Samstag, 28. September 2013

Mimimi

"Meine Güte, dieser Wikipediaartikel ist ja der letzte Dreck. Dazu fällt mir ja gar nichts mehr ein."

- "Schade, denn wenn mich nicht alles täuscht, hast du das Thema, um das es da geht, studiert, warum verbesserst du den Artikel nicht. Genau dafür ist die Editierfunktion da."

[nachäffend] "Genau dazu ist die Editierfunktion da - hast du gesehen, wie lange die brauchen, bis so ein Artikel freigegeben wird?"

- "Naja, das ist ein Freiwilligenprojekt. Wenn du willst, dass da was voran geht, musst du schon selbst aktiv werden. Hast du mal das Team angeschrieben, gefragt, was da los ist und deine Hilfe angeboten?"

"Ach was, seit der Relevanzdebatte habe ich die Wikipedia eh abgeschrieben."

Liest sie aber dennoch, wahrscheinlich nur, um sich darüber aufzuregen.

Der oben beschriebene Dialog verkörpert für mich alles, was die Netzkultur an Kläglichkeit zu bieten hat. Rumjammern, sich in der Rolle der einsamen Denkerin gefallen, aber bloß nichts unternehmen, um den Zustand zu ändern. Das zeigt sich bei Banalitäten wie Wikipediaartikeln, aber auch bei größeren Dingen wie beispielsweise der vergangenen Wahl.

Was bitte hat sich großartig geändert? Die CDU ist an der Macht. Meine Güte, das ist sie seit den frühen Achtzigern, sieht man von dem kurzen Schröder-Intermezzo einmal ab, und das unterschied sich auch nicht so besonders von den anderen Jahren. Wir sind wieder einmal in der Opposition. Oh wie schlimm. Ich wähle seit 30 Jahren Parteien, die es bestenfalls in die Opposition schaffen, wenn es überhaupt bis ins Parlament langt. Die Egoistin in mir sagt: schade; die Demokratin sagt: na gut, so sehen halt Mehrheitsentscheidungen aus.

Dass in einer Demokratie grundsätzlich die Mehrheit das Sagen hat, scheinen viele aus der Netzbewegung ohnehin nicht so ganz begriffen zu haben. Natürlich ist es nicht falsch, wenn auch Minderheiten gewisse Rechte zugestanden werden, aber das heißt nicht, dass dies immer und überall der Fall sein muss. Mitunter ist die Demokratie ein Ozeanriese, der in eine bestimmte Richtung steuert, und man kann nicht immer ein Stück für diejenigen absägen, die woanders hinwollen.

Glaubt nicht, ich wäre über das Wahlergebnis glücklich, aber ich weiß, dass Jammern hier nicht hilft. Ja, es ist befremdlich, wenn eine zweistellige Prozentzahl der abgegebenen gültigen Stimmen keine Entsprechung in Parlamentssitzen findet, aber dann gleich herumzukrakeelen, das sei "verfassungswidrig", ist wieder eine typische Netzreaktion: außer einer Folge "Alexander Hold" gesehen zu haben, keine juristischen Kenntnisse, aber den Leuten erzählen, was angeblich im Gesetz steht. Man kann ja vom Bundesverfassungsgericht halten, was man will, aber deren Urteile haben Substanz. Zwar hat in den vergangenen Jahren immer mal wieder jemand eine Verfassungsklage gegen die Fünf-Prozent-Hürde gefordert, tatsächlich durchgezogen wurde die Klage aber nur bei Kommunal- und Europawahlen. Wenn die Sache so sonnenklar ist, warum hat dann noch niemand etwas unternommen? Komischerweise finden die meisten, die über diese böse Klausel schimpfen, nichts Schlimmes daran, dass die FDP und die AfD an ihr gescheitert sind.

Besonders beliebt sind Kommentare, die sich darüber echauffieren, wie unglaublich dumm die Wählerinnen doch sind. Im Umkehrschluss soll das natürlich andeuten, dass die Verfasserin unglaublich klug ist, denn sie hat nicht die CDU gewählt. Klugheit gilt in einer Szene, die Statussymbolen wie großen Autos oder teuren Kleidern immer schon kritisch gegenüber stand, besonders viel. Arm darf man sein, aber dumm?

Das Volk ist also dumm, nur weil es nicht die Parteien gewählt hat, welche die intellektuelle Netzelite für sie auserkor. Ich verrate euch ein kleines Geheimnis: Die Mehrheit der Wählerinnen hält uns für völlige Idioten, weil wir irgendwelchen Spinnerparteien hinterher rennen. Klug und dumm sind in der Politik schwer objektivierbare Begriffe.

Schade finde ich vor allem eins: dass die CDU keine Minderheitsregierung bilden kann. Damit könnte sie Geschichte schreiben. Eine Kanzlerin, die das Wagnis eingeht, für ihre Vorhaben im Parlament nach Mehrheiten suchen zu müssen. Eine Opposition, die zwar ordentlich Gegendruck erzeugt, aber bei guten Vorschlägen auch die Größe hat, zuzustimmen, auch wenn die Idee von der falschen Partei kommt. Dummerweise ist der Bundestag viel zu sehr im Lagerdenken erstarrt, als dass er die für das Vorhaben nötige Flexibilität aufbrächte.

Statt dessen läuft alles auf eine große Koalition hin. Die SPD ist viel zu machthungrig, als dass sie dieser Versuchung lang widerstehen könnte. Die Parteispitze schafft gerade Tatsachen, so dass der angebliche Mitgliederentscheid praktisch keine andere Chance hat, als dem zuzustimmen, weil alles Andere die Partei ruinierte.

Freilich ruiniert auch die große Koalition die SPD. Sie hat sich schon einmal vorführen lassen, und ich sehe keine Köpfe in der Führungsriege, die es bei einer Neuauflage anders angehen ließen als zuvor. Auf wie viel Prozent will sich die SPD eigentlich noch zurechtstutzen lassen, bis sie begreift, dass Regierungssessel kein Selbstzweck sind? Diesem Irrtum ist der vorherige Koalitionspartner der CDU auch schon erlegen.

Zurück zur Frage, wo hier die Netzbewegung ins Spiel kommt. Wir können uns natürlich weiter auf das verlegen, was wir ganz toll können: daneben stehen und jammern. Wir könnten uns aber auch auf ein Grundprinzip unserer Verfassung besinnen: Alle Macht geht vom Volke aus. Demokratie lebt von Einmischung. Dazu müssen wir nicht in eine der noch großen Parteien eintreten. Es reicht, wenn wir uns Gehör verschaffen, wenn wir die Leute in diesen Parteien ansprechen, von denen wir uns etwas erhoffen. Nur weil jemand in der meiner Ansicht nach falschen Partei sitzt, muss er nicht völlig für meine Sache verloren sein. So etwas nennt sich Lobbyarbeit.

Manche werden bei diesem Wort zusammenzucken, aber das Wort hat zu unrecht einen so schlechten Leumund. Lobbyarbeit heißt in erster Linie, mit den Leuten zu reden, sie mit Informationen und Argumenten zu versorgen. Ich glaube nicht, dass Netzpolitik für die nächsten Jahre komplett vom Tisch ist. Wir dürfen einfach nicht erwarten, dass sie sich darauf beschränkt, dass wir einmal im Jahr in Berlin ein paar Plakate im Kreis herum tragen.

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