Glorreich waren sie, jene Tage, in denen Pioniere die Grenzen immer weiter verschoben, in denen ein Mann, der wusste, wie man in der Wildnis überlebt, das leben durfte, was noch am ehesten den Begriff "Freiheit" verdient. Es war nicht alles leicht in jenen Tagen, aber man wusste sich zu arrangieren.
Dann kam die Eisenbahn und mit ihr die Leute, denen ein kleines Stückchen Land und ein Häuschen darauf nicht genug waren. Sie wollten Geld, schnell und viel. Sie wollten dafür nicht monatelang einen Acker umgraben oder nach Gold schürfen, sondern bequem in ihren Saloons und Hotels darauf warten, dass das Geld zu ihnen kommt. Begriffe wie Freiheit waren ihnen egal, solange das Geschäft blüht.
Die frühen Siedler und die Geschäftemacher konnten sich natürlich nicht verstehen, zu unterschiedlich waren ihre Auffassungen. Die einen sahen in einem Stück Land ihr Fleckchen Freiheit, die anderen ein profitables Hotel. Auf lange Sicht hatten die Siedler das Nachsehen, weil sie im Wesentlichen ihre kleine Welt verteidigten, während die Geschäftemacher die Massen anzogen, denen Blockhütten und Donnerbalken im Wald nicht zuzumuten waren.
Mit den Massen kamen die Bürokraten der Regierung. Aus den matschigen Feldwegen wurden ordentliche Straßen, aus den Blockhütten mehrstöckige Steinhäuser. In den Augen der Siedler war dies das Schlimmste, was passieren konnte. Genau deswegen hatten sie die Alte Welt verlassen. Sie wollten ihre eigenen Herren sein, unabhängig von den Ämtern und Büros, in denen weit entfernt vom Leben Verordnungen und Gesetze beschlossen wurden. Auf der anderen Seite hatte diese Welt der festgesetzten Maße, Gewichte und Gesetze nicht nur Nachteile. Wer sich jetzt ungerecht behandelt fühlte, ging zum Sheriff und konnte hoffen, dass der sich schon darum kümmert, dass Recht und Ordnung herrschen.
Für die Siedler hatte diese Welt keinen Platz mehr.
Eine ähnliche Situation erleben wir gerade im Web. Die allerersten Pioniere hatten diese Welt mit ihren Akustikkopplern und viel technischem Verstand erforscht und die Grenzen des Machbaren immer weiter gesteckt. Es war eine Welt, in der man sich noch weitgehend gegenseitig vertraute. Man meldete sich mit telnet auf anderen Systemen an, ohne Angst zu haben, dass jemand das Passwort mitschnitt, man sendete sich Mails per SMTP und hatte keinen Grund, den Absender zu fälschen.
Im Gegensatz zu den Siedlern war man im Internet nie wirklich allein. Das verwundert nicht, war es doch immer schon die Aufgabe des Netzes, Menschen zu verbinden und nicht zu trennen. Das führte dazu, dass es von Anfang an Recht und Gesetz im Internet gab, es wurde nur anders umgesetzt. Wenn etwas aus dem Ruder lief, wandte man sich an den zuständigen Admin und wenn der nicht spurte, an den Provider. Die hatten ihre Mittel, Inhalte zu löschen, Nutzer auszusperren und notfalls auch ganz profan anzuzeigen.
Schnell stellte sich aber auch heraus, dass bestimmte Gesetze der analogen Welt schwer ins Internet zu übertragen waren. Schon Wau Holland sagte, dass es sich bei Computern um Datenkopiermaschinen handelt. Wer hieran etwas technisch zu ändern versucht, stellt das Wesen des Computer auf den Kopf. Will man ein Urheberrecht aus der Zeit der Offsetdrucker und Schallplattenpressen auf ein datenträgerübergreifendes Medium zu übersetzen, steht man vor der Wahl, entweder die technische Entwicklung dreißig Jahre zurück zu schrauben oder das Recht der neuen Technik anzupassen.
Sei Mitte der Neunziger befindet sich das Web im Umbruch. Firmen wie AOL sorgten dafür, dass die Menschen massenhaft das Internet nutzten. Diese Leute verstanden auf technischer Ebene immer weniger vom Netz, aber sie brachten Geld. Im globalen Dorf wurden Supermärkte, Amüsierviertel und die ersten Ziegelsteinbauten errichtet. Die Netzpioniere waren nicht über jeden Auswuchs dieser neuen Zeit erfreut, aber da die sich neu eröffnenden Möglichkeiten die Unannehmlichkeiten wie Scriptkids, Spam sowie betrügerische Onlinehändler überwogen, entwickelte man einfach neue Überlebensstrategien und ging mit der Zeit.
Dann kamen die Ordnungsliebhaber. Auch sie brachten eine Denkweise mit, die nicht so recht zur digitalen Welt passte. Aus ihrer Sicht war das Netz ein unreglementierter Haufen, der dringend aufgeräumt werden musste. Wozu das Netz gut war, sahen sie nicht, aber dafür sahen sie umso genauer, wozu es nicht gut sein sollte: Schmuddelseiten, Extremismus und Straftaten. Es bildete sich eine unheilige Allianz aus Ordnungshütern und Geschäftemachern. Den Geschäftemachern war das Gesetz solange völlig egal, wie es nicht ihren Interessen nützte, aber dort, wo sich beides deckte, drehten sie den Spieß um und spielten sich den Ordnungsliebhabern gegenüber als Gesetzeshüter auf.
Wenn es um Recht und Ordnung geht, schätzen deren Verfechter die klare Kante. Wenn auch nur ein Kind gerettet werde, heißt es, sei jedes Kontrollmittel im Internet recht. Damit befindet man sich in bester christlicher Tradition. wird doch schon Arnold Amalrich nachgesagt, er habe 1209 bei der Erstürmung der Katharerstadt Béziers angeordnet, unterschiedslos alle Einwohner zu töten, Gott werde die Seinen schon erkennen.
Die Netzpioniere verstehen nicht nur, wie das Netz auf technischer Ebene funktioniert, sie verstehen seine Philosophie. Sie wissen, warum es wurde, wie es ist, und was passiert, wenn man ihm eine Struktur aufzwingt, die seinem Charakter widerspricht. Ihnen ist klar, dass ein staatlich kontrolliertes Internet nichts mehr mit dem jetzigen zu tun hat. "Information wants to be free." Das war das Motto, unter dem sie seinerzeit einer Welt entflohen, in der Zeitungsverlage und Fernsehanstalten die Meinung vorgaben und wo ein einsam vor sich hin kommentierender Mensch nicht wahrgenommen wurde. Jetzt droht das Internet genau diese Hierarchie wieder zu bekommen. Es gibt im Netz nicht "ein bisschen inhaltliche Kontrolle", genauso wenig, wie es "ein bisschen schwanger" gibt. Entweder hat man das Netz im Griff oder nicht.
Das Internet steht vor einem Umbruch. Die Frage ist, ob die Balance zwischen freier Information und freier Geschäftemacherei erhalten bleibt, oder ob man eine Wildblumenwiese zugunsten eines Englischen Luxusrasens aufgibt. Im Moment spricht vieles dafür, dass der Gärtner Mittel und Wege hat, seinen Luxusrasen durchzusetzen. Das heißt aber auch, dass diejenigen, die sich auf der Wildblumenwiese wohl fühlten, gehen müssen.
Es sieht schlecht aus für die Siedler. Viele von ihnen packen ihre Sachen, werfen noch einen letzten Blick auf das, was sie noch als weites, freies Land kannten, steigen aufs Pferd und suchen eine Gegend, in der man sie noch frei leben lässt.
Der Websten hat ihnen nichts mehr zu bieten.