Sonntag, 8. Januar 2012
Chaotisches Familientreffen zum Jahresende
"Der Congress ist sowas wie der Kirchentag für Discordianer", lautete ein Kommentar auf Twitter. Schön, wie man sich mit einem Satz gleichzeitig den Hass von Christen und Nerds zuziehen kann.
Das mag beiden Gruppen nicht gefallen, aber der Vergleich stimmt. Zwar zieht das mehrtägige Treffen zum Jahresende in Berlin nicht hundert-, sondern nur viertausend Besucher an, aber auf beiden Veranstaltungen stellt sich sofort das Gefühl ein, trotz aller zum Teil heftig ausgetragenen Gegensätze zusammenzugehören. Genau so, wie über christliche Witze außerhalb der Männerkrabbelgruppe kein Mensch lachen kann, mutet die für Nerds ausgesprochen lustige Toilettenbeschallung mit einem Rick-Astley-Titel aus den Abgründen der Achtziger für Außenstehende gelinde gesagt bizarr an.
Anspielungen und Humor prägen nicht nur die Musik auf den Toiletten, die übrigens auch die Katze in der Fensterbank, Trololo und Nyan Cat, bedauerlicherweise aber nicht "Jede Zelle meines Körpers ist glücklich" spielte. Natürlich lautete die Servicenummer der internen Telefonanlage 01189998819991197253, und wer mit Rosi telefonieren wollte, konnte selbstverständlich auch das.
Ein Kunststück, das dem Congress jedes Jahr aufs Neue gelingt, besteht darin, sich selbst ein Motto zu geben, unter dem sich auf einmal die ganze Veranstaltung magisch zusammenfügt. Diesmal lautete es "Behind Enemy Lines", und gerade in Verbindung mit dem letzten Motto "We Come in Peace" wird daraus eine bemerkenswerte Aussage. Sah man sich im Jahr 2010 noch im hoffnungsvollen Erstkontakt mit der Nicht-Nerd-Welt, hat sich inzwischen offenbar der Umgang gewandelt. Es geht um Macht, darum, die eigene Kultur vor staatlichen Übergriffen zu schützen und im Gegenzug in der Nicht-Nerd-Welt Einfluss zu gewinnen. Das Operieren hinter den feindlichen Linien bedeutet aus militärischer Sicht zweierlei: Einerseits können die eigenen Leute überrollt oder über Feindesgebiet abgeschossen worden sein, so dass sie unsere Hilfe benötigen, andererseits sind solche Situationen auf für den Feind gefährlich, weil er sich gegen Angriffe aus dieser Richtung nur schwer schützen kann. Der rote Faden, der sich also auf dem 28c3 durch die Veranstaltungen zog, waren die Fragen: Wir haben Hacker, die sich freiwillig oder unfreiwillig in eine Welt vorgewagt haben, die sie mit Befremden, Vorurteilen und insgesamt mit Bedingungen umgibt, in denen sie sich unwohl fühlen. Was können diese Leute erzählen? Wie kommen sie zurecht, welche Lücken haben sie aufgespürt, welche Aktionen durchgeführt? Ein mustergültiger Vortrag kam in diesem Zusammenhang von Aktivisten der Hedonistischen Internationalen, die anhand mehrerer Beispiele zeigten, wie sich politische Systeme hacken lassen. So gelang es unter anderem, eine Pro-Guttenberg-Demonstration in Berlin mit einer satirischen Gegenveranstaltung zu übernehmen. Das Ergebnis waren grandiose Bilder in den Nachrichten, angesichts derer sich selbst der größte Guttenberg-Fan fragen musste, ob er nicht vielleicht doch einer komplett blödsinnigen Idee nachrennt. A propos Guttenberg: Eine gewohnt entblößende Analyse der feindlichen Taktik lieferte Maha in seinem Vortrag über die Wortwahl des Nicht-mehr-Doktors-und-nicht-mehr-Ministers, als dieser. Noch glaubte. Sich. Mit gewundenen Formulierungen. Aus der Affäre. Ziehen zu können. Mir kam es damals schon seltsam vor, wie merkwürdig distanziert der Freiherr vom Sahnehäubchen seiner akademischen Karriere sprach. Maha lieferte die wissenschaftlichen Belege, die weitere Zweifel sähen, ob Deutschlands schönster Politiker auch nur eine Zeile dieses Machwerks verfasst hat.
Die schlimmste Bedrohung des Congress ist seine Beliebtheit, die ihn seit Jahrzehten immer weiter wachsen und jede seiner Behausungen irgendwann einmal zu klein sein lässt. Inzwischen hat er etwa 4.500 Besucherinnen und könnte ohne Schwierigkeiten doppelt so viele bekommen, wenn er für sie Platz hätte. Glücklicherweise muss man inzwischen nicht mehr auf Verdacht nach Berlin reisen und hoffen, dass man an der Kasse noch ein Ticket bekommt, sondern hat die Chance, im Internet die in zwei Schüben angebotenen Karten zu bekommen. Leider stößt auch dieses System schon jetzt an seine Grenzen, weil findige Köpfe Skripte geschrieben haben, die für sie die Bestellungen erledigen. Als Ergebnis sind die Tickets eine Viertelstunde nach Freigabe ausverkauft. Nun könnte man sagen, dass Leute, die fähig genug sind, diese Skripte zu schreiben, es auch verdient haben, auf den Congress zu gehen, auf der anderen Seite führt uns das zur Frage: Was will der Congress sein?
Auf der einen Seite ist es natürlich eine technische Veranstaltung, aber wer Hacking als rein technischen Prozess missversteht, blendet den wichtigsten Aspekt des Begriffs aus. Hacken ist in erster Linie eine Lebenseinstellung, die sich häufig in originellem Code, Modellbau, Robotertechnik und elegantem Umgehen von Sicherheitssystemen ausdrückt, aber ein genialer Hack ist es eben auch, am Abend der Berliner Abgeordnetenhauswahl zur FDP zu gehen, vor laufender Kamera bei Verkündigung des desaströsen Wahlergebnisses in begeisterten Jubel auszubrechen und den Reportern ins Mikrofon zu erklären, dieser großartige Erfolg sei der konsequenten und geradlinigen liberalen Politik zu verdanken. In meinen Augen gehören diese Leute mit dem gleichen Recht auf den Congress wie solche, die Verschlüsselungsroutinen von Mobiltelefonen aushebeln können.
Natürlich hängt die Frage, wer eine der begehrten Karten bekommt, nicht nur von den Scriptingfähigkeiten ab. Einige Tickets gehen an verdiente Helferinnen des Vorjahrs, und natürlich gibt es auch einige Leute, die auf den Congress einfach aus dem Grund gelassen werden, weil sie dort hingehören. Ein Tim Pritlove muss ganz bestimmt nicht in Sorge sein, aufs Gelände zu kommen. Er zahlt zwar den normalen Eintritt, aber an der Klickorgie im Vorfeld wird er sich nicht beteiligen müssen.
Der Congress wählt sich also seine Gäste aus, was ihm zumindest in Teilen den Charakter eines Familientreffens verleiht. Auf der einen Seite mag dies willkürlich erscheinen, vor allem für die Abgewiesenen, auf der anderen Seite liegt darin auch viel Charme. Einige Referenten und Veranstaltungen haben ihren festen Platz im Programm. Ohne Martin Haases Sezierungen politischer Phrasen, ohne das Hacker-Jeopardy und dessen ständig ausfallender Technik, ohne den Fnord-Jahresrückblick und die Security-Nightmares wäre der Congress nur eine Fachmesse unter vielen. Ähnlich ist es mit den Besuchern. Natürlich kennt man nicht jedes der über 4000 Gesichter, aber man kann nicht quer durch das Gebäude gehen, ohne ständig über Bekannte zu stolpern.
Die Aufgabe, den Congress auf die doppelte Teilnehmerzahl zu erweitern, wirft mehrere Schwierigkeiten auf. Erstens: Behält der Congress seine familiäre Atmosphäre, wenn er langsam auf die Zehntausender-Marke zusteuert? Zweitens: Wo und wann soll man so eine Veranstaltung stattfinden lassen? Das bcc bietet viele Vorteile und ist inzwischen so gut auf den Congress angepasst, dass Auf- und Abbau perfekt durchorganisiert sind und entsprechend schnell ablaufen. Leider wird es schon bei der jetzigen Veranstaltungsgröße mitunter arg eng, so dass man allenfalls überlegen könnte, den Congress an zwei Orten gleichzeitig stattfinden zu lassen. Gerade aber bei den vorhin genannten Traditionsvorträgen kann man davon ausgehen, dass der weit überwiegende Teil der Besucherinnen daran teilnehmen möchte, und dann ist es egal, welcher der zwei Austragungsorte hoffnungslos überfüllt sein wird. Alternativ könnte man das Sommercamp jährlich stattfinden lassen, was zumindest für lange Zeit sämtliche Platzfragen lösen dürfte. Auf der anderen Seite ist der Aufwand, eine Wiese für einige Tage in ein Rechenzentrum zu verwandeln, immens und übersteigt weit den des Congress. Darüber hinaus prägt gerade die seltsam im Leeren hängende Woche zwischen Weihnachten und dem Jahreswechsel die Stimmung des Congress. Es finden Jahresrückblicke statt. Selbst im turbulenten Berlin geht alles ein wenig gemächlicher. All dies wäre anders, verlegte man den Congress in den Sommer und auf einen ehemaligen Flugplatz.
Die Organisatoren sind nicht zu beneiden. Man kann nüchtern betrachtet nicht beim Alten bleiben, aber die sich bietenden Optionen bedeuten auf jeden Fall, dass sich der Congress auf markante Weise wird ändern müssen. Welche Entscheidung man auch trifft, sie wird Schmerzen bedeuten.
Ein klassisches "What the - ?" hatte der Congress diesmal auch zu bieten. Es deutete sich an, als eines Morgens im Saal 1 vor dem eigentlichen Referenten eine Frau ans Pult trat und verkündete, Rassismus und Sexismus hätten im CCC keinen Platz. Äh, ja, natürlich. Worüber unterhalten wir uns als Nächstes? Dass im Meer kein Platz für Trockenheit ist? Doch damit ist es natürlich nicht genug. Wenige Tage später steht im Eventblog eine ganz ähnliche Meldung, und wieder fragt man sich: What the - ? Der Hintergrund ist schnell erzählt: In einem Vortrag hatte der Referent Julian Assange als künftige Sicherheitsmaßnahme geraten, nicht mit schwedischen Frauen zu schlafen. Man kann sich das Video ansehen, es wird in meinen Augen völlig klar: Das war ein Witz, haha. Witze sind selten politisch korrekt. Das Spiel mit dem Tabu gehört dazu. Ich habe auf dem Congress schon viel schlimmere Dinge von mir gegeben, und keiner hat mich dafür kritisiert. Im Gegenteil, es gab sogar Applaus. Warum? Weil ich nicht über Frauen herzog, sondern über Religionen. Aha, das geht also.
Natürlich war der Schwedinnenwitz nicht das Einzige, worüber sich die selbsternannten Moralhüter in Rage redeten. Nein, ein Thor-Steinar-Hemd wurde auf dem Congress gesichtet. Nazis beim CCC!
Ist das so? Hat sich irgendwer vielleicht bemüht, mit dem Besitzer des Hemds zu sprechen? Meines Wissens sind es nämlich nicht Hemden, die Menschen ermorden, sondern allenfalls deren Träger. Das berühmte Out-of-the-Box-Denken, das die Hacker voller Stolz für sich reklamieren, hat in diesem Fall allerdings nicht funktioniert, denn beklagt wurde lediglich das Hemd, nicht etwa Äußerungen oder andere Taten. Was komplett übersehen wurde, ist ein Phänomen, das gerade in Hackerkreisen sehr beliebt ist: das Trollen, also die bewusste Provokation, die weniger den Provokateur als diejenigen bloßstellt, die darauf eingehen. Wer weiß, vielleicht wollte der Hemdenträger genau diesen Eklat hervorrufen? Aber nein, das herauszufinden lag unter der Würde der Polittaliban. Hauptsache, das Feindbild stimmt.
Verstehen Sie mich nicht falsch, wer will, mag sich gern die Frage stellen, ob Frauen im CCC diskriminiert werden, ob das alles andere als günstige Verpflegungsunternehmen vielleicht auch vegane Kost hätte anbieten sollen, ob der CCC sich auch klar genug gegen menschenfeindliche Ideologien positioniert. Ich meine jedoch: In Nerdkreisen geht es rauh zu. Es ist Teil dieser Kultur. Wer das ablehnt, sollte sich fragen, ob er in einer Nerdvereinigung richtig aufgehoben ist. Ich beschwere mich ja auch nicht, wenn ich im Ruderverein ab und zu mal nass werde. Es gibt zugegebenermaßen Hacker, die sich Frauen gegenüber befremdlich verhalten, aber soll man sie etwa deswegen aus dem Club ausschließen? Leute, der CCC ist ein Hackerclub, keine Friedensgruppe des evangelischen Gemeindezentrums.
Vielleicht steckt auch nur die Hedonistische Internationale hinter der ganzen Aufregung.
Doch weiter mit positiven Dingen. Ich hatte bei diesem Congress zufällig die Gelegenheit, das Engelsystem etwas genauer kennenzulernen. "Engel" ist der Begriff, mit dem die knapp 350 Freiwilligen bezeichnet werden, die den ganzen Congress über aufräumten, die Veranstaltungen aufzeichneten, die Technik betreuten und an der Kasse standen. Besonders merkwürdig mag erscheinen, dass sie dafür nicht einmal vergünstigten Eintritt bekamen, sondern vielleicht ein T-Shirt und ganz vielleicht ein Vorkaufsrecht auf die Karten zum nächsten Congress. Warum sollte jemand so dumm sein, da mitzuhelfen?
Weil dadurch der Congress erst wirklich gut wird. Man wandelt sich vom Teilnehmer zum Mitwirkenden. Es ist zwar nicht viel, was man beisteuert, aber man merkt schnell: Helfer werden gebraucht, und selbst wenn ich nur dumm herumstehe und gucke, dass die Leute ihr Eintrittsbändchen am Arm haben, ist es genau das, was die Veranstaltung am Leben hält. Frank Rieger hat es in seinem Abschlussvortrag schon angedeutet: Die Zahl der Engel steigt nicht im gleichen Maß wie die der Teilnehmer, was dazu führt, dass trotz der zunehmenden Arbeit im Verhältnis weniger Leute da sind, die sie erledigen. Ich rege mich zwar auch über die happigen Eintrittspreise auf, aber wenn ich mir ansehe, was andere Veranstaltungen dieser Qualität kosten, bin ich froh über die Schar Freiwilliger, denen wir es wahrscheinlich zu verdanken haben, dass die Ticketpreise noch zweistellig sind.
Der Congress war - wieder einmal - ein Jahreshöhepunkt, eine willkommene Erinnerung daran, dass es zwischen Harmoniemief zur Wintersonnenwende und Besäufnis zum Jahresende noch eine Welt mit vernünftigen Menschen gibt, Leute, die eine Bemerkung begreifen, wenn man sie noch nicht einmal halbwegs zuende geführt hat, Leute, die unter einer guten Party viel Mate und aufgeklappte Notebooks verstehen, Leute, die das Gedankenexperiment schätzen, die Fakten auch dann zur Kenntnis nehmen, wenn sie ihnen nicht ins Konzept passen, die Hierachien auf ihre Berechtigung hinterfragen, die größte Schwierigkeiten haben, einen anderen Stil als den ihren zu leben, nur weil gesellschaftliche Konverntionen es von ihnen verlangen. Ich danke den Menschen, die seit Jahrzehnten dafür sorgen, dass es diese Veranstaltung gibt sie am Leben halten.
Good luck behind enemy lines.
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2 Kommentare:
Interessanter bericht, wenn auch wieder nah am TLDNR ;-)
Aber sag mal, machst Du noch was anderes, als youtube-videos zu sammeln?
Alles gute,
rob
Moin Rob :) Freut mich, dass Du durchgehalten hast. Ich darf mich nicht wundern, dass die Zahl der Leser dieses Blogs ausgesprochen überschaubar ist. Beim Schreiben der Artikel halte ich es wie einige Podcaster: Der Platz ist da, und wenn man erst nach drei Stunden das Gefühl hat, alles sei gesagt worden, dann dauert es halt so lang. Das ist natürlich Mist für alle, die von einem Blog verlangen, dass da täglich ein pointierter Halbseiter steht. Auf diesem Weg ein herzliches Danke denen, die meine länglichen Eskapaden geduldig ertragen.
Das Sammeln der Videos hat übrigens fast so lang gedauert wie das Schreiben des Textes. Ich wollte probieren, ob es gelingt, mit der Auswahl der Links dem eigentlichen Text eine weitere Wendung zu geben. Wer jetzt neugierig geworden ist: Einige Links springen nicht sofort ins Auge.
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