Genau so verfahren wir im politischen Diskurs und feiern das sogar noch als Fortschritt.
Zusammenleben heißt, mit Gegensätzen klarzukommen. Es gibt Leute, die Impfen sinnvoll finden, es gibt Leute, die es ablehnen. Es gibt Leute, die Migration begrüßen und solche, die sie ablehnen. Es gibt praktisch niemanden, der den Krieg in der Ukraine gut findet, aber unterschiedliche Auffassungen, wer die Schuld daran trägt und wie dieser Krieg am besten zu beenden ist. Von Israel und Palästina fange ich gar nicht erst an. Natürlich werden teils haarsträubende Argumente angeführt, mit denen zu beschäftigen ich meine Lebenszeit zu kostbar finde. Wenn mir jemand etwas von Mobilfunkmasten erzählt, die Coronainfektionen begünstigen, ist bei mir eine Schwelle des offenkundig Schwachsinnigen erreicht, ab der ich mein Gegenüber als nicht mehr diskursfähig betrachte. Wenn mir aber jemand die Geschichte des Nahen Ostens beschreibt, die vielen militärischen, politischen und religiösen Konflikte, die vielen begangenen Verbrechen und mir auf dieser Basis darlegt, welcher Seite er oder sie zuneigt, mag ich die Argumente anders werten, einige historische Ereignisse unterschiedlich einordnen und bestimmte ethische Haltungen schlicht ablehnen, aber ich kann zumindest anerkennen, dass sich mein Gegenüber mit der Sache beschäftigt hat.
Streiten heißt, das Argument der Gegenseite wenigstens so weit zu akzeptieren, um dessen sachliche Grundlage und die Schlussfolgerungen zu testen. Leider geht uns schon die Bereitschaft, mit der Gegenseite auch nur zu streiten viel zu weit. Wir weigern uns, einander als des Streitens würdig zu erachten. Statt dessen suchen wir uns Kampfbegriffe wie "Covidioten", "Putinversteher", "Schlafschafe" oder "Mainstream" und damit einen Grund, jede sinnvolle Auseinandersetzung von vornherein abzulehnen. Mehr noch: Um gar nicht erst die Möglichkeit eines Dialogs aufkommen zu lassen, disqualifizieren wir das einzige Mittel, welches wir für einen sinnvollen Austausch besitzen: die Sprache.
Sprache kategorisiere, behaupten wir, und damit grenze sie aus. Wer etwas beschreibe, schaffe künstliche Kriterien, blende damit Vielfalt aus, schaffe Denkmuster und steuere damit den Diskurs in eine bestimmte Richtung.
Um die sich um Ethnien und Geschlechter drehenden Themen zu umgehen, wenden wir dieses Argument einmal auf ein wenig vorbelastetes Objekt an: einen Tisch.
Wer den Begriff "Tisch" benutzt, grenzt aus, schafft eine künstliche Unterscheidung zwischen allen Tischen und Nicht-Tischen. Bestimmte Aussagen treffen nur auf Tische zu - was immer darunter genau zu verstehen ist.
Das führt uns zum nächsten Problem: Was genau ist ein Tisch? Eine waagerechte Platte mit vier Beinen? Spontan fallen uns Gegenbeispiele ein: dreibeinige Tische, umgekippte Tische, die ihr Tischsein ja nicht verlieren, nur weil sie auf der Seite liegen. Auch Tische, denen ein Bein fehlt und die deshalb nicht stehen können, sind Tische - defekte Tische. Was ist mit abgesegten Baumstümpfen? Die haben je nach Lesart gar keine Beine oder nur eins. Sind deswegen alle abgesägten Bäume gleich Tische? Ein vom Möbelmarkt gelieferter, aber noch nicht montierter Tisch zählt ebenfalls dazu, ein Stapel Balken und Bretter hingegen nicht. Wo verläuft die Grenze? Fangen Sie gar nicht an zu überlegen. Egal, mit welchem Definitionsvorschlag Sie kommen, irgendwer wird ein Gegenbeispiel finden.
In einer gesunden Diskussionskultur könnten wir uns schnell auf eindeutige Fälle einigen. König Artus' Tafelrunde saß zweifelsohne an einem runden Tisch, ein aufgeblasener Wasserball ist ebenso unbestritten kein Tisch. Irgendwo dazwischen gibt es strittige Objekte, bei denen wir uns im Zweifel einzeln einigen müssen.
So wäre es in einer gesunden Diskussionskultur. Wir hingegen sehen bereits den Umstand, dass Leute einen Begriff einführen und darüber reden wollen, als zutiefst verwerflich an. Statt sich einzugestehen, dass Unterscheidungen in den meisten Fällen helfen, sich in der Welt zurechtzufinden, erheben wir die Zweifelsfälle zum Standard, schließen daraus, dass die Unterscheidung an sich ein Fehler war und belehren fürderhin unser Umfeld, es möge gefälligst "tischlich gelesenes Objekt" sagen, immerhin wisse ja niemand, ob der Tisch nicht eigentlich ein Wasserball ist und das einfach noch niemand erkannt hat. Wir rühmen uns der Ausweitung des Diskursraum auf alle möglichen Ausprägungen eines Spektrums, tatsächlich vernichten wir jede Möglichkeit einer Diskussion, indem wir ihren Gegenstand, die Existenz von Gegensätzen, Unterschieden und Merkmalen nicht nur verneinen, sondern als unmoralisch verdammen.
Orwell beschrieb in seinem Buch "1984", wie der Totalitarismus Sprache so verstümmelt, dass sie als Werkzeug eines kritischen Dialogs nicht mehr funktioniert, schlicht weil ihr die dazu nötigen Vokabeln fehlen. Exakt da sind wir angekommen, und exakt wie bei Orwell bejubeln wir es als Bereicherung.
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