Mit "absolutem Unverständnis" reagierte Dr. Sascha Raabe MdB auf die Gründung eines Kreisverbandes der Piratenpartei. Es folgt eine Presseerklärung, die aufs Bedauerlichste belegt, wie wenig der Herr Abgeordnete tatsächlich verstanden hat. Das Ganze gipfelt in der Behauptung, "die Piratenpartei fordert [dass] Jugendliche und Erwachsene ungehindert Zugang zu Kinderpornos im Internet haben können". Man merkt, es ist Wahlkampf, da darf's ruhig etwas derber zugehen. Schnöder weltlicher Tand wie beispielsweise die Wahrheit muss da auch mal zurückstecken können, und wenn es wirklich hart auf hart kommt, bewahrt die Immunität vor dem Schlimmsten. Den Beleg, wann und wo die Piratenpartei diesen Unfug gefordert haben soll, bleibt Raabe natürlich schuldig.
Dafür lässt sich aber umso leichter Herrn Raabe die Frage beantworten, warum die Piratenpartei im Moment zumindest im Internet so einen Zuspruch findet, dass ein immer größer werdender Teil der Netzgemeinde sich tatsächlich von ihr vertreten fühlt: Die Piraten haben begriffen, wie das Netz tickt.
Mit Absicht schreibe ich "tickt", nicht "funktioniert". Auf technischer Ebene zu begreifen, wie Datentransfer im Internet funktioniert, ist eine Sache, die Befindlichkeiten der Netzgemeinde zu verstehen und sie zu beantworten, die andere. Vielleicht sind die Piraten wirklich nicht mehr als eine Bande inhaltsleerer Populisten, aber sie haben es in den Wochen der Zensurdebatte meisterhaft verstanden, auf allen populären Plattformen des Netzes immer wieder die eine Botschaft zu verkünden: "Die Piraten sind gegen Zensur." Das zog so gut, dass in der Konsequenz die Partei selbst komplett umgekrempelt wurde. Die Leute, von denen die Kampagne ausging, bilden inzwischen wegen der zahlreichen Neueintritte die Minderheit, und wer annimmt, dass diese Minderheit in der Lage ist, eine Horde eigensinniger Geeks nach Belieben zu steuern, hat es noch nie mit echten Netizens zu tun gehabt.
Der unerwartete Zuwachs beginnt die Partei bereits umzuformen. So ist beispielsweise die früher immer wieder laut werdende Forderung nach faktischer Abschaffung des Urheberrechts inzwischen wesentlich differenzierter geworden. An der Idee, die bisherigen Vergütungsmodelle zugunsten eines Modells abzuschaffen, das der Realität im Netz Rechnung trägt, findet man zwar nach wie vor Gefallen, aber im Gegensatz zu früher sieht man jetzt auch die Schwierigkeiten und sucht nach praktikablen Lösungen. Das Cliché, die Piraten seien eine aus einem Raubkopiererportal hervorgegangene Spaßpartei, mag vielleicht einmal gestimmt haben, aber für die Piraten, mit denen ich in den letzten Wochen sprach, ist das Urheberrecht nur ein Thema von vielen. Sie sehen sich eher als Bürgerrechtler mit Schwerpunkt Informationstechnik. Sie wollen einfach nur, dass man das Grundgesetz einhält, statt ständig daran herumzuschrauben. Ihr Themenspektrum mag begrenzt sein, aber sie streben auch gar nicht an, die globale Erwärmung und das Rentensystem in den Griff zu bekommen. Sie sind lieber in wenigen Punkten gut als in vielen Punkten schlecht. Hier unterscheiden sie sich von den größeren Parteien, die sich der Illusion hingeben, für alle Themen einen Experten in den eigenen Reihen und damit auf alles eine Antwort zu haben. Was man von diesen Experten halten kann, haben wir in den letzten Jahren gesehen, in denen das Bundesverfassungsgericht reihenweise Gesetze als verfassungswidrig erkannte. Wo waren denn die ganzen Experten, als diese Gesetze formuliert wurden?
Eine Partei, die im Zwanzig-Prozent-Ghetto dümpelnd jedes Recht verwirkt hat, sich Volkspartei zu nennen, täte gut daran, sich dafür zu interessieren, wie ihre potenziellen Wähler angesprochen werden wollen. Wer "mit Unverständnis" darauf reagiert, dass sich die politische Konkurrenz formiert, sollte vielleicht sein Verständnis erweitern, statt sich zu echauffieren. Die Politiker können sich kein neues Volk, aber das Volk kann sich neue Politiker wählen.