordneten ins Grübeln zu bringen. Im Jahr 2003 demonstrierten 500.000 Menschen in Berlin gegen den Irakkrieg, und siehe da: Kanzler Schröder entdeckte den Pazifisten in sich. Meine Schätzung ist also gar nicht so schlecht.
Damit wäre endlich das Stichwort gefallen, auf das ich die ganze Zeit hinaus wollte: Schätzung. Offenbar ist es bei einer Demonstration völlig egal, worum es geht, so lange genug Leute anmarschieren. Aus diesem Grund haben die Veranstalter das Interesse, die Zahl möglichst hoch zu schätzen. Gleichzeitig unterstellen sie der Polizei, ihre Schätzungen künstlich niedrig zu halten. Welchen Vorteil es der Polizei einbringen soll, die Zahlen nach unten zu manipulieren, bleibt offen. Ungeachtet dieser Frage hat es sich inzwischen eingebürgert, Polizei- und Veranstalterschätzung zu nehmen und den wahren Wert irgendwo dazwischen festzulegen.
Das funktioniert natürlich nur, wenn sich beide Seiten einigermaßen zusammenreißen. Dieses Mal scheint in Berlin jedoch einiges durcheinander gelaufen zu sein. Spricht die Polizei von etwa 10.000, die taz im Verlauf des Nachmittags von 13.000 bis 15.000 und die Veranstalter am Ende von 25.000 Menschen, muss man den guten Willen schon etwas strapazieren, um diese Spannbreite noch halbwegs erklären zu können, aber wenn die Piratenpartei auf einmal über 30.000 Teilnehmner aus dem Hut zaubert, bekomme ich bei aller Sympathie Zweifel, ob hier die Wahrheit nicht Opfer des Wahlkampfs wird. Es mag ein wenig Enttäuschung mitschwingen, dass man die in euphorischen Diskussionen aufgeworfene Zahl von 100.000 nicht einmal ansatzweise erreichte, aber man sollte bei allem Interesse, zwei Wochen vor der Bundestagswahl als eine Kraft zu erscheinen, die Chancen auf einen Einzug ins Parlament hat, einen gewissen Realitätssinn bewahren. Wohlgemerkt, die Fünf-Prozent-Hürde wird am 27. September bei etwa 2,1 Millionen Stimmen liegen, da hilft es nicht viel, die optimistische Schätzung des Veranstalters noch einmal um weitere 20 Prozent zu überbieten.
Möglicherweise habe ich zu viel Zeit mit Mathematikern und zu wenig Zeit mit Vertrieblern zugebracht, als dass ich dem Gefeilsche um eine Zahl etwas abgewinnen könnte, die sich dank 116 an der Demonstrationsroute platzierter Kameras wahrscheinlich bis auf die Person genau feststellen ließe. Ich weiß, auf einer solchen Veranstaltung herrscht ständiges Kommen und Gehen, aber nicht 20.000 Menschen bei einer Maximalzahl von etwa 30.000. Ich will auch nicht die von der Polizei später unkommentierte Schätzung von 10.000 Teilnehmern überbewerten. Ich finde es nur enttäuschend, wenn eine Bewegung, die angetreten ist, um das im Pomp erstarrte Politestablishment aufzumischen, im Ernstfall in die albernen Riten ihrer Gegner verfällt. Wir lachen uns doch auch halb tot, wenn die SPD-Vertreter an Wahlabenden freudestrahlend die Degradierung ihrer Partei zur Splitterbewegung mit den Worten kommentieren, sie hätten ihr Wahlziel erreicht, die absolute Mehrheit der Union zu verhindern. Ich finde 20.000 Menschen, die sich für ein so trockenes Thema wie Datenschutz auf die Straße begeben, eine befriedigende Zahl. Die eigentliche Abstimmung, wie ernst das Grundgesetz künftig im Bundestag genommen wird, findet am 27. September statt.
Nachtrag: Der Adrenalinschub bei den Piraten scheint nachzulassen. In einer späteren Presseerklärung ist auch nur noch von 25.000 Teilnehmern die Rede.
Weswegen war ich nicht alles auf der Straße: gegen die Volkszählung, gegen die Atomraketen, gegen Kernkraft, gegen den zweiten Irakkrieg, gegen den dritten Irakkrieg, gegen den Überwachungsstaat, gegen die Werftenschließungen, gegen Arbeitgeberwillkür, gegen Kürzungen im Bildungssektor, gegen Sozialabbau und natürlich auch gegen die Nazis - sehen Sie sich um, was es gebracht hat. Die einzige Demonstration, die wirklich zu einer Veränderung führte, war die Montagsdemonstration in der DDR, da war ich erstens nicht dabei, zweitens mussten Hunderttausende unter erheblichen Risiken über Wochen immer wieder vor die Haustür, und drittens hätte vielleicht nicht einmal das zum Sturz des Regimes geführt, wenn nicht gleichzeitig diejenigen, die nicht demonstrierten, geflüchtet wären.
In der Bundesrepublik können Sie demonstrieren, bis Ihre Schuhe Löcher haben, da ändert sich nichts. So lange Sie sich grundgesetzkonform, und das heißt vor allem: friedlich, versammeln, kann es Ihnen sogar passieren, dass Ihnen ein freundlicher Polizist im Winter eine Tasse Kaffee zum Aufwärmen anbietet. Als wir bei einer besonders kläglich besuchten Demonstration anboten, statt auf der Straße auf dem Bürgersteig zu gehen, grinste der Einsatzleiter nur fröhlich: "Was denn, Sie haben doch alles ordentlich angemeldet, natürlich sperren wir für Sie die Straße ab, gibt doch gleich viel mehr her." Recht hatte er; an dieser Stelle noch einmal herzlichen Dank.
Damit mir keiner etwas in den letzten Absatz hinein liest, was ich nicht meine: Gewaltsame Demonstrationen mögen den größeren Unterhaltungswert besitzen, aber abgesehen davon, dass ich von Prügeleien nichts halte, bringen sie auch nichts. In Kreuzberg gibt es seit Jahrzehnten am 1. Mai die traditionelle Straßenschlacht mit der Polizei - der Sache hat dieser Unsinn eher geschadet als genützt. Interessant wird die Sache erst, wenn so viele Leute auf die Straße gehen, dass sich mathematisch interessierte Abgeordnete zu fragen beginnen, was das wohl in Prozenten bedeuten und möglicherweise die Sitzverteilung im Parlament ändern könnte. Sagen wir, die Grenze läge bei einem Prozent Stimmanteilen. Das hieße, dass bei etwa 60 Millionen Wahlberechtigten und einer katastrophal niedrigen Wahlbeteiligung von 70 Prozent 420.000 Menschen nötig wären, um einen Bundestagsabgeordneten ins Grübeln zu bringen. Im Jahr 2003 demonstrierten 500.000 Menschen in Berlin gegen den Irakkrieg, und siehe da: Kanzler Schröder entdeckte den Pazifisten in sich. Meine Schätzung ist also gar nicht so schlecht.
Damit wäre endlich das Stichwort gefallen, auf das ich die ganze Zeit hinaus wollte: Schätzung. Offenbar ist es bei einer Demonstration völlig egal, worum es geht, so lange genug Leute anmarschieren. Aus diesem Grund haben die Veranstalter das Interesse, die Zahl möglichst hoch zu schätzen. Gleichzeitig unterstellen sie der Polizei, ihre Schätzungen künstlich niedrig zu halten. Welchen Vorteil es der Polizei einbringen soll, die Zahlen nach unten zu manipulieren, bleibt offen. Ungeachtet dieser Frage hat es sich inzwischen eingebürgert, Polizei- und Veranstalterschätzung zu nehmen und den wahren Wert irgendwo dazwischen festzulegen.
Das funktioniert natürlich nur, wenn sich beide Seiten einigermaßen zusammenreißen. Dieses Mal scheint in Berlin jedoch einiges durcheinander gelaufen zu sein. Spricht die Polizei von etwa 10.000, die taz im Verlauf des Nachmittags von 13.000 bis 15.000 und die Veranstalter am Ende von 25.000 Menschen, muss man den guten Willen schon etwas strapazieren, um diese Spannbreite noch halbwegs erklären zu können, aber wenn die Piratenpartei auf einmal über 30.000 Teilnehmner aus dem Hut zaubert, bekomme ich bei aller Sympathie Zweifel, ob hier die Wahrheit nicht Opfer des Wahlkampfs wird. Es mag ein wenig Enttäuschung mitschwingen, dass man die in euphorischen Diskussionen aufgeworfene Zahl von 100.000 nicht einmal ansatzweise erreichte, aber man sollte bei allem Interesse, zwei Wochen vor der Bundestagswahl als eine Kraft zu erscheinen, die Chancen auf einen Einzug ins Parlament hat, einen gewissen Realitätssinn bewahren. Wohlgemerkt, die Fünf-Prozent-Hürde wird am 27. September bei etwa 2,1 Millionen Stimmen liegen, da hilft es nicht viel, die optimistische Schätzung des Veranstalters noch einmal um weitere 20 Prozent zu überbieten.
Möglicherweise habe ich zu viel Zeit mit Mathematikern und zu wenig Zeit mit Vertrieblern zugebracht, als dass ich dem Gefeilsche um eine Zahl etwas abgewinnen könnte, die sich dank 116 an der Demonstrationsroute platzierter Kameras wahrscheinlich bis auf die Person genau feststellen ließe. Ich weiß, auf einer solchen Veranstaltung herrscht ständiges Kommen und Gehen, aber nicht 20.000 Menschen bei einer Maximalzahl von etwa 30.000. Ich will auch nicht die von der Polizei später unkommentierte Schätzung von 10.000 Teilnehmern überbewerten. Ich finde es nur enttäuschend, wenn eine Bewegung, die angetreten ist, um das im Pomp erstarrte Politestablishment aufzumischen, im Ernstfall in die albernen Riten ihrer Gegner verfällt. Wir lachen uns doch auch halb tot, wenn die SPD-Vertreter an Wahlabenden freudestrahlend die Degradierung ihrer Partei zur Splitterbewegung mit den Worten kommentieren, sie hätten ihr Wahlziel erreicht, die absolute Mehrheit der Union zu verhindern. Ich finde 20.000 Menschen, die sich für ein so trockenes Thema wie Datenschutz auf die Straße begeben, eine befriedigende Zahl. Die eigentliche Abstimmung, wie ernst das Grundgesetz künftig im Bundestag genommen wird, findet am 27. September statt.
Nachtrag: Der Adrenalinschub bei den Piraten scheint nachzulassen. In einer späteren Presseerklärung ist auch nur noch von 25.000 Teilnehmern die Rede.
Wörterbuch des Undemokraten (3)
Für den Gulli
Westerwellisch für: Inhaltliche Auseinandersetzungen mit dem politischen Gegner fand ich immer schon doof, deshalb versuche ich mich mit selbsterfüllenden Prophezeihungen, zum Beispiel bei Youtube. Die dahinter stehende Logik: Eine Stimme für eine mutmaßlich unter der Fünf-Prozent-Hürde befindliche Partei ist eine verlorene Stimme, und jetzt kommt's: egal, wie viele Leute diese Partei wählen, auch wenn es sechs, sieben oder zehn Prozent sind. Eine Partei die der Doktor der Rechtswissenschaften einmal unter der magischen Grenze verortet hat, wird ewig dort bleiben. Das ist nämlich der Grund, warum die GrünInnen, die Linkspartei, diverse Rechtspopulistenformationen zwischen Schill, DVU und NPD und eben auch die bisweilen schwächelnde FDP niemals in die Parlamente eingezogen sind: Wer einmal unter fünf Prozent lag, schafft diese Hürde nie wieder.
Herr Doktor, das ist doch eine tolle Idee von Ihnen - wir schaffen Wahlen gleich ganz ab. Lassen sie uns gleich mit der in zwei Wochen anstehenden beginnen und nehmen einfach das Ergebnis der letzten. Ihrer Logik nach kann sich an den Stimmenverhältnissen ja nichts geändert haben. Besonders gefallen dürften Ihnen die Verhältnisse in Brandenburg mit 3,3% oder Hamburg mit 4,8% für Ihre Partei. Warum gönnen Sie sich und Ihren Parteiaktivisten nicht einfach ein bisschen Ruhe und lösen Ihre dortigen Landesverbände nicht einfach auf? Ist doch sowieso, um es mit Ihren Worten zu sagen, "für den Gulli".
Westerwellisch für: Inhaltliche Auseinandersetzungen mit dem politischen Gegner fand ich immer schon doof, deshalb versuche ich mich mit selbsterfüllenden Prophezeihungen, zum Beispiel bei Youtube. Die dahinter stehende Logik: Eine Stimme für eine mutmaßlich unter der Fünf-Prozent-Hürde befindliche Partei ist eine verlorene Stimme, und jetzt kommt's: egal, wie viele Leute diese Partei wählen, auch wenn es sechs, sieben oder zehn Prozent sind. Eine Partei die der Doktor der Rechtswissenschaften einmal unter der magischen Grenze verortet hat, wird ewig dort bleiben. Das ist nämlich der Grund, warum die GrünInnen, die Linkspartei, diverse Rechtspopulistenformationen zwischen Schill, DVU und NPD und eben auch die bisweilen schwächelnde FDP niemals in die Parlamente eingezogen sind: Wer einmal unter fünf Prozent lag, schafft diese Hürde nie wieder.
Herr Doktor, das ist doch eine tolle Idee von Ihnen - wir schaffen Wahlen gleich ganz ab. Lassen sie uns gleich mit der in zwei Wochen anstehenden beginnen und nehmen einfach das Ergebnis der letzten. Ihrer Logik nach kann sich an den Stimmenverhältnissen ja nichts geändert haben. Besonders gefallen dürften Ihnen die Verhältnisse in Brandenburg mit 3,3% oder Hamburg mit 4,8% für Ihre Partei. Warum gönnen Sie sich und Ihren Parteiaktivisten nicht einfach ein bisschen Ruhe und lösen Ihre dortigen Landesverbände nicht einfach auf? Ist doch sowieso, um es mit Ihren Worten zu sagen, "für den Gulli".
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