Dienstag, 22. Oktober 2013

Deutsche Büroküchen

Wenn Sie die volle Tragik der deutschen Mentalität in ihrem unnachahmlichen Kleingeist erleben wollen, werfen Sie einen Blick in deutsche Büroküchen. Dort bietet sich im Wesentlichen überall das gleiche Bild: Eine mit blitzsauberem Geschirr gefüllte Spülmaschine harrt tagelang der Leerung, während sich in der Spüle und auf der Anrichte kunstvolle Gebilde ungespülten Geschirrs stapeln. Das ist kein erfreulicher Anblick, zumal es tendenziell immer die gleichen Leute sind, welche ihrem asozialen Mitarbeiterpack den Dreck wegräumen dürfen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, mit diesem Zustand umzugehen:
  • einfach den Mund halten und wegräumen - die pramatische Methode, 
  • das Zeug liegen lassen und nur das eigene Geschirr spülen - die faule pragmatische Methode,
  • den eigenen Dreck dazu stellen - die kollektivasoziale Methode,
  • das dreckige Geschirr wegwerfen (ist ja schließlich Müll) - die Rock'n'Roll-Methode
  • Zettel schreiben - die deutsche Methode.
Sie werden diese - gern in Vierfarbdruck unter voller Ausnutzung des Farbraums des Druckers, der Windows-Zeichensätze und der Clipart-Sammlung, im Zeitalter der Mobiltelefonkameras auch gern mit selbst aufgenommenen Fotos der dreckigen und der aufgeräumten Küche versehenen - A4-Manifeste kennen: flammende Appelle, lustige Gedichte, wüste Beschimpfungen, weinerliche Selbstbeweihräucherungen, dass die Verfasserin es endgültig satt hat, jeden Morgen den Dreck anderer Leute zu beseitigen. Erfolg haben diese Pamphlete praktisch nie, weswegen ihr Dasein nahe eines von Fliegen liebevoll umsäuselten Müllbergs besonders pathetisch wirkt.

Eine Abart des Spülappellzettels ist der Aufruf am gemeinsam genutzen Kühlschrank, sich gegenseitig nicht die Milch zu klauen. Da wir alle ganz toll globalisiert sind, werden solche Zettel inzwischen immer häufiger mindestens zweisprachig, in der Regel also deutsch und englisch geschrieben, und hier bitte ich Sie, einen Blick auf das oben stehende Foto zu werfen. Die Aussage beider Texte ist: Finger weg von meiner Dosenmilch. Der Unterschied liegt im Ton. Während der deutsche Text im preußischen Kasernenton gehalten ist, mit rechtlichen Konsequenzen droht und nach alter Wichtigtuerinnensitte annimmt, der Wahrheitgehalt einer Aussage nehme mit der Zahl der hinter ihr stehenden Ausrufezeichen zu, so dass ein als Höflichkeitsfloskel hinterhergeschobenes "Vielen Dank" reichlich verlogen wirkt, kommt die englische Fassung viel netter daher und sagt, die Kolleginnen wären froh, wenn man gegenseitig das Eigentum der Anderen respektiere. Statt der im Deutschen nur in Rudeln auftretenden Ausrufezeichen reichen bezeichnenderweise im Englischen einfache Punkte am Satzende.

So, und jetzt fragen Sie sich bitte noch einmal, warum die Deutschen im Ausland einen so unfreundlichen Ruf haben.

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Wenn Sie auf weitere besonders gelungene Beispiele solcher Zettel stoßen, wäre ich dankbar, wenn Sie Links darauf im Kommentarbereich hinterließen.

Montag, 21. Oktober 2013

Buchkritik: Homeland

Die Geschichte geht weiter. Marcus ist inzwischen ein paar Jahre älter. Auf einem Festival spielt ihm eine ehemalige Mitarbeiterin des Department of Homeland Security einen USB-Stick mit brisanten Whistleblowerdaten zu und lässt sich von Marcus versprechen, sie zu veröffentlichen, falls ihr etwas zustieße.

Was auch prompt passiert. Die Whistleblowerin und ihr Freund werden verschleppt und Marcus steht jetzt vor der Aufgabe, das Material so zu publizieren, dass er nicht auch noch selbst Freiheit und Leben riskiert.

Das ist im Wesentlichen auch schon die ganze Handlung. Dass dies auf mehrere hundert Seiten gestreckt nicht arg dünn wirkt, liegt an den vielen Nebenhandlungen der Geschichte. Das oben genannte Festival und die dahinter stehenden Ideen werden in aller Ausführlichkeit beschrieben, so dass man viel über eine Alternativkultur erfährt. Marcus fängt an, als Webmaster im Wahlkampfbüro eines unabhängigen Senatskandidaten zu arbeiten und bekommt auf diese Weise Einblicke in den Politbetrieb. Später nimmt er an einer Großdemonstration teil und erlebt, mit welchen Mitteln die Staatsmacht praktisch jede beliebig große Menschenmenge unter Kontrolle bringt. Marcus' Eltern und damit er selbst sind in finanzielle Schieflage geraten, und man erfährt, wie in den USA die moderne Form der Leibeigenschaft funktioniert.

Von der Erzählung her wirkt "Homeland" wie der typische zweite Teil einer Trilogie (Beispiel Star Wars). Im ersten Teil entsteht der Konflikt, der zum Teil gelöst wird (Böses Imperium, gute Rebellen, Todesstern futsch, Darth Vader noch am Leben). Der zweite Teil führt die Handlung fort, ohne dass es zur entscheidenden Wende kommt (Das Imperium erringt Teilerfolge, verhaftet Han, aber die Rebellen sind weiter aktiv). Im dritten Teil kommt es zum Showdown (Imperator tot, Darth Vader wieder Anakin Skywalker, zweiter Todesstern auch futsch). Ähnlich wie man beim Abspann von "Das Imperium schlägt zurück" etwas ratlos wegen der vielen offenen Handlungsstränge das Kino verlässt, fragt man sich beim doch etwas sehr staatsbürgerlichem Ende von "Homeland", ob man das nicht auch ein paar hundert Seiten kürzer hätte haben können.

Trotz des etwas unbefriedigenden Endes halte ich "Homeland" für ein lesenswertes Buch. Es führt "Little Brother" sauber fort, ist ebenfalls sehr inspirierend, wenn man sich aus einer leicht staatskritischen Haltung heraus mit Kryptografie beschäftigt, haut einen aber nicht mehr so um wie der erste Band. Wer ein paar hacktivistische Anregungen braucht, wird an dem Buch Spaß haben.

Cory Doctorow: Homeland http://craphound.com/homeland/

Montag, 30. September 2013

Buchkritik: Little Brother

Marcus ist so, wie man sich einen US-amerikanischen Mittelschichtteenager vorstellt: Intelligent, ein wenig aufsässig, computeraffin und mit einem leichten Hang zu ungewöhnlichen Hobbies. Alle Zeichen stehen darauf, dass, hat er einmal die Klippen der Pubertät umschifft, ihm ein relativ angenehmes Leben in irgendeinem Bürojob bevorsteht. Marcus hat allen Grund, seinem Land zu vertrauen, wurde es doch praktisch für Leute wie ihn geschaffen.

Dieses Vertrauen endet schlagartig, als Marcus und seine Freunde sich zufällig in der Nähe eines Terroranschlags aufhalten und vom Department of Homeland Security aufgegriffen werden. Marcus weiß, wie ein rechtsstaatliches Verfahren aussieht, und weil ihm die verhörenden Beamten dumm kommen, beharrt er auf Einhaltung genau dieser Rechte. Das war ein Fehler.

Tagelang wird Marcus an einem unbekannten Ort festgehalten, verhört und gefoltert. Die Unschuldsvermutung gilt hier nicht mehr, das Recht auf einen Anwalt sowieso nicht. Wenn Marcus unschuldig wäre, argumentieren seine Entführer, könnte er ihnen doch alles über sich und seine Freunde erzählen. Insbesondere könnte er den Zugriffscode zu seinem Telefon herausrücken, damit das DHS nachsehen kann, was er so treibt. Marcus hat tatsächlich nichts zu verbergen, wenigstens nichts, was über klassische Jugendsünden hinaus ginge. Es passt ihm nur nicht, dass er als Unschuldiger seine intimsten Geheimnisse preisgeben soll. Doch schnell wird klar: Der einzige Weg aus dem Gefängnis führt über seine Telefon-PIN. Offiziell ist er verschollen, und das DHS kann diesen Zustand beliebig lang fortsetzen. Nach Tagen der Folter und Demütigung bricht Marcus schließlich zusammen und gibt die gewünschten Informationen.

Er wird freigelassen. Seine Daten beweisen zwar, dass er ein harmloser Junge ist, aber sie beweisen eben nicht, dass er kein Terrorist ist. Das DHS stellt klar: Er ist nur auf Probe aus dem Gefängnis und unter ständiger Beobachtung. Redet er über die vergangenen Tage oder wird in irgendeiner Weise auffällig, wird er erneut verschwinden, diesmal für immer.

Wieder draußen - "frei" kann man den Zustand nicht nennen - trifft Marcus wieder auf seine Freunde, die wesentlich früher zusammenbrachen. Nur Darryl, der beim Tumult nach dem Anschlag schwer verletzt und ebenfalls verschleppt wurde, taucht nicht wieder auf. Niemand weiß, wohin er verschwand.

Marcus reicht es. Das ist nicht das Land, dem er vertraut hat. Hier verschwinden spurlos Menschen, Gesetze gelten nicht mehr, statt dessen werden mittelalterliche Methoden angewandt, die sich inzwischen nicht nur als unmenschlich, sondern sogar kontraproduktiv herausgestellt haben. Schlimmer noch: Die Meisten begrüßen diese Maßnahmen sogar, denn es ist in Zeiten des Terrors völlig angemessen, ein ganzes Volk in Kollektivgefangenschaft zu nehmen, um eine Handvoll Terroristen zu schnappen. Bevor die unsere Verfassung abschaffen, schaffen wir sie lieber selber ab.

Marcus beschließt seinen privaten Rachefeldzug gegen das DHS. Dazu braucht er Verbündete. Er muss sich den Überwachungsmaßnahmen entziehen. Doch wie stellt man das an, wenn selbst der eigene Laptop mit einem Keylogger versehen wurde? Der Ausweg besteht in einer X-Box, deren ursprüngliches Betriebssystem gegen ein besonders gehärtetes Linux ausgetauscht wurde und auf der die wichtigsten kryptografischen Werkzeuge installiert sind.

"Little Brother" liest sich wie eine 400 Seiten lange Cryptoparty. Festplattenverschlüsselung, Tor, Chatverschlüsselung, asymmetrische Mailverschlüsselung, Keysigning - alles kommt vor, ohne dass die Geschichte zu nerdlastig ist. Doctorow beschreibt genau die Beweggründe, warum sich viele zur Zeit mit Kryptografie beschäftigen - zur Verteidigung ihrer Freiheitsrechte, als Notwehr gegen ein komplett aus dem Ruder gelaufenes Überwachungssystem, das die Terrorhysterie längst nur noch als Vorwand benutzt, um ein ganzes Volk nach Auffälligkeiten und Abweichlern durchmustern und sie beseitigen zu können.

Achtung Spoiler - Achtung Spoiler - Achtung Spoiler

Natürlich schafft es Marcus am Ende, sein Ziel wenigstens teilweise zu erreichen, aber er schafft es nicht allein mit technischen Mitteln, sondern indem er an die Öffentlichkeit tritt. Das von ihm gesponnene Vertrauensnetz erweist sich als unterwandert. Seine Gegner wissen schon seit langer Zeit Bescheid und warten nur auf den geeigneten Moment zum Zuschlagen. Der ganze technische Aufwand bot zwar einen gewissen Schutz, aber wenn man die Gesellschaft ändern will, reicht es nicht, ab und zu mit Tor zu surfen.

Spoiler Ende - Spoiler Ende -Spoiler Ende

Es ist lange her, dass ich ein Buch so inspirierend fand. Wenn mich etwas vom Lesen abhielt, war es allenfalls der Drang, am Rechner mit den im Roman angesprochenen Kryptotools herumzuspielen. Doctorow hat für sein Buch sehr gut recherchiert, und die wenigen Details, an denen er technisch nicht ganz korrekt ist, gehen ohne weiteres als künstlerische Freiheit durch. Beängstigenderweise beschreibt er auch die gesellschaftlichen Verhältnisse sehr genau und überspitzt sie nur geringfügig. Er schildert genau, mit welchen Argumenten nicht nur in den USA die Verfassung ausgehebelt wird und schreibt auch, warum diese Argumente völliger Unsinn sind, warum Freiheit und Sicherheit keine Gegensätze sind, sondern einander bedingen.

Wenn euch irgendwann Zweifel kommen, warum ihr diesen ganzen Kryptokram veranstaltet, wenn ihr euch fragt, ob ihr es nicht übertreibt und euer Aktivismus eigentlich völliger Blödsinn ist - lest dieses Buch.

Cory Doctorow: Little Brother, ISBN: 0765319853http://craphound.com/littlebrother/download/

Samstag, 28. September 2013

Mimimi

"Meine Güte, dieser Wikipediaartikel ist ja der letzte Dreck. Dazu fällt mir ja gar nichts mehr ein."

- "Schade, denn wenn mich nicht alles täuscht, hast du das Thema, um das es da geht, studiert, warum verbesserst du den Artikel nicht. Genau dafür ist die Editierfunktion da."

[nachäffend] "Genau dazu ist die Editierfunktion da - hast du gesehen, wie lange die brauchen, bis so ein Artikel freigegeben wird?"

- "Naja, das ist ein Freiwilligenprojekt. Wenn du willst, dass da was voran geht, musst du schon selbst aktiv werden. Hast du mal das Team angeschrieben, gefragt, was da los ist und deine Hilfe angeboten?"

"Ach was, seit der Relevanzdebatte habe ich die Wikipedia eh abgeschrieben."

Liest sie aber dennoch, wahrscheinlich nur, um sich darüber aufzuregen.

Der oben beschriebene Dialog verkörpert für mich alles, was die Netzkultur an Kläglichkeit zu bieten hat. Rumjammern, sich in der Rolle der einsamen Denkerin gefallen, aber bloß nichts unternehmen, um den Zustand zu ändern. Das zeigt sich bei Banalitäten wie Wikipediaartikeln, aber auch bei größeren Dingen wie beispielsweise der vergangenen Wahl.

Was bitte hat sich großartig geändert? Die CDU ist an der Macht. Meine Güte, das ist sie seit den frühen Achtzigern, sieht man von dem kurzen Schröder-Intermezzo einmal ab, und das unterschied sich auch nicht so besonders von den anderen Jahren. Wir sind wieder einmal in der Opposition. Oh wie schlimm. Ich wähle seit 30 Jahren Parteien, die es bestenfalls in die Opposition schaffen, wenn es überhaupt bis ins Parlament langt. Die Egoistin in mir sagt: schade; die Demokratin sagt: na gut, so sehen halt Mehrheitsentscheidungen aus.

Dass in einer Demokratie grundsätzlich die Mehrheit das Sagen hat, scheinen viele aus der Netzbewegung ohnehin nicht so ganz begriffen zu haben. Natürlich ist es nicht falsch, wenn auch Minderheiten gewisse Rechte zugestanden werden, aber das heißt nicht, dass dies immer und überall der Fall sein muss. Mitunter ist die Demokratie ein Ozeanriese, der in eine bestimmte Richtung steuert, und man kann nicht immer ein Stück für diejenigen absägen, die woanders hinwollen.

Glaubt nicht, ich wäre über das Wahlergebnis glücklich, aber ich weiß, dass Jammern hier nicht hilft. Ja, es ist befremdlich, wenn eine zweistellige Prozentzahl der abgegebenen gültigen Stimmen keine Entsprechung in Parlamentssitzen findet, aber dann gleich herumzukrakeelen, das sei "verfassungswidrig", ist wieder eine typische Netzreaktion: außer einer Folge "Alexander Hold" gesehen zu haben, keine juristischen Kenntnisse, aber den Leuten erzählen, was angeblich im Gesetz steht. Man kann ja vom Bundesverfassungsgericht halten, was man will, aber deren Urteile haben Substanz. Zwar hat in den vergangenen Jahren immer mal wieder jemand eine Verfassungsklage gegen die Fünf-Prozent-Hürde gefordert, tatsächlich durchgezogen wurde die Klage aber nur bei Kommunal- und Europawahlen. Wenn die Sache so sonnenklar ist, warum hat dann noch niemand etwas unternommen? Komischerweise finden die meisten, die über diese böse Klausel schimpfen, nichts Schlimmes daran, dass die FDP und die AfD an ihr gescheitert sind.

Besonders beliebt sind Kommentare, die sich darüber echauffieren, wie unglaublich dumm die Wählerinnen doch sind. Im Umkehrschluss soll das natürlich andeuten, dass die Verfasserin unglaublich klug ist, denn sie hat nicht die CDU gewählt. Klugheit gilt in einer Szene, die Statussymbolen wie großen Autos oder teuren Kleidern immer schon kritisch gegenüber stand, besonders viel. Arm darf man sein, aber dumm?

Das Volk ist also dumm, nur weil es nicht die Parteien gewählt hat, welche die intellektuelle Netzelite für sie auserkor. Ich verrate euch ein kleines Geheimnis: Die Mehrheit der Wählerinnen hält uns für völlige Idioten, weil wir irgendwelchen Spinnerparteien hinterher rennen. Klug und dumm sind in der Politik schwer objektivierbare Begriffe.

Schade finde ich vor allem eins: dass die CDU keine Minderheitsregierung bilden kann. Damit könnte sie Geschichte schreiben. Eine Kanzlerin, die das Wagnis eingeht, für ihre Vorhaben im Parlament nach Mehrheiten suchen zu müssen. Eine Opposition, die zwar ordentlich Gegendruck erzeugt, aber bei guten Vorschlägen auch die Größe hat, zuzustimmen, auch wenn die Idee von der falschen Partei kommt. Dummerweise ist der Bundestag viel zu sehr im Lagerdenken erstarrt, als dass er die für das Vorhaben nötige Flexibilität aufbrächte.

Statt dessen läuft alles auf eine große Koalition hin. Die SPD ist viel zu machthungrig, als dass sie dieser Versuchung lang widerstehen könnte. Die Parteispitze schafft gerade Tatsachen, so dass der angebliche Mitgliederentscheid praktisch keine andere Chance hat, als dem zuzustimmen, weil alles Andere die Partei ruinierte.

Freilich ruiniert auch die große Koalition die SPD. Sie hat sich schon einmal vorführen lassen, und ich sehe keine Köpfe in der Führungsriege, die es bei einer Neuauflage anders angehen ließen als zuvor. Auf wie viel Prozent will sich die SPD eigentlich noch zurechtstutzen lassen, bis sie begreift, dass Regierungssessel kein Selbstzweck sind? Diesem Irrtum ist der vorherige Koalitionspartner der CDU auch schon erlegen.

Zurück zur Frage, wo hier die Netzbewegung ins Spiel kommt. Wir können uns natürlich weiter auf das verlegen, was wir ganz toll können: daneben stehen und jammern. Wir könnten uns aber auch auf ein Grundprinzip unserer Verfassung besinnen: Alle Macht geht vom Volke aus. Demokratie lebt von Einmischung. Dazu müssen wir nicht in eine der noch großen Parteien eintreten. Es reicht, wenn wir uns Gehör verschaffen, wenn wir die Leute in diesen Parteien ansprechen, von denen wir uns etwas erhoffen. Nur weil jemand in der meiner Ansicht nach falschen Partei sitzt, muss er nicht völlig für meine Sache verloren sein. So etwas nennt sich Lobbyarbeit.

Manche werden bei diesem Wort zusammenzucken, aber das Wort hat zu unrecht einen so schlechten Leumund. Lobbyarbeit heißt in erster Linie, mit den Leuten zu reden, sie mit Informationen und Argumenten zu versorgen. Ich glaube nicht, dass Netzpolitik für die nächsten Jahre komplett vom Tisch ist. Wir dürfen einfach nicht erwarten, dass sie sich darauf beschränkt, dass wir einmal im Jahr in Berlin ein paar Plakate im Kreis herum tragen.

Sonntag, 22. September 2013

Netzpolitik bleibt in der APO

Gestern hatte mich ein Freund noch gewarnt: "Pass auf, wenn viele Parteien an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern, schafft die CDU die parlamentarische absolute Mehrheit." Zum Zeitpunkt, an dem ich diesen Eintrag schreibe, ist diese absolute Mehrheit wahr geworden. Erstmals seit 1957.

Eigentlich hätten wir es wissen können. Wie sahen denn die Optionen aus? Abgesehen davon, dass der Opposition außer Witzen über die Handhaltung der Kanzlerin und der Bezeichnung "Mutti" schon fast bemitleidenswert wenig einfiel, braucht sich niemand zu wundern, warum sich die CDU in einem historisch dämlichen Wahlkampf durchsetzen konnte: Die SPD hatte ihrer Vorliebe für dicke, alte Macker nachgegeben und ein Politfossil ins Rennen geschickt, das vor allem durch trampelhaftes Benehmen bestach. Inhaltlich hob sich diese Partei nur durch diffuse Ankündigungen ab, dass mit ihr alles irgendwie gerechter werde. Offen blieb freilich die Frage, wie eine Partei, welche die zentralen Figuren der großen Koalition ins Rennen schickt, auf einmal ihr Herz für Menschenrechte und Sozialstaat erkannt haben soll. Unter diesen Umständen sind die drei hinzugewonnenen Prozentpunkte sogar noch ein echter Erfolg. Ehrlicherweise müsste die SPD sogar für das Ergebnis dankbar sein. Weder schwarz-rot, noch rot-rot-grün hätte sie überlebt.

Die FDP hatte außer der Bundesjustizministerin keinen Aktivposten zu bieten. Selbst die naseweisesten Sprüche ihres Vorsitzenden konnten nicht darüber hinweg täuschen, dass diese Partei seit Jahren ihren einzigen Existenzgrund darin sah, ins Parlament zu kommen, um dort - was noch einmal zu machen? Das wusste niemand so recht.

Den Grünen muss man wenigstens die ehrliche Ankündigung zugestehen, dass es mit ihnen in der Regierung teuer wird. Enorm explodierende Energiekosten als Gegenkonzept zu wahnsinnig explodierenden Energiekosten waren aber offenbar selbst eingefleischten Grünwählern nicht überzeugend zu vermitteln.

Die Linke war die einzige Partei, die während des Wahlkampfs wenigstens andeutungsweise Inhalte auf ihre Plakate druckte. Es blieb freilich die Frage, wie diese edlen Ziele umgesetzt werden sollen. Bei mir blieb vor allem der Eindruck einer brav Parolen abspulenden, insgesamt aber eher ratlosen Partei.

Die AfD scheitert aus dem Stand heraus knapp am Einzug in den Bundestag. Diese Zahl ist interessant, zeigt sie doch, dass eine reine Protestpartei realistische Erfolgschancen hat. Wesentlich mehr als D-Mark-Romantik und die schon fast niedliche Illusion, sich im Zeitalter der Globalisierung wirtschaftlich vom Rest der Welt entkoppeln zu können, hatte die Partei nicht zu bieten. Wie immer, wenn man einen unliebsamen Gegner loswerden will, wurde versucht, die AfD als Nazis abzustempeln, aber die Masche verfängt natürlich nur bei Leuten, die aus was gegen Nazis haben. Außerdem musste man sich nur die Krawallbrüder von den Republikanern und der NPD ansehen, um zu wissen, dass die AfD anders daher kommt. Eleganter. Mit Haupt- und Nebensätzen. Da muss man schon etwas mehr in peto haben als Antifaparolen aus der Mottenkiste. Möglicherweise besiegelt das knappe Scheitern auch das Ende dieser Partei, aber das ist meiner Meinung nach noch nicht gesagt. Ich schreibe sie vorest noch nicht ab.

Kommen wir zu den Piraten. Groß waren die Hoffnungen der vergangenen Jahre, dass Netzpolitik endlich allgemein gesellschaftliche Relevanz erlangt haben könnte, dass wir endlich den Weg aus den Hackerspaces in die analoge Welt geschafft hätten. In gewisser Hinsicht ist es auch gelungen - technisch gesehen. Selbst die konservativsten Knochen haben inzwischen I-Pads und Smartphones, um darauf ihr Social-Media-Profil zu pflegen. Leider haben sie dabei nicht die Vorstellungen übernommen, die wir mit dieser Technik verbinden. Für sie ist das Netz weiterhin wie eine Mischung aus Telefon, Fernsehen und Zeitung, und entsprechend wollen sie darin Sendezeiten, Inhaltskontrolle und das Verbot, voneinander abzuschreiben. Das Netz als Teil der Persönlichkeit, als Lebensraum gibt es für sie nicht. Wenn sie twittern, sind es Sätze wie "Auf dem Weg zur Fraktionsgeschäftssitzung. Debatte über Drucksache 24/11-13 wird interessant" oder anderer inhaltsleerer Blödsinn, den ihre PR-Zombies als total Web 2.0 ansehen. Für einen kurzen Moment sah es so aus, als könnten die Piraten in diese Welt einbrechen, aber sie sind gescheitert. Gründe gibt es mehrere:

Der Mythos der "Ein-Themen-Partei": Groß war das Gejammer. Wie kann eine Partei nur so lau mit nur einem Thema, nämlich der Netzpolitik daher kommen? Schon vor vier Jahren habe ich geschrieben: Na und? Die FDP konnte über Jahre hinweg nur das Wort "Steuersenkung" stammeln und kam damit durch. Die AfD hat außer "D-Mark" praktisch nichts zu bieten und schafft es fast in den Bundestag. Doch wie reagieren die Piraten? Statt die Nerven zu behalten und sich auf das eine Thema, das sie wirklich können, zu konzentrieren, wenden sie viel Zeit und Energie auf ein "Vollprogramm" auf - ein wild zusammengestoppeltes Konglomerat irgendwelcher mehr oder weniger ausgegorener Positionen, unlesbar und uninteressant, aber ein gefundenes Fressen für alle, die sich über die Piraten immer schon einmal totlachen wollten.

Transparenz: Größte Stärke und gleichzeitig größte Schwäche der Piraten war es immer, alles öffentlich zu leben. Alle sollten sehen, wie die Partei Beschlüsse fasst. Das Ganze hat nur zwei Nachteile. Der eine ist nicht weiter schlimm: Es interessiert niemanden. Der viel entscheidendere Nachteil: Während sich die Piraten öffentlich wie die Kesselflicker stritten, erweckten alle anderen Parteien ein vergleichsweise geschlossenes Bild. Intern sah es bei ihnen auch nicht besser aus, aber sie hielten ihre Streitigkeiten wie die ganzen Jahre zuvor streng unter Verschluss.

In der Summe führte es dazu, dass sich nicht nur zu jedem im Vollprogramm vertretenen Nischenthema irgendwo in der Partei jemand fand, der dazu etwas sagen konnte, sondern dass die offene Informationspolitik dazu führte, dass er es auch tatsächlich sagte. Selten war das von Vorteil. Die Medien liebten eine Zeit lang diesen unerschöpflichen Interviewpool, und die Öffentlichkeits- und Karrieresüchtigen, die in den zwischenzeitlich zweistelligen Wahlergebnissen großartige Aussichten für eine politische Laufbahn sahen, ließen keine Chance aus, ihr dummes Gewäsch in jedes Mikrofon zu erbrechen, das die Journalistinnen nicht rechtzeitig wegzogen. Eines aber übersahen sie: Öffentlichkeit heißt nicht, zwangsläufig von allen geliebt zu werden. Es kann auch heißen, dass man Kritik einstecken muss, und darin waren die Piraten leider nie besonders gut. Tauchte irgendwo ein Artikel auf, der es auch nur wagte, neben den Lobeshymnen ganz vorsichtig auf die eine oder andere Schwäche hinzuweisen, dann konnte das noch so konstruktiv und freundlich geschrieben sein - die Kommentare ereiferten sich, als hätte der Autor mit einer Kettensäge eine komplette Grundschule niedergemetzelt. Kritik wurde nicht als Chance, sondern als Häresie betrachtet, und entsprechend versiegte die Diskussionskultur in und um die Piraten schnell in hysterischem Gekreische. Hoffentlich hört mich jemand und schreibt einen Artikel über mich.

Hinzu kamen einige ungeschickte Aktionen von Parteimitgliedern, welche die Grenze zwischen ihrer allgemein netzpolizischen und der Parteiarbeit nicht sauber gezogen bekamen. Oft handelten sie mit den besten Absichten, aber in der Netzbewegung kam es so an, als versuche die Partei, sie zu vereinnahmen. Besonders beispielhaft zeigte sich das am "Fahnenstreit", äußerlich gesehen einer Lappalie, die sich über Jahre hinzog und um die Frage drehte, ob und wie viele Parteifahnen auf Demonstrationen angemessen sind. Für die Piraten ging es darum "Präsenz zu zeigen", für die Netzbewegung darum, dass ihre Demonstrationen als parteiunabhängige Veranstaltung wahrgenommen werden. "Was können wir denn dafür, dass wir nun einmal den größten Teil eurer Bewegung stellen?" fragten die Piraten. "Ihr seid gar nicht so viele", entgegnete die Netzbewegung. "Ihr seid nur diejenigen, die mit den meisten Fahnen aufkreuzen. Der Rest von uns trägt diese Fetzen nicht und wird trotzdem mit zu euch gezählt." - "Ist denn das schlimm?" fragten die Piraten. "Ja", sagte die Netzbewegung. "und zwar dann, wenn wir nicht mehr als unabhängige Institution, sondern nur noch als euer Anhängel wahrgenommen werden. Damit vergrault ihr die Leute, die anderen Parteien angehören." - "Aber wir sind doch euer parlamentarischer Arm."

Nein, das seid ihr nicht, zumindest nicht unbedingt. Wir freuen uns, wenn ihr unsere Interessen vertretet, aber wenn SPD, Grüne, FDP, Linke, ja vielleicht auch die CDU auf unsere Anliegen reagieren, freut uns das genau so. Streng genommen ist uns egal, wer im Parlament netzpolitische Positionen stärkt, so lange es überhaupt geschieht.

Ich bin gespannt, zu sehen, was jetzt passiert. Wie viele derjenigen, die von einer glänzenden Politkarriere, Fernsehauftritten und Titelgeschichten in den Zeitungen träumten, werden jetzt noch den Piraten die Treue halten? Wie viele Fahnenschwenkerinnen haben noch Spaß an ihrer Politclownerie, jetzt, da sie wissen, dass ihnen niemand zuschaut? Wie viele Empörungskünstlerinnen mit Adrenalinüberschuss werden sich jetzt noch in Forenkommentaren heilige Kriege liefern, wenn sie der Illusion beraubt wurden, alle Welt bewundere sie dafür? Oder kürzer: Wer bleibt den Piraten erhalten - die ehrlichen Aktivistinnen oder die Schwachköpfe? Werden die Piraten wieder zu Avant Garde oder verkommen sie zum Debattierclub für Nabelschaufetischistinnen?

Wichtigste Lehre: Unsere Filterblase ist nicht repräsentativ. Nicht einmal ansatzweise. Ähnlich wie die SPD-Anhängerinnen über Monate hinweg Rechenkunststücke weit abseits der mathematischen Logik veranstalteten und bei Auftritten Steinbrücks vom "nächsten Kanzler der Bundesrepublik Deutschland" schwadronierten, kramten Piraten und mit ihnen Teile der Netzbewegung irgendwelche halbgaren Umfragen heraus und verkündeten, sie hätten bei 12-jährigen Schreinerstöchtern im östlichen Schwarzwald vormittags zwischen 9 und 11 Uhr einen Stimmanteil von 17 Prozent, der Einzug in den Bundestag sei mithin in greifbare Nähe gerückt. Verstärkt wurde dieser Irrglaube durch die umfangreiche Berichterstattung zum NSA-Skandal, die zwar erfreulicherweise zeigte, dass viele Journalistinnen die Tragweite der Enthüllungen genau verstanden hatten, in der Öffentlichkeit aber praktisch nicht zur Kenntnis genommen wurde.

Spätestens nach dieser Wahl werden wir uns von der Illusion einer starken und für die große Politik relevanten Netzbewegung verabschieden müssen. Für den Traditionsrundmarsch "Freiheit statt Angst" in Berlin mögen zusammengelogene 20.000 Teilnehmerinnen vielleicht noch ein hübsches Bild abgeben, aber wenn die einzige objektiv messbare Meinungsumfrage namens Wahl uns schmerzhaft mit der Realität abgleicht, ist es vielleicht an der Zeit, das Träumen zu beenden und sich der Wahrheit zu widmen. Es ist auch Unsinn, darauf warten zu wollen, bis die junge Generation, bei der unsere Themen wenigstens noch etwas Relevanz haben, ins Wahlalter kommt. Leute, schaut euch die Altersstatistiken an. Dieses Land vergreist. Wir werden auf absehbare Zeit von alten Säcken regiert, für die das Internet bis zu ihrem Tod eine Sammlung von Röhren bleiben wird. Die paar nachwachsenden Teenager werden niemals ein Gegengewicht bilden können.

Eine ganz wichtige Lektion werden einige von uns noch lernen müssen. Die Wahlbeteiligung lag über 70 Prozent und ist im Vergleich zur letzten Wahl sogar leicht gestiegen. So etwas nennt sich demokratisch legitimiert. Wir können uns darüber unterhalten, ob die Bundesrepublik im Vergleich zu Weimar so weit stabilisiert ist, dass man die Fünf-Prozent-Hürde abschaffen kann, aber das hieße eben auch, dass neben den Piraten auch FDP und AfD im Bundestag sind. Das will dann auch wieder niemand. Demokratie heißt nicht, dass alles nach meiner Pfeife tanzt.

Der letzte Satz mag manche überraschen. Lest ihn zur Not ruhig noch einmal. Wenn mir irgendetwas nicht passt, dann ist das nicht automatisch sex-, fem-, rass-, fasch- oder sonstwieistische "Kackscheiße", sondern vielleicht ausnahmsweise mal berechtigt. Wenn die Regierung ein Gesetz beschließt, das mir nicht passt, ist es vielleicht ungerecht, nachteilhaft für mich oder einfach nur unsinnig, aber nicht automatisch verfassungswidrig. Die Feststellung, was in diesem Land verfassungswidrig ist und was nicht, treffen nicht du oder ich, sondern ein eigens dafür geschaffenes Gericht, das aus gutem Grund vom politischen Tagesgeschäft angekoppelt ist. Nur weil ich in der Minderheit bin, werde ich nicht automatisch unterdrückt, ausgegrenzt oder diskriminiert und muss deswegen unbedingt geschützt werden, sondern manchmal muss ich auch einfach einsehen, dass die Anderen in der Mehrheit sind.

Mittwoch, 18. September 2013

Nichtwähler-FAQ

Zum Thema Nichtwählen habe ich mich schon an anderer Stelle ausgelassen. Da aber regelmäßig zu Wahlen die gleichen selbsternannten Querdenkerinnen auftauchen und mit gewichtiger Stimme verkünden, warum sie als wahre Widerstandskämpferinnen gegen das korrupte System ganz mutig nicht zur Wahl gehen, habe ich mich entschieden, die häufigsten Argumente aufzugreifen und zu schreiben, was ich davon halte.

"Es ist meine freie Entscheidung, nicht wählen zu gehen."

Natürlich ist es das, genau so, wie es meine freie Entscheidung ist, dein Verhalten dumm zu finden. Wenn du einfach nicht wähltest und dafür den Rest der Zeit den Mund hieltest, hätten wir auch keine Schwierigkeiten miteinander. Statt dessen liegst du mir die ganze Zeit jammernd in den Ohren, alles sei so schlimm. Nun, du hattest die Gelegenheit, es zu ändern. Du hast sie nicht wahrgenommen. Geh mir nicht auf die Nerven.

Bitte, jetzt drück nicht auf die Tränendrüse und wein mir was vor, ich "diskriminiere", ja schlimmer noch "bashe" dich. Die Freiheit, alles zu tun, umfasst nicht die Pflicht der Umstehenden, jeden Schwachsinn zu bejublen. Freiheit heißt nicht zuletzt, für die Folgen seines Tuns gerade zu stehen, und das kann eben auch heißen, sich von mir auslachen lassen zu müssen.

"Es ändert sich ja doch nichts."

Zugegeben, die Parteien boten in den letzten Jahrzehnten reichlich Anlass zur Enttäuschung. Als Rot-Grün Ende des letzten Jahrhunderts Schwarz-Gelb ablöste, dachten wir, jetzt käme der große Generationenwechsel, alles werde gut. Statt dessen bestand eine der ersten Entscheidungen darin, sich aktiv an einem Krieg zu beteiligen. Kurz darauf beschloss die gleiche Regierung ein ganzes Bündel verfassungswidriger "Sicherheitsgesetze". Kurz vor Ende ihrer Regierungszeit schaffte sie dann noch den Sozialstaat ab. Die dann folgene schwarz-rote Koalition wollte eigentlich niemand. Deswegen verzeihen wir es ihr sogar fast, dass sie die Internetzensur beschloss. Vom derzeitigen schwarz-gelben Bündnis erwartete niemand allzu viel, allenfalls, dass ihre Politik aus einem Guss sein werde. Statt dessen besticht sie durch Peinlichkeiten, Abwarten, Zaudern und Konfusion in einer Form, welche die Ära Kohl als eine Zeit radikaler Entschlossenheit erscheinen lässt. Egal, wie die nächste Regierung aussehen wird - ich zweifle nicht eine Sekunde daran, dass sie es ähnlich vergeigen wird.

Also einpacken und nach hause gehen? Nein, denn so funktioniert Demokratie nicht.

Der letzte Satz hatte eine schöne Doppelbedeutung. Tatsächlich funktioniert Demokartie so nicht. Jetzt. In diesem Moment. Die Leute glauben, Demokratie sei eine Art Luxusrestaurant, das zu besuchen man sich alle vier Jahre leisten kann. Dann schaut man andächtig auf die Karte, wählt mit Kennermiene ein Gericht aus und hat es dann in exakt der Form zu genießen, wie es sich der Vier-Sterne-Koch im seinem Refugium gedacht hat.

Genau das ist Quatsch. Demokratie ist die schmierige Pommesbude an der Ecke. Der unrasierte Typ hinter dem Tresen ist keinen Deut besser oder schlechter als du, und wenn der mal wieder Pamp serviert, dann langst du kurz rüber und erzählst ihm deine Meinung. Mehr sogar: Zur Not schubst du ihn beiseite und kochst deinen eigenen Kram. Du musst nur genug Leute finden, die dein Zeug essen wollen. Vielleicht stellst du dich beim Kochen furchtbar an, vielleicht schmeckt dein Essen genau so grässlich wie das der Anderen, aber es ist dein Essen. Du sorgst dafür, dass es gelingt.

Demokratie lebt von ständiger Einmischung. Wenn du den Eindruck hast, dass sich ein Raumschiff Bundestag gebildet hat, in dem eine abgehobene Abgeordnetenkaste weit entfernt vom Volk herumschwebt und ihr eigenes Leben lebt, dann liegt es daran, dass du es zugelassen hast - dass über Jahrzehnte hinweg dir nichts als Jammern einfiel. Zum Glück muss das Raumschiff gelegentlich zum Proviantholen landen. Sorgen wir dafür, dass es diesmal am Boden bleibt.

"Ich werde ein Signal setzen."


Wer streut eigentlich immer wieder dieses blödsinnige Gerücht, ungültig abgegebene Stimmen könnten abends in den Balkengrafiken bei ARD und ZDF auftauchen, wenn nur genügend entsprechend ankreuzen? Leute, wollt ihr mir denn mit aller Gewalt beweisen, dass wirklich jeder Depp wählen gehen darf? Die Sitzverteilung berechnet sich nach den abgegebenen gültigen Stimmen. So lange es auch nur eine einzige davon gibt, kommen sinnvolle Werte heraus, und niemand merkt etwas. Ihr könnt auch gern ellenlange Ergüsse auf den Stimmzettel kritzeln, warum ihr alles doof findet. Glaubt ihr ernsthaft, das liest sich jemand durch? Wie stellt ihr euch die Auszählung vor? Meint ihr, wir säßen da im Kreis, jemand entfaltet feierlich den Stimmzettel, ruft: "Gaudete! Höret die Stimme des Volkssouveräns!", verliest das Votum, und ein Mönch mit Gänsekiel protokolliert andächtig das Ergebnis auf Pergament? Ich habe über Jahrzehnte im Wahllokal gesessen. Abends beim Auszählen wollten wir vor allem eins: heim. Wir haben zugesehen, so schnell wie möglich fehlerfrei auszuzählen. Da guckt keiner, welche Pamphlete irgendein Wichtigtuer verfasst hat. Da zählt nur eins: gültig oder nicht? Geschwafel gehört zur Kategorie "ungültig", wird zwar auch zahlenmäßig erfasst, hat aber keine Auswirkung aufs Wahlergebnis.

"Ich bin Anarchistin."

Heißt: Du lehnst die parlamentarische Demokratie prinzipiell als Instrument der Entscheidungsfindung ab und möchtest ein anderes System herbei führen. Du magst dich wundern, aber das respektiere ich. Genauer: Ich respektiere es, so lange du deine Revolution nicht aufs Wohnzimmer oder den monatlichen Debattierklub beschränkst, wo ihr euch gegenseitig euer Leid klagt, sondern dich friedlich für eine Änderung des Systems einsetzt. 

Dienstag, 17. September 2013

Kann ausnahmsweise einer an die Kinder denken?

Lieber Herr Trittin,

es gibt viele Gründe, Sie und Ihre Partei als politische Gegner zu betrachten: die Oberlehrermentalität, den Drang, Gesetze zu erlassen, wo Überzeugen angebracht wäre, der Krieg, den Sie geführt, die verfassungswidrigen Sicherheitsgesetze, die Sie beschlossen haben und, ja, natürlich auch dieses vollkommen idiotische Dosenpfand, das mich zwingt, Plastikmüll wie rohe Eier zum Pfandautomaten zu schleppen, der das Etikett wegen einer winzigen Falte nicht lesen kann oder gerade verstopft ist und dann, wenn er doch ausnahmsweise funktioniert, Sekunden später die mit höchster Sorgfalt dargebrachte Dose zermatscht. Ich könnte noch lange weiter aufzählen: die Quote, explodierende Energiekosten, Abbau des Gesundheitswesens, Hartz IV, die Internetzensur - alles Errungenschaften, die wir direkt Ihnen zu verdanken haben oder wenigstens von Ihnen mit beschlossen wurden. All dies kreide ich Ihnen - zu recht oder nicht - an, aber eines nicht: dass Sie vor 32 Jahren in Göttingen ein unfassbar dummes Wahlprogramm unterschrieben haben. Unfassbar dumm deshalb, weil es eine Passage zur Straffreiheit von Pädophilie enthielt, die heute kein empfindungsfähiges Wesen mehr so stehen ließe.

Das wissen Sie inzwischen selbst. Mehr als das: Sie gaben sogar eine unabhängige Studie in Auftrag und ließen es zu, dass eine Woche vor der Bundestagswahl Ihr schwerer Fehler aus dem Jahr 1981 noch einmal an die große Glocke gehängt wird. Befänden wir uns mitten in der Legislaturperiode, hätte der politische Gegner ein wenig gelästert, Sie hätten sich brav Ihre Tracht Prügel abgeholt, und die Sache hätte sich erledigt. Nun aber befinden wir uns ausgerechnet in der Woche vor der Bundestagswahl, einer Phase also, in der Sachargumente schon lange völlig uninteressant sind und die CDU die Typen aus dem Keller heraus lässt, die sie sonst da unten wegschließt, weil sie selbst für ihre Maßstäbe peinlich sind. Philipp Mißfelder zum Beispiel. Gegen den wirkt selbst Claudia Roth noch intellektuell.

Die CDU, deren Vorgängerpartei das Ermächtigungsgesetz mit beschlossen hat, deren Mitglieder in der NS-Zeit aktiv mitgemordet haben, deren DDR-Ableger das SED-Regime mit unterstützt hat. Die CDU, Akteurin in diversen Parteispendenaffären, die einen ehemaligen Bundeskanzler vergöttert, der in einem Strafverfahren einfach keine Lust hat, als Zeuge auszusagen und dafür nicht belangt wird - diese Partei, die für alle Zeit das Recht verwirkt haben sollte, Begriffe wie "christlich" oder "Moral" auch nur laut auszusprechen, erdreistet sich jetzt also, sich zur moralischen Instanz über Sie zu erheben, ähnlich wie damals, als es in der katholischen Kirche nicht um irgendwelche theoretisch-programmatischen Kindesmisshandlungen, sondern um ganz reale Fälle in Pastorenwohnungen und Schulen ging? Oh, ich höre gerade, das fand damals keiner in der CDU so richtig schlimm, da forderte keiner rückhaltlose und brutalstmögliche Aufklärung. Naja, mit der Kirche verdirbt man es sich ja auch nicht.

Ich krame uraltes Zeugs aus längst vergangenen Tagen hervor? Genau, ich finde das auch albern. Menschen ändern sich, Parteien ändern sich. Jutta Ditfurth wird Ihnen das bestätigen. Baldur Springmann und Petra Kelly könnten das auch, wenn sie noch lebten.

Deshalb wähle ich Sie nicht - nicht wegen der Dinge, die Sie unterschrieben haben, als ich noch ein Kind war, sodern wegen der Dinge, die Sie und Ihre Partei jetzt gerade verschusseln. Darunter ist nichts, was Ihren Rücktritt als Spitzenkandidat rechtfertigte. Sie verkörpern das, was ich an Ihrer Partei nicht leiden kann, und das ist genau der Grund, warum Sie auf diesen Posten gehören. Sie erledigen Ihre Aufgabe gut, und das meine ich ausnahmsweise nicht ironisch.

Wer jetzt die Grünen nicht wählt, weil vor 32 Jahren ein Göttinger Student und Stadtratskandidat ein blödsinniges Wahlprogramm einer in der Gründungsphase befindlichen Partei unterschrieben hat und sich deswegen heute von den öligen Politplacebos einer CDU-Jugendorganisation ankläffen lassen muss, hat es nicht anders verdient, zur Belohnung weitere vier Jahre von einer Partei reagiert zu werden, die den Stillstand zum rautenförmigen Konzept erhoben hat.

Trotz allem viel Erfolg bei der Wahl und einen fairen Wahlkampf wünscht

Ihre Publikumsbeschimpfung