In Bezug auf die Ewigkeit sind fünf Minuten eine kurze Zeit, in der man nur endlich viel Worte sagen kann. Endlich viel Worte aus einer ebenfalls endlichen Menge gewählt lassen sich nur endlich oft kombinieren. Stichwort für mathematisch Interessierte: Urnenexperiment mit Zurücklegen, n^k. Wenn man aus der Menge unterschiedlicher Kombinationen über Jahrzehnte täglich schöpft, hat man irgendwann alles durchprobiert. Was ich hier durch die Blume auszudrücken versuche: Es sieht so aus, als sei nahezu alles, was man in einer Radiokurzandacht sagen kann, schon gesagt worden, jedenfalls wiederholt sich das Ganze seit einiger Zeit. Das ist aber nicht weiter schlimm, es hört ohnehin niemand zu.
So sollte man meinen. Tatsächlich aber hört doch gelegentlich jemand zu, insbesondere wenn sich ein rhetorisch guter Pastor wie Burkhard Müller im Februar dieses Jahres in sechs Andachten zu Wort meldet. Müller spricht eine klare Sprache und setzt sich gern in Szene - gute Voraussetzungen für ein erfolgreiches Pastorendasein. Wer verständlich spricht, läuft freilich auch Gefahr, verstanden zu werden. In diesem speziellen Fall ging es um eine etwas heikle Frage, die Müller so klar beantwortete, dass auch das schlichteste Gemüt verstand, worum es ihm ging: Musste Jesus sterben, damit die Sünden vergeben wurden? Müller sagt: Nein.
Verständlichkeit hat eben nicht nur Vorteile. Denken wir an Fußball oder die Rechtschreibung. Im Prinzip weiß jeder, worum es geht: Das Runde muss in das Eckige, und "es sich leicht machen" schreibt man neuerdings getrennt. Das ist verständlich, was den klassischen Wichtigtuer veranlasst, sich sofort als Experte zu fühlen. Verständlich sein heißt aber nicht, dass etwas auch wirklich verstanden wird. Das ist bei Sport- und Sprachfragen nicht anders als bei Theologie. Nicht umsonst kann man alle drei Fachrichtungen studieren. Es gibt also Themen, über die man genauer nachgedacht haben sollte - was natürlich niemanden hindert, sich von jeglicher Sachkenntnis unberührt dazu zu äußern.
Sei es die Frage, wie man am besten Tore schießt, Worte schreibt oder transzendente Mächte behandelt - je weniger man weiß, desto mehr glaubt man, und je mehr man glaubt, desto weniger übernimmt die Ratio, umso mehr die Emotion das Ruder. Bei der Frage, ob Gott unbedingt ein Menschenopfer braucht, um die Sündhaftigkeit der Menschen vergeben zu können, scheiden sich bei Protestanten die Geister mit einer Vehemenz, dass die Taliban als vergleichsweise entspannte Richter in Glaubensfragen durchgehen. Von Ketzerei und Häresie war die Rede, von Irrlehren, abstrusen Ideen, blankes Entsetzen habe die Leute ergriffen, große Wut und riesengroße Enttäuschung darüber, dass die Bibel auf den Kopf gestellt wird.
Nun mag man von Pastor Müller halten, was man will, aber man sollte unabhängig von Zustimmung oder Ablehnung die Kirche im Dorf, in diesem Fall Bonn-Endenich, lassen. Müllers Worte mögen eine nicht ganz uneitle Schmissigkeit haben, aber bei alledem ist der Mann evangelischer Theologe und nicht der Papst. Er hat seinen Hörern nicht vorgeschrieben, was sie glauben sollen, sondern seine Interpretation der Bibel dargelegt - nach guter Wissenschaftlersitte immer brav mit Nennung der Quelle. Wer sich der Mühe unterzieht, bei ihm nachzubohren, bekommt auch eine ausgesprochen differenzierte Antwort. Müller sagt nämlich nicht, dass Jesus umsonst gestorben ist, das Ganze also eine Art Betriebsunfall war. Statt dessen sagt er, Jesus sei so weit gegangen, dass er ab einen bestimmten Punkt nur noch die Wahl hatte, zu fliehen und damit seine Idee zu verraten oder sich seinen Gegnern zu stellen und der Welt zu zeigen, dass er gar nicht anders kann als bis zum Äußersten zu gehen. Das Einzige, was Müller bezweifelt, ist die Behauptung, ein allmächtiger Gott sei ohne Blutopfer nicht fähig, den Menschen zu vergeben. Dabei betont er immer wieder, dass dies seine persönliche Sicht der Dinge ist - sauber und schlüssig hergeleitet, aber eben keine objektive Wahrheit. Am Ende bleibt eine Position, die sich von der seiner Gegner nur wenig unterscheidet: Jesus konnte so oder so nicht anders, als für seine Überzeugung zu sterben, aber in der Müllerschen Exegese fand die Sündenvergebung unabhängig davon statt.
Gleichwohl fiel der Sturm im Abendmahlskelch heftig aus, und da es um das himmlische Heil ging, hielt man es nicht für nötig, sich an irdische Umgangsformen zu halten. Statt sich mit Müller direkt auseinander zu setzen, wandte man sich gleich an den Präses, dass er seinen Endenicher Hirten zur Raison bringe. Der wiederum reagierte nicht wie erwartet und ließ Müller statt dessen gewähren; eine angemessene Entscheidung, denn Müllers Position ist zwar umstritten, wird aber von anderen Theologen geteilt.
Fragt man Müllers Gegner, was genau sie so in Rage bringt, kommen Antworten, die zumindest für den theologischen Laien Fragen offen lassen. Im Sündentod offenbare sich die Liebe G'ttes, heißt es dann. Klar, darauf hätte ich auch selbst kommen können, und wie genau geht das vor sich? "Die Liebe Gottes reicht bis in den Tod, damit die Menschen von der Macht des Todes und der Sünde befreit sind und ein neues Leben führen können." Wundert es irgendwen bei solchen gewundenen Formulierungen ernsthaft, dass eines Tages jemand Ockhams Rasiermesser zückt und dem Ganzen ein klares "Nein" entgegen setzt?
Leute wie Müller seien es, welche die Leute aus der Kirche trieben, wird behauptet. Man korrigiere mich, wenn ich jetzt Falsches erzähle, aber die Leute rennen der Kirche seit Jahrzehnten davon. Dass dies am unzureichenden Verkünden der Kreuzigung in der Mel-Gibson-Fassung liegt, erscheint mir als Erklärung doch etwas gewagt.
"Man soll die Leute da abholen, wo sie stehen", bekommt jeder zu hören, der bei Kirchens auch nur ansatzweise neue Gedanken äußert. In der Praxis heißt dies, dass jeder an Altersstarrsinn erkrankte Querulant allein eine komplette Gemeinde ausbremsen kann, wenn er nur trotzig genug mit dem Fuß aufstampft. Nichts gegen Pastor Müller, aber man überschätzt ihn meiner Meinung nach, wenn man ihm die Macht unterstellt, einen Massenexodus aus der Kirche auslösen zu können. Wahrer Glaube zeigt sich doch gerade darin, dass er immer wieder auf die Probe gestellt wird und dennoch besteht. Wer Burkhard Müller die Schuld am Einsturz des eigenen theologischen Kartenhauses vorwirft, verwechselt Ursache und Auslöser. Wie schwach muss der Glaube eines Menschen denn noch sein, wenn sechs mal fünf Minuten Radioandacht ihn derart aus der Bahn werfen?
Interessanterweise wird es zumindest auf Rundfunkebene keinen weiteren Grund geben, sich über Burkhard Müller aufzuregen. Der WDR hat nämlich auf den Kalender gesehen und ganz überrascht festgestellt, dass wir schon 2009 und nicht mehr 2004 haben - fünf Jahre zu spät für den inzwischen Siebzigjährigen, noch Radiopredigten zu halten. Offenbar verlieren Pastoren mit ihrem 65. Geburtstag schlagartig die Fähigkeit, noch einen klaren Satz von sich zu geben. Welch ein Zufall, dass dem WDR diese Erkenntnis gerade jetzt kommt.