Montag, 30. September 2013

Buchkritik: Little Brother

Marcus ist so, wie man sich einen US-amerikanischen Mittelschichtteenager vorstellt: Intelligent, ein wenig aufsässig, computeraffin und mit einem leichten Hang zu ungewöhnlichen Hobbies. Alle Zeichen stehen darauf, dass, hat er einmal die Klippen der Pubertät umschifft, ihm ein relativ angenehmes Leben in irgendeinem Bürojob bevorsteht. Marcus hat allen Grund, seinem Land zu vertrauen, wurde es doch praktisch für Leute wie ihn geschaffen.

Dieses Vertrauen endet schlagartig, als Marcus und seine Freunde sich zufällig in der Nähe eines Terroranschlags aufhalten und vom Department of Homeland Security aufgegriffen werden. Marcus weiß, wie ein rechtsstaatliches Verfahren aussieht, und weil ihm die verhörenden Beamten dumm kommen, beharrt er auf Einhaltung genau dieser Rechte. Das war ein Fehler.

Tagelang wird Marcus an einem unbekannten Ort festgehalten, verhört und gefoltert. Die Unschuldsvermutung gilt hier nicht mehr, das Recht auf einen Anwalt sowieso nicht. Wenn Marcus unschuldig wäre, argumentieren seine Entführer, könnte er ihnen doch alles über sich und seine Freunde erzählen. Insbesondere könnte er den Zugriffscode zu seinem Telefon herausrücken, damit das DHS nachsehen kann, was er so treibt. Marcus hat tatsächlich nichts zu verbergen, wenigstens nichts, was über klassische Jugendsünden hinaus ginge. Es passt ihm nur nicht, dass er als Unschuldiger seine intimsten Geheimnisse preisgeben soll. Doch schnell wird klar: Der einzige Weg aus dem Gefängnis führt über seine Telefon-PIN. Offiziell ist er verschollen, und das DHS kann diesen Zustand beliebig lang fortsetzen. Nach Tagen der Folter und Demütigung bricht Marcus schließlich zusammen und gibt die gewünschten Informationen.

Er wird freigelassen. Seine Daten beweisen zwar, dass er ein harmloser Junge ist, aber sie beweisen eben nicht, dass er kein Terrorist ist. Das DHS stellt klar: Er ist nur auf Probe aus dem Gefängnis und unter ständiger Beobachtung. Redet er über die vergangenen Tage oder wird in irgendeiner Weise auffällig, wird er erneut verschwinden, diesmal für immer.

Wieder draußen - "frei" kann man den Zustand nicht nennen - trifft Marcus wieder auf seine Freunde, die wesentlich früher zusammenbrachen. Nur Darryl, der beim Tumult nach dem Anschlag schwer verletzt und ebenfalls verschleppt wurde, taucht nicht wieder auf. Niemand weiß, wohin er verschwand.

Marcus reicht es. Das ist nicht das Land, dem er vertraut hat. Hier verschwinden spurlos Menschen, Gesetze gelten nicht mehr, statt dessen werden mittelalterliche Methoden angewandt, die sich inzwischen nicht nur als unmenschlich, sondern sogar kontraproduktiv herausgestellt haben. Schlimmer noch: Die Meisten begrüßen diese Maßnahmen sogar, denn es ist in Zeiten des Terrors völlig angemessen, ein ganzes Volk in Kollektivgefangenschaft zu nehmen, um eine Handvoll Terroristen zu schnappen. Bevor die unsere Verfassung abschaffen, schaffen wir sie lieber selber ab.

Marcus beschließt seinen privaten Rachefeldzug gegen das DHS. Dazu braucht er Verbündete. Er muss sich den Überwachungsmaßnahmen entziehen. Doch wie stellt man das an, wenn selbst der eigene Laptop mit einem Keylogger versehen wurde? Der Ausweg besteht in einer X-Box, deren ursprüngliches Betriebssystem gegen ein besonders gehärtetes Linux ausgetauscht wurde und auf der die wichtigsten kryptografischen Werkzeuge installiert sind.

"Little Brother" liest sich wie eine 400 Seiten lange Cryptoparty. Festplattenverschlüsselung, Tor, Chatverschlüsselung, asymmetrische Mailverschlüsselung, Keysigning - alles kommt vor, ohne dass die Geschichte zu nerdlastig ist. Doctorow beschreibt genau die Beweggründe, warum sich viele zur Zeit mit Kryptografie beschäftigen - zur Verteidigung ihrer Freiheitsrechte, als Notwehr gegen ein komplett aus dem Ruder gelaufenes Überwachungssystem, das die Terrorhysterie längst nur noch als Vorwand benutzt, um ein ganzes Volk nach Auffälligkeiten und Abweichlern durchmustern und sie beseitigen zu können.

Achtung Spoiler - Achtung Spoiler - Achtung Spoiler

Natürlich schafft es Marcus am Ende, sein Ziel wenigstens teilweise zu erreichen, aber er schafft es nicht allein mit technischen Mitteln, sondern indem er an die Öffentlichkeit tritt. Das von ihm gesponnene Vertrauensnetz erweist sich als unterwandert. Seine Gegner wissen schon seit langer Zeit Bescheid und warten nur auf den geeigneten Moment zum Zuschlagen. Der ganze technische Aufwand bot zwar einen gewissen Schutz, aber wenn man die Gesellschaft ändern will, reicht es nicht, ab und zu mit Tor zu surfen.

Spoiler Ende - Spoiler Ende -Spoiler Ende

Es ist lange her, dass ich ein Buch so inspirierend fand. Wenn mich etwas vom Lesen abhielt, war es allenfalls der Drang, am Rechner mit den im Roman angesprochenen Kryptotools herumzuspielen. Doctorow hat für sein Buch sehr gut recherchiert, und die wenigen Details, an denen er technisch nicht ganz korrekt ist, gehen ohne weiteres als künstlerische Freiheit durch. Beängstigenderweise beschreibt er auch die gesellschaftlichen Verhältnisse sehr genau und überspitzt sie nur geringfügig. Er schildert genau, mit welchen Argumenten nicht nur in den USA die Verfassung ausgehebelt wird und schreibt auch, warum diese Argumente völliger Unsinn sind, warum Freiheit und Sicherheit keine Gegensätze sind, sondern einander bedingen.

Wenn euch irgendwann Zweifel kommen, warum ihr diesen ganzen Kryptokram veranstaltet, wenn ihr euch fragt, ob ihr es nicht übertreibt und euer Aktivismus eigentlich völliger Blödsinn ist - lest dieses Buch.

Cory Doctorow: Little Brother, ISBN: 0765319853http://craphound.com/littlebrother/download/

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