Die Meldungen auf Spiegel Online und Heise lassen zunächst vermuten, dass wieder irgendein Internetausdrucker das falsche Kraut geraucht hat: Verschiedene Politiker befürchten, dass durch Twitter die Gültigkeit von Wahlen gefährdet ist.
Ganz so absurd, wie er auf den ersten Blick anmutet, ist der Gedanke nicht. Am Wahltag befragen die Meinungsforschungsinstitute Wähler direkt nach dem Verlassen der Wahllokale, was sie gewählt haben. Diese Zahlen teilen sie nachmittags den Parteien mit. Man kann sich jetzt über die Zuverlässigkeit dieser Umfragen streiten, aber unabhängig von davon misst man ihnen eine hohe Bedeutung bei. Gerade bei knappen Wahlentscheidungen könnte eine vorzeitige Veröffentlichung dieser Ergebnisse zu schwer vorhersehbaren Ergebnissen führen. Im analogen Zeitalter war die Gefahr nicht besonders groß, weil die Massenmedien sich auf jeden Fall zurück gehalten hätten. Im Zeitalter des Internet sieht die Lage natürlich schon anders aus. Wer sieht, wie schnell sich im Moment Nachrichten über Twitter verbreiten, kann absehen, dass vorzeitig veröffentlichte Wahlprognosen zu chaotischen Zuständen führen könnten. Je nachdem, wer seine Klientel schneller mobilisiert, könnte ein siegentscheidender Sturm auf die Wahllokale ausgelöst werden.
"Mit Verlaub, wer ist denn so dämlich und kann bei einer so wichtigen Angelegenheit wie einer Wahl nicht wenigstens bis zur offiziellen Verkündung des Ergebnisses seine Finger bei sich behalten?" könnten Sie jetzt sagen. Wenn Sie schon so fragen: Julia Klöckner, CDU und Ulrich Kelber SPD, beide Mitglieder des deutschen Bundestages und sowas von Web 2.0, dass sie fast schon Web 2.1 sind. Diese beiden fühlen sich nicht nur verpflichtet, im edlen demokratischen Ringen den Willen des Volkes zu repräsentieren, nein, sie sind sogar so nah am Puls der Zeit, dass für sie selbst die Wahl eines Staatsoberhauptes nur ein hippes Event darstellt. Aus diesem Grund durfte so ein unwichtiger Hannes wie der Präsident des Deutschen Bundestages auch nicht das Ergebnis der Bundespräsidentenwahl verkünden, nein das mussten die beiden Speerspitzen der Informationselite unbedingt vorher über Twitter ihren ganzen Followern mitteilen.
Was bei der Wahl des Bundespräsidenten zum Glück nur ein Akt trampelhafter Wichtigtuerei zweier selbstverliebter Provinzpotentaten mit Erziehungsdefizit war, kann bei der Bundestagswahl dazu führen, dass die ganze Abstimmung ungültig wird. Na gut, speziell bei der Wahl im September ist nicht viel Spannung drin, sieht man einmal von der Frage ab, ob die SPD über die Fünf-Prozent-Hürde kommt, aber wenn es wirklich einmal um etwas ginge, könnte eine vorzeitige Bekanntgabe der Prognosen alles kippen. Deswegen zögerte der bekannte Spezialist für politischen Dadaismus, Dieter Wiefelspütz, auch keine Sekunde mit einem Vorschlag: Exit-Polls verbieten, tralafitti nochmal. Da hat wohl einer nicht ganz aufgepasst, was? Wozu haben wir denn bis dahin für viel teures Geld eine Internet-Zensurinfrastruktur aufgebaut? Da schalten wir für den Wahltag in Deutschland doch Twitter einfach ab, Sperrseite davor und jeden, der die Domain aufruft, wegen Wahlsabotage einsperren. Immerhin geht es doch hier um den Fortbestand der Demokratie, da muss die freie Meinungsäußerung schon einmal zurückstecken können. Wenn auch nur ein Stimmzettel gerettet wird, muss uns doch jedes Mittel recht sein, oder sind Sie etwa für Wahlfälschung?
Den Parteivertretern einfach zu sagen, sich für ein paar Stunden zu beherrschen, Verantwortung zu zeigen, keine Verbrechen zu begehen, einfach mal, um es mit Dieter Nuhr zu sagen, die Fresse zu halten, scheint nicht möglich zu sein.