Sonntag, 2. Juni 2019

Beyond the point of no return

Die Königin des G(en)ossen-Dadaismus wirft hin. Nicht, dass ich jemals sonderliche Sympathien für Andrea Nahles gehegt hätte oder ihren Abgang auch nur ansatzweise bedauerte, aber ein kleines bisschen geht es mir doch nahe, dieser einst so mächtigen Partei bei der Implosion zuzusehen.

Vielleicht wird es dieser Moment sein, den wir einmal rückblickend als den identifizieren werden, der den Übergang ins 21. Jahrhundert abschloss, der Moment, in dem wir Abschied von den Volksparteien nahmen, den Parteien, die ein derart weites Meinungsspektrum abdeckten, dass zwischen 70 und 80 Prozent der Wählerinnen sich dort wiederfanden. Diese Zeit, behaupte ich, ist zumindest für einige Jahre vorbei, und selbst wenn wir doch einmal wieder erleben, wie sich große Sammlungsbewegungen formieren, werden sie nicht mehr SPD und CDU heißen, sondern vielleicht (!) Grüne und AfD.



Die CDU mag eventuell noch den Hauch einer Chance haben, sich zu halten, aber für die SPD, behaupte ich, ist es zu spät. Sie könnte heute jeder Hartz-IV-Empfängerin eine Villa am Starnberger See in Aussicht stellen und einen Mindestlohn von einem Zentner Gold pro Stunde fordern, ohne dass sich an den Wahlergebnissen etwas änderte. Die SPD hat die Kraft verloren, ihre Errungenschaften als ihren Verdienst zu vermitteln. Sie hat zu oft zu wuchtig eine Haltung vertreten, nur um im entscheidenden Moment einzuknicken und das auch noch als großen Sieg zu verkaufen. Immer wieder redeten ihre Vertreterinnen so, als säßen sie seit Jahrzehnten in der Opposition und nicht als Juniorpartner auf Regierungssesseln. Sätze der Art "ja, wenn wir erst einmal an der Regierung wären, dann", ziehen nun einmal den unangenehmen Hinweis nach sich, laut Wikipedia sei genau dies der Fall, ob denn niemand im Willy-Brandt-Haus Nachrichten läse.

Das Erheben des Wählerverschaukelns zum Leistungsmerkmal ist es, was der SPD das Genick gebrochen hat. Der FDP trauten wir über Jahrzehnte zu, selbst als Kleinpartei den größeren Regierungspartner vor sich her treiben zu können. Der genauere Ausdruck ist "Klientelpolitik", aber dafür wurde diese Partei auch gewählt. Apotheker, Anwälte, Hoteliers - sie wussten, dass die FDP keine Scham kennt, um ihre Interessen durchzusetzen. Die SPD hingegen wähnt sich immer noch in der Rolle der großen, die Massen vereinenden Übermutter. Das ist allein schon aus numerischen Gründen Unsinn. Sie kann gar nicht mehr das frühere Spektrum abdecken, dafür hat sie zu wenig Anhänger. Sie könnte wie die FDP beschließen, unverholene Lobbypolitik zu betreiben, aber dazu fehlt ihr zweierlei: die Idee, wen genau sie noch vertreten möchte und die Kraft, ihre Wählerinnen zu davon zu überzeugen, diesen Forderungskatalog auch konsequent durchzusetzen. Die SPD befindet sich in einer Abwärtsspirale: Immer weniger Menschen wählen sie, weil ihr niemand mehr etwas zutraut, da sie ja ohnehin keiner mehr wählt.

Die Entscheidung, mit Andrea Nahles ausgerechnet eine Person an die Spitze zu setzen, welche die Misere der Partei mit zu verantworten hat, war deswegen auch nur eingeschränkt schlau. Sie hätte vielleicht funktioniert, wenn Nahles wenigstens den Rest der Partei umgekrempelt hätte. Statt dessen handelte sie sich mit Kevin Kühnert (natürlich von ihr ungewollt) jemanden ein, der zwar noch weit von höheren Parteiämtern entfernt ist, aber mit praktisch jedem Interview zeigt, was für ein cooler Laden die SPD sein könnte, wenn sie den Mut dazu hätte.

Statt dessen beschwört die SPD Nibelungentreue. Na gut, sie nennt es "Solidarität". Ist das diese Solidarität, mit der sie damals Rudolf Scharping abgesägt hat oder Martin Schulz oder Franz Müntefering oder Heide Simonis oder Andrea Ypsilanti? Ach, die haben es selbst vermasselt? Keine weiteren Fragen.

Allein schon, dass Wolfgang Thierse neben dem Solidaritäts-Holzhammer nichts weiter einfällt als sinngemäß: "Das ist doch eine Frau, die kann man doch nicht so einfach stürzen", offenbart die ganze Kläglichkeit der Partei. Sexismus ist es nämlich auch, wenn das Argument lautet: unfähig wie ein Beutel Kartoffelschalen, aber Frau, also wählen, damit wir was zum Vorzeigen haben.

Optionen hat die SPD im Moment kaum noch. Sie könnte irgendeinen ihrer alten Säcke herauskramen, irgendwen der Riege Basta-Schröder. Der oder die bekäme vielleicht wieder Ordnung in die Partei, aber an der lähmenden Außenwirkung ändert das nichts. Eine Chance hätte die SPD vielleicht, wenn sie va banque spielt und irgendeine Unbekannte hervorzaubert. Am Ehesten fiele mir noch Kevin Kühnert ein, aber ob er schon so weit ist geschweige denn sein will, sich auf ein solches Himmelfahrtskommando einzulassen, bezweifle ich. Abgesehen davon reicht es nicht, wieder einmal nur ein paar Führungspersonen auszutauschen und zu glauben, damit vollzöge sich in der restlichen Partei ein magischer Wandel vom bräsigen Spießerstammtisch, der von vergangenem Ruhm und dem Tag träumt, an dem er ganz von allein wieder ins Kanzleramt gewählt wird, hin zur angesagten Hipsterkneipe, die vielleicht nicht die Massen anzieht, aber mit einem frischen Konzept für stetigen Zulauf sorgt. Sicher ist: Wenn der SPD nicht sehr bald, genauer: vor der nächsten Bundestagswahl der Befreiungsschlag gelingt, ist das nächste Ziel die Fünf-Prozent-Hürde.

Und niemand wird ihr nachtrauern.


2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

"[...]Und niemand wird ihr nachtrauern."
Schon jetzt und schon seit langem trauere ich der SPD der 70er Jahre nach.

Publikumsbeschimpfung hat gesagt…

Chapeau, schönes Statement. Danke.