Mittwoch, 5. Juli 2023

Masturbierodon

Es bedarf nicht zwangsläufig einer Horde Nazis, um ein an sich interessantes Medium in einen schwer erträglichen Ort zu verwandeln. Mastodon zum Beispiel war einmal ein beschaulicher Nerd-Tummelplatz, die sich ab und zu mal eine Nachricht schickten, ansonsten aber sich angenehm ruhig verhielten. Mastodon, darüber waren wir uns einig, ist ganz nett, aber unbedeutend. Es gab keinen Grund, sich aufzuplustern, weil sowieso kaum jemand davon etwas mitbekommt.

Dann kaufte Elon Musk Twitter.

Mit einem Schlag änderte sich die Stimmung. Jaa, Mastodon ist nicht Twitter, sondern etwas ganz Anderes. Total. Deswegen sehen sich die Oberflächen und das ganze Konzept mit Kurznachrichten und dem gegenseitigen Folgen so ähnlich. All das eifrige Betonen der Andersartigkeit konnte freilich nicht das tief sitzende Trauma verbergen, sich als der kleine, unterschätzte Twitter-Bruder zu fühlen. Warum sonst gab es auf einmal ständige Status-Tweets-äh-Trööts-natürlich, die aufgeregt davon berichteten, dass schon wieder ein paar hundert Leute den Weg ins Fediverse gefunden haben und wie sehr die Server unter diesem Ansturm in die Knie gehen. Wenn das so weiterginge, dann hat schon in 70 Jahren Mastodon dem kollabierenden Twitter den Rang abgelaufen.

Wahrscheinlich habe ich etwas falsch verstanden, aber warum vergleicht ihr euch ständig mit Twitter, wenn Mastodon doch was völlig Anderes ist?

Bei den steigenden Nutzungszahlen zeigte der Teutone dann auch gleich den Charakterzug, für den ihn weltweit alle bewundern und lieben: den Oberlehrer. Dessen linke Ausprägung ist besonders bizarr. Auf der einen Seite ist er stolz auf seine Diversität, seine Weltoffenheit, seine Fremdenfreundlichkeit. Zuwanderung aus dem Ausland sieht er als Bereicherung, freut sich über die so gewonnene kulturelle Vielfalt und wendet sich vehement gegen die gefürchtete deutsche Leitkultur, die Migrantinnen nur dann zu tolerieren bereit ist, wenn sie ans Christentum und die Kehrwoche glauben. Auf der anderen Seite wacht er mit Argusaugen über jeden Neuankömmling auf Mastodon, und wehe, der vergisst, seine Trööts mit einer "CW" oder seine Bilder mit einer Beschreibung zu versehen. Wehe, er spricht jemanden mit dem falschen Pronomen an oder fragt, warum es beim Re-Trööt keine Kommentarmöglichkeit gibt. Dann kommt er an, der Oberlehrer und (wo-)mensplaint, warum solch ungezügeltes Treiben auf Mastodon nichts verloren hat Da ist dann nicht die Rede von der kulturellen Bereicherung durch andere Sichtweisen oder dem heilsamen Infragestellen verkrusteter Gewohnheiten. Neinein, auf Mastodon herrscht Zucht und Ordnung, da grüßen die jungen Leute noch ordentlich und sind fein still, wenn die Erwachsenen reden.

Ähnlich verwinkelt ist die Logik, wenn es um die Frage geht, wie der ganze Spaß finanziell am Leben gehalten werden soll. Einigkeit herrscht, dass die zahlreichen Betreiberinnen der verschiedenen Mastodon-Instanzen für die ganzen Mühen, die sie dabei auf sich nehmen, nicht auch noch finanziell bluten müssen. Hobby hin oder her, so ein Server kostet Geld, insbesondere ein von vielen hundert, wenn nicht sogar tausend Menschen genutzter Mastodon-Host.

Kommt aber der verhasste Erzfeind Twitter (der sowieso was Anders, als ganz Anderes als Mastodon ist) auf die Idee, für bestimmte Dienstleistungen Geld zu nehmen, kocht die Volksseele. Was erlauben Musk? Der soll seinen seit Jahrzehnten defizitär laufenden Service gefälligst weiterhin gratis anbieten. Besonders das vor kurzem eingeführte Abruflimit von Nachrichten erregt Ingrimm. Nicht, dass irgendwer auf Mastodon noch Twitter läse, natürlich nicht, versichern sich die Anwesenden gegenseitig. Sie seien schon vor Äonen umgezogen, fühlten sich auf der neuen Plattform so viel wohler, dass sie keine Sekunde lang an ihre alte Heimat dächten, aber _wenn_ sie es täten, _dann_ sei es doch eine Unverschämtheit, dass sie pro Tag nicht mehr als ein paar hundert Tweets abrufen können.

Die hinter der Empörung stehende Anspruchshaltung finde ich besonders schwer verständlich. Was bitte glaubt ihr, ist Twitter für ein Unternehmen? Ein Kolchos? Ein VEB? Nein Twitter ist ein ganz profanes, privatwirtschaftliches Unternehmen, das irgendwie Geld abwerfen muss, wenn es überleben will. Ich finde es auch nicht schön, wie Musk die Bude gerade runterwirtschaftet, aber er hat dazu alles Recht der Welt. Wir müssen uns langsam von der Vorstellung verabschieden, dass wir im Netz alles geschenkt bekommen. Wir wollen Zeitungsartikel, für die wir noch vor wenigen Jahren die gedruckte Ausgabe kaufen mussten, ohne Bezahlschranke lesen, aber Werbung wollen wir auch nicht eingeblendet bekommen. Googles Produktpalette nutzen wir gern, echauffieren uns aber über die Datensammelwut des Konzerns. Wer bitte soll denn die Kosten tragen, die allein schon der Betrieb der riesigen Serverfarmen aufwirft? Glaubt ihr, dass die durch Liebe am Laufen gehalten werden? Ihr müsst Twitter nicht mögen, ihr müsst Elon Musk nicht mögen, ihr könnt die Leute verachten, die sich in den letzten Monaten dort ausgebreitet haben, aber zu fordern, Musk dürfe kein Geld für den Dienst verlangen und müsse weiter fleißig Geld verbrennen, indem er der Welt ein Nachrichtenportal ohne Refinanzierungsmöglichkeit zur Verfügung stellt, stellt ein Maß an Realitätsverleugnung und Selbstverliebtheit zur Schau, wie wir es sonst nur von FDP-Spitzenkandidaten kennen.

So gesehen ist der Unterschied zwischen Mastodon und Twitter nicht besonders groß.

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