Montag, 22. Juli 2019

CW

Ich könnte Ihnen erzählen, was es mit dieser Abkürzung auf sich hat, aber das könnte Sie triggern. Ich könnte Ihnen erzählen, worum es in diesem Blogbeitrag geht, aber auch das könnte Sie triggern.

Was Sie hier sehen, ist der letzte Schrei auf Mastodon: CWs. CW sagt man übrigens, um aller Welt zu zeigen, wie wahnsinnig tief man in der Szene ist. "Oh, ich muss dir einen Begriff erklären? Oh bitte entschuldige, Leute die so unfassbar hip sind wie ich, vergessen immer wieder, dass da draußen auch weniger tolle sind. Ich erzähle dir jetzt, was diese Abkürzung für uns Insider bedeutet und lasse bei der Gelegenheit noch ein paar Namen fallen, damit du weißt, wie unfassbar hip ich genau bin."

CW (ich musste auch erst einmal nachsehen) steht für "Content Warning" und ist die Möglichkeit, den Inhalt eines "Toots" (die Nicht-Hippen sprechen von "Tweet", aber das ist etwas ganz Anderes, wie wir Insider uns wissend zulächeln) zu verbergen und erst nach Klick auf eine entspechende "Sensitive-Content"-Schaltfläche anzuzeigen. Wozu das gut sein soll? Ich kann mir einige sinnvolle Anwendungen vorstellen, beispielsweise Gewaltdarstellungen oder ein Text, der den Inhalt eines gerade angesagten Kino-Blockbuster erzählt (oder wie wir Super-Hippen sagen: "spoilert"). Nun bewege ich mich allerdings seit einigen Jahren in neostalinistischen Kreisen, und da werden Sachen radikal zuendegedacht. Die Argumentation lautet: Woher kann ich eigentlich wissen, was wen triggert (für Nicht-Tolle: verstört, aufwühlt, unangenehm berührt)? Wäre es da nicht besser, grundsätzlich jeden Inhalt hinter so einer Schaltfläche zu verstecken?

Wer jetzt im ersten Impuls deutliche Mutmaßungen zum Geisteszustand seines Gegenübers äußert, hat schon verloren, denn prompt zückt dieses die Universalwaffe, mit der zuverlässig jede Diskussion abgewürgt werden kann: Privilegien.

Es sei doch ein unerhörtes Privileg, einfach so jeden Text lesen zu können, wie unmenschlich müsse da jemand sein, der auf weniger Privilegierte keine Rücksicht nähme?

Ich habe allen Ernstes vor einigen Jahren Diskussionen geführt, ob es nicht angemessen sei, wenn ich von einer Party verschwände, weil sich jemand durch mein unbedrucktes, weißes T-Shirt getriggert fühlen könnte.

Nein, ist es nicht. Wenn ich die Spirituosensammlung der Gastgeberin leertrinke, im Vollrausch die Toilette verunstalte und schließlich in einer spontan anberaumten schwarzen Messe die Nachbarskatze über dem Gasgrill röste, dann ist es Zeit zu gehen. Ich verrate Ihnen jetzt ein großes Geheimnis: Immer gibt es irgendwo irgendeine, die irgendwas irgendwie nicht gut findet. Doch so bitter es sein mag: KOMMT VERDAMMTNOCHEINS KLAR DAMIT.

Wie stellt ihr euch das vor? Dass ich mit Harry Potters Tarnumhang herumrenne, nur weil vielleicht jemand an meinem Äußeren Anstoß nehmen könnte? KOMM KLAR DAMIT. Soll ich bei einer Unterhaltung vor jeder meiner Entgegnungen schriftlich eine Stichwortkarte mit den beabsichtigten Themen anfertigen und mir von allen an der Unterhaltung Beteiligten im Voraus bestätigen lassen, dass sie von der Themenwahl nicht verstört werden? KOMMT KLAR DAMIT. Natürlich bedauere ich dich, wenn meine Geschichte über den Dackel, den ich letztens auf der Straße sah, bei dir ein Kindheitstrauma wachrüttelt, wie du als Vierjährige von einem Hund gebissen wurdest, aber mit Verlaub: Für genau das gibt es hervorragende Therapeutinnen, und die Krankenkasse bezahlt das sogar. Wenn ich weiß, dass Hunde für dich ein heikles Thema sind, werde ich versuchen, darauf Rücksicht zu nehmen, aber auf der anderen Seite erwarte ich, dass du versuchst, mit deinen Problemen umzugehen. "Ich brauche nicht an mir zu arbeiten, sondern muss nur auf eure Privilegien verweisen", ist die mit Abstand lausigste Ausrede, die mir einfällt.

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