Es mag Zeiten gegeben haben, da ein bisschen Provinzialität einem Bundespräsidenten gut zu Gesicht stand. Der Deutsche mag es gern bodenständig, weswegen er sich beispielsweise mit Scheel einen singenden und mit Carstens einen wandernden Präsidenten gönnte. Dennoch hat alles seine Grenzen. Wenn ein Präsident mit der Schmierigkeit eines Horst Schlemmer laviert und taktiert als wäre er immer noch Provinzfürst irgendeines 500-Seelen-Nests zwischen Kalibergen und Rübenackern, dann ist das einfach nicht mehr die angemessene Strategie für ein Staatsoberhaupt. Na gut, Berlusconi vielleicht.
Es war schon eine bizarre Zeit, in der die nicht gerade als Flaggschiff des Qualitätsjournalismus bekannte "Bild" auf einmal investigativ tätig wurde und der "Spiegel", der einst dieses Prädikat für sich beanspruchen konnte, Mühe hatte, mit Meldungen über falsch abgeheftete Kassenzettel dagegen anzustinken. Für beide Blätter ging es um die Ehre - beide hatten im Dezember Wulff als praktisch schon zurückgetreten gemeldet und wollten nicht zugeben müssen, da falsch gelegen zu haben.
Entsprechend groß war die Erleichterung, als er dann endlich ging. Über Wochen hinweg war es nicht möglich, irgendeine Zeitung aufzuschlagen, ohne die sich ständig wiederholenden Meldungen über die kleinen Gaunereien der Hannoveraner Lachnummer lesen zu müssen. Die rutschten zwar immer weiter nach hinten - zu alltäglich wurden sie - aber bis zu einer eigenen Rubrik neben Wetter und Lottozahlen schafften sie es auch nicht.
Jetzt aber. Kermit ist weg, der Weg ist frei für einen echten Bundespräsidenten. Wen hatten wir denn damals, als Merkel aus reinem Machtkalkül ihre Handpuppe durchdrückte? Genau, Gauck, das ist doch ein ganz Feiner. Die SPD liebte ihn, die Grünen liebten ihn, die FDP - naja fand ihn auch nicht schlecht, die CDU liebte ihn heimlich und stotterte sich was zurecht, warum sie doch lieber den Niedersachsen wollte, nur die Linkspartei konnte Gauck so gar nicht leiden, weil er ständig irgendwelche Stasi-Akten über ihre Mitglieder herauskramte. Also, wenn der Gauck jetzt noch einmal anträte, das wär's - allein schon, um der Kanzlerin zu zeigen, dass sie damals falsch lag.
Natürlich war Merkel anfangs alles Andere als begeistert von der Vorstellung, ihren Fehler eingestehen zu müssen, auf der anderen Seite: Was schadet es? Im Gegenteil, der Letzte, der bis zum Schluss nicht einsah, wie epochal er es vermasselt hatte, war gerade eben zurückgetreten. Also gut, wenn allen so viel daran liegt, soll es eben Gauck sein.
Doch statt dass bundesweit Jubel ausbricht, dass endlich der seit 19 Monaten herbeigesehnte Messias auf Erden wandelt, verlegen sich die Deutschen auf das Einzige, was sie wirklich können: Jammern. Zu alt, zu reaktionär, er fände Hartz IV gut und Occupy schlecht, Vorratsdatenspeicherung wolle er haben, und den Sarrazin hätte er auch gelobt. Leute, dass Gauck ein verbiesteter Jäger und nicht die Spur auf Ausgleich bedacht ist, wenn es um das Verfolgen seiner Ziele geht, weiß jeder, der sich an die Art erinnern kann, wie er die Stasi-Unterlagen-Behörde geführt hat. Genau genommen war es das, was ihn für diese Aufgabe qualifizierte.
Es ist nicht etwa so, als sei Gauck in den letzten eineinhalb Jahren durchgedreht und habe sich vom Paulus zum Saulus gewandelt. Eher scheint es mir so, als hätten bei der letzten Bundespräsidentenwahl einige, die heute Gauck ganz furchtbar finden, damals nicht so genau hingesehen und ihn deswegen über den grünen Klee gelobt, weil er der Gegenkanditat zu Merkels Strohmann war. Entsprechend wühlten sie eifrig herum, bis sie beim Mann ohne Eigenschaften irgendetwas fanden, was sie benutzten, um Wulff zum christlichen Taliban zu stilisieren. Wie wir inzwischen wissen, blieb der Präsident farblos und brachte eigentlich nur einen bemerkenswerten Satz: Der Islam ist ein Teil von Deutschland. Das klingt mir jetzt nicht allzu evangelikal.
Jetzt ist Gauck also Merkels Kandidat, und weil alles, was von dieser Frau kommt, prinzipiell nichts taugen kann, sucht man nach Belegen. Soll ich Ihnen was sagen? Mir ist fast egal, wer unter mir Präsident ist, so lange er sich nicht komplett peinlich aufführt. Das Spiel mit den aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten beherrsche ich auch, ich kann es für oder gegen jeden beliebigen Kandidaten spielen, aber für etwas so Unwichtiges wie einen Bundespräsidenten werfe ich Google nicht an.
Erinnern wir uns, worum es geht: um das protokollarisch, nicht etwa das tatsächlich höchste Amt in diesem Staat. Worin besteht die Aufgabe des Präsidenten? Darin, sich in Bad Segeberg Federschmuck aufsetzen zu lassen, in Hürth-Kalscheuren die akustische Zumutung des Blockflötenchors der Astrid-Lindgren-Grundschule lächelnd zu ertragen und sich von Staatsbesuchern geschmacklose Mitbringsel aus der Heimat übergeben und sich nicht dabei erwischen zu lassen, wie man einen Tag danach versucht, den Dreck auf Ebay wieder loszuwerden. Für die 190.000 € jährlichen Ehrensold, die man im Anschluss erhält, dürfte ein nicht geringer Anteil für den Therapeuten draufgehen.
Wenn man sich gerade nicht mit Flötenchören oder grell bemalten Bambusvasen herumärgert, vertreibt man sich die Zeit damit, ein paar Gesetze zu unterschreiben, Bundeskanzler zu ernennen, sie wieder zu entlassen und gelegentlich den Bundestag aufzulösen. Dazwischen hält man ein paar Reden, die vor allem eins nicht dürfen: etwas aussagen. "Draußen im Land stehen die Menschen, und sie stellen sich Fragen, Fragen, wie es weitergeht. Ich stelle mir diese Fragen auch, und ich rufe Ihnen zu: Fragen Sie weiter." Guck mal, das kann ich auch. In der Summe keine leichte, aber eine schaffbare Aufgabe. Warum veranstalten wir darum so ein Gewese?
Weil wir die Rolle des Bundespräsidenten 60 Jahre nach Staatsgründung immer noch nicht begriffen haben. Der Präsident ist die billige Alternative zur Queen, pompös aber kaum Befugnisse. Außerdem wird man ihn leichter wieder los, spätestens nach 10 Jahren kommt es zum Personalwechsel.
Grund für diese Differenz zwischen protokollarischen Würden und realen Befugnissen sind die Erfahrungen aus der Weimarer Republik, in der es dem Präsidenten möglich war, notfalls ganz ohne Parlament zu regieren - mit den bekannten Ergebnissen. Dass jemals wieder eine Volksvertretung ausgehebelt werden kann, wollte man in der Bundesrepublik unter allen Umständen vermeiden und legte deswegen fest, dass künftig Bundestag und -regierung immer das Sagen haben. Abgesehen von ein paar repräsentativen Aufgaben und einigen Formalakten blieb vom Amt des Präsidenten praktisch nichts, und um klar zu stellen, wie wenig nichts blieb, beschnitt man sogar noch die demokratische Legitimation. Statt wie früher direkt vom Volk wird der Bundespräsident jetzt von der Bundesversammlung gewählt, einem wilden Gemenge aus Bundestag (direkt gewählt), Bundesrat (bestenfalls indirekt gewählt) und einem Haufen Staatsbürger ohne Mandat, die sich die Parteien mehr oder weniger auswürfeln. Mitglied der Bundesversammlung kann also jeder werden, der nicht amtlich entmündigt wurde. Demokratische Legitimation sieht anders aus.
Falls nach alldem noch ein Hauch von Würde verblieben sein sollte, ist er spätestens mit der Kandidatensuche dahin. Ein protestantischer Franke? Nein, da ziehen die Weißwurstköppe der CSU nicht mit. Ein Sozialdemokrat? Sind die gerade an der Regierung? Nein? Also, was soll der Blödsinn? Den von der CDU, den die SPD vorgeschlagen hat? Auf gar keinen Fall, das könnte man als Signal für eine Große Koalition verstehen. Den Kandidaten der FDP? Um Himmels Willen, das hieße, dass die Kanzlerin Schwäche zeigt. Die Linkspartei kann vorschlagen, wen sie will, der wird's ohnehin nicht, und die Grünen stellen nur deswegen einen eigenen Kandidaten auf, weil die SPD sie vorher nicht gefragt hat. Eine Frau? Klasse Idee, wir schlagen eine vor, irgendeine. Die wird sowieso nicht gewählt, aber damit zeigen wir der Mehrheit, wie sexistisch sie ist.
Die Liste an idiotischen, kleinkarierten Borniertheiten ließe sich beliebig verlängern. Am Ende einigt man sich nicht etwa auf den am besten geeigneten Kandidaten, sondern auf irgendeine Verlegenheitslösung, mit der irgendeine Partei ihre Macht demonstriert und intern niemanden vor den Kopf stößt. So viel zum Thema Würde.
Zur Zeit findet eine Diskussion statt, was genau Gauck wann gesagt hat, in welchem Zusammenhang er es gesagt hat und wie man es interpretieren könnte. Noch einmal: Der Bundespräsident ist nicht Bundeskanzler. Das hatte schon Köhler nicht begriffen, als er anlässlich seiner Nominierung schwadronierte, was er während seiner Regentschaft alles erreichen wolle. Ein Blick ins Grundgesetz hätte genügt, um zu wissen: falsches Amt.
Selbst, wenn er alles, was er gesagt haben soll, so gemeint haben sollte - Gauck wird nicht morgen die Vorratsdatenspeicherung ein-, alle Ausländer ausführen und dafür sorgen, dass der Hartz-IV-Satz auf die Hälfte gestrichen wird. Er wird massenkompatibel reden, Allgemeinplätze vertreten, in denen sich jeder wiederfindet. Wie alle seine Amtsvorgänger nicht zu betonen müde wurden: Der Präsident ist für das ganze Volk da und nicht nur für die Regierung. Da kommt vielleicht mal zwischendurch was Markiges wie von Weizsäckers Rede zum 8. Mai oder Herzogs Ruck-Rede, aber solche Spitzen kann man sich nur ganz selten leisten. Die meiste Zeit über spricht man halt vor dem pfälzischen Weinbauernverband darüber, wie wichtig das Kaninchenzüchterwesen für die Jugend unserer Bildung ist. Oder so.
"Ja, aber der Präsident kann doch so wichtige Dinge wie zum Beispiel die Unterschrift unter Gesetze verweigern, da ist es doch von Bedeutung, wer da sitzt." Ich will niemandem zu nahe treten, aber wer hat sich Artikel 82(1) GG durchgelesen, bevor er forderte, der Präsident solle sein Recht wahrnehmen und ein Gesetz nicht unterzeichnen? Was steht denn da? "Die nach den Vorschriften dieses Grundgeseetzes zustandegekommenen Gesetze werden vom Bundespräsidenten nach Gegenzeichnung ausgefertigt [...]" Wann also kann der Präsident sich quer legen? Nur dann, wenn er begründete Zweifel am verfassungsgemäßen Zustandekommen hat, nicht wenn er der Meinung ist, dass ein Gesetz "also irgendwie undufte ist, du, ne." Als im Jahr 2009 das halbe Netz Köhler bekniet hat, er solle das Internetzensurgesetz nicht unterschreiben und dann so furchtbar enttäuscht war, als er es dann nach Klärung einiger Fragen schließlich doch tat, zeigte sich ein äußerst merkwürdiges Demokratieverständnis. Da beschließt der vom Volk direkt gewählte Bundestag mit seiner Mehrheit ein Gesetz, und dann soll irgendsoein fast ausgeloster Ausstellungseröffner und Fährentäufer gegen den Willen der parlamentarischen Mehrheit dieses Gesetz kippen? Warum? Weil ein paar Blogger das so wollen?
Damit wir uns richtig verstehen: Das Internetzensurgesetz war ganz großer Mist, handwerklich stümperhaft, verfassungsrechtlich bedenklich und ist völlig zu Recht wieder gekippt worden, aber es war zumindest nicht so offensichtlich verfassungswidrig, dass der Präsident es hätte verhindern können. Es wurde gekippt, weil sich nach der Wahl die Mehrheitsverhältnisse geändert haben, es hätte möglicherweise durch eine Verfassungsklage gekippt werden können, aber der Präsident ersetzt weder den Bundestag noch das Bundesverfassungsgericht. Im Zweifelsfall lässt er auch lieber ein Gesetz passieren - wiederum zu recht. Stellen Sie sich vor, der Präsident verhindere irrtümlich ein Gesetz, das in Wirklichkeit verfassungsgemäß ist. Dann hätten wir wirklich wieder Weimar.
Insgesamt frage ich mich, wozu man den Bundespräsidenten überhaupt braucht. Die wenigen ihm noch verbliebenen Funktionen im Verfassungsgefüge müssten sich doch auch noch verteilen lassen, und wenn jemand die Machtkonzentration fürchtet, verteilt man sie eben auf verschiedene Köpfe. Die protokollarische Nummer 1 ist auf internationaler Ebene auch nicht mehr viel wert. Wenn der Kanzler oder der Außenminister irgendwo auftauchen, dann weiß man: Da kommt einer aus dem innersten Zirkel der Macht, der kann aus dem Nähkästchen plaudern und auch mal eigenständig entscheiden. Den Präsidenten schicken die Deutschen doch eh nur los, wenn nur noch formal die Unterschrift unter einen Vertrag gesetzt werden muss. Das kann zur Not bestimmt auch jemand anderes erledigen.
Ja, ich weiß, ich stelle die Sache gerade vereinfacht dar, aber meine ernst gemeinte Frage lautet: Wenn wir den Präsidenten derart würdelos auskungeln, wenn er mit derart lächerlicher demokratischer Legitimation und so wenig realer Macht versehen ist, warum investiert man nicht etwas Hirnschmalz, um diesem Amt den endgültigen Todesstoß zu versetzen und es abszuschaffen? Geriete die Machtbalance wirklich aus dem Gleichgewicht?
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