Und wenn Du denkst, es geht nicht mehr, dann kommt ein Wiefelspütz daher.
Man sollte meinen, dass die SPD in den letzten zwei Wochen reichlich Anlass hatte, über die eigene Wahlkampfstrategie nachzudenken. Deutlich genug hatte ihr die Internetgemeinde zu verstehen gegeben: Liebe SPD, möglicherweise wirst du mit uns nicht die Mehrheit erringen, aber ohne uns wirst du es ganz bestimmt nicht. Du kannst nicht auf der einen Seite deinen traditionellen Arbeiterflügel verprellen, auf der anderen Seite die WWW-Generation vor den Kopf stoßen und glauben, damit auch noch Wähler zu gewinnen. Du kannst nicht auf der einen Seite beklagen, dass sich die jungen Leute von dir abwenden, auf der anderen Seite junge, gut ausgebildete Leute, die nun einmal überwiegend internetaffin sind, mit einer Denkweise aus dem Zeitalter der Dampfmaschinen vergraulen. Wir mögen eine überschaubar große Menge sein, aber wenn du dir ein modernes Profil geben willst, reicht es nicht, eine Homepage zu haben und Schäfer-Gümbel twittern zu lassen, nein, da musst du schon zu verstehen versuchen, wie wir Netizens denken.
Genau das hat die SPD versäumt. Dass die SPD für das Gesetz zur Internetzensur stimmt, hätte man ihr vielleicht noch verziehen. Was man ihr nicht verzieh, war die Art, wie sie die parteiinterne Diskussion niederbügelte. Das war einer Partei, zu deren Charakteristika gerade die Flügelkämpfe gehörten, unwürdig. Wenn man eine Diskussion unterdrückt, bricht sie kurz darauf unkontrolliert wieder hervor. Das hat die SPD immer wieder erfahren müssen. Sie hat sich immer wieder davon erholt, weil ihre Mitglieder trotz allem bei ihr blieben. Dieses Mal aber scheint es anders zu sein.
Wer sich den klassischen linken Thesen verbunden fühlt, geht zur Linkspartei oder den GrünInnen, die Geeks gehen zu den Piraten. In absoluten Zahlen mag sich das alles im kleinen Rahmen halten, aber eine Partei, die sich nicht mehr nach oben Richtung 40 Prozent reckt, sondern nach unten Richtung 20 Prozent sackt, kann sich solche Wanderungen nicht leisten. Ein Pirat beschrieb es vor kurzem mit den Worten: "Wer schafft von uns als Erster die Fünf-Prozent-Hürde? Wir sind näher dran, aber die SPD ist schneller."
Wer sich so rasant von der regierenden Volkspartei Richtung Splittergruppe bewegt, hat möglicherweise Anlass, seine Strategie kritisch zu hinterfragen. Statt dessen schickt die SPD weiterhin Leute wie ihren Vorzeige-Denkverweigerer Dr. Dieter Wiefelspütz an die Front, der innerpartelichen Kritikern bescheinigt, zu behaupten, es handele sich beim Sperren strafbarer Inhalte um Zensur, sei „unterirdisch dumm“ Ein Meister der feingeistigen Zwischentöne war Dr. Tralafitti noch nie, aber man hätte annehmen können, dass die SPD trotz allen Personalmangels noch irgendwo jemanden ausgräbt, der sich wenigstens ab und zu beherrschen kann.
Vielleicht aber hat ja der akademische Titelträger Recht? Sehen wir also nach, was einschlägige Quellen unter dem Begriff "Zensur" verstehen. Da wäre zunächst die Wikipedia:
"Zensur (censura) ist ein politisches Verfahren,[1] um durch Massenmedien oder im persönlichen Informationsverkehr (etwa per Briefpost) vermittelte Inhalte zu kontrollieren, unerwünschte beziehungsweise Gesetzen zuwiderlaufende Inhalte zu unterdrücken und auf diese Weise dafür zu sorgen, dass nur erwünschte Inhalte veröffentlicht oder ausgetauscht werden."
Für alle, die wie Wiefelspütz irgendwo im Analogzeitalter hängen geblieben sind, greife ich zum "Lexikon der Büchergilde" aus dem Jahr 1976:
"staatl. Überprüfung von Kunstwerken oder Schriftstücken, um unerwünschte Veröffentlichungen zu verhindern und Öffentlichkeit, Publizistik und Kunst im Sinne des Regimes zu lenken [...]"
Wie man es dreht und wendet, eine Regierung, welche die Veröffentlichung dokumentierter Kindesmisshandlung zu unterdrücken versucht, zensiert. Man kann dies sogar gut finden, selbst darüber lässt sich reden, aber man sollte doch genug Mumm haben, Dinge beim Namen zu nennen. Was jedoch im Moment stattfindet, beschrieb George Orwell vor über 60 Jahren mit dem Begriff "Neusprech": Man setzt nicht nur eine Maßnahme mit aller Macht durch, man verbiegt die Sprache so, dass die größte Schurkerei auf einmal nach Wohltat klingt.
Die Tatsache, dass keiner der Befürworter des Interneterschwerungsgesetzes genug Rückgrat hat, sich vor ein Mikrofon zu stellen und zu verkünden: "Ja, wir zensieren. Wir wissen, dass wir uns damit in eine schwierige Lage begeben, aber wir sehen keinen anderen Weg, als zu diesem Mittel zu greifen. Hier stehe ich, ich kann nicht anders." ist das eigentliche Armutszeugnis, das sich die Regierungsparteien gerade ausstellen. Ich habe keine Schwierigkeiten damit, wenn in Parlamenten Entscheidungen getroffen werden, die mir nicht passen. Das gehört nun einmal zur Demokratie. Was ich nicht leiden kann, sind Politiker, die glauben, mich auf meinem Fachgebiet verschaukeln zu können. Wer so etwas versucht, verdient es nicht, von mir gewählt zu werden.