Das ist natürlich Unsinn, denn die Wunder der modernen Medizin ermöglichen es, Pest, Cholera, Keuchhusten, eigentlich alle Plagen der Welt mit einem Fingerschnipp aus der Welt zu schaffen. Weisheitszähne zum Beispiel werden einfach aus dem Kiefer gebeamt.
Diese Zeile erreichte mich soeben durch ein Zeitportal aus dem 23. Jahrhundert. Bei uns im 21. hingegen greifen wir bei der Chirurgie weiterhin auf die Gesetze der klassischen Physik zurück, die da lauten: Gib mir einen Punkt, und ich werde den Zahn aushebeln, und wenn der Zahn nicht zu sehen ist, dann schlitze ich mit einem Messer und fräse mit meinem Bohrer, und dann nehme ich noch einen Bohrer und spalte das Ding, und dann endlich nehme ich den Hebel, um dann mit Schmackes...
Von einer Zivilisation, welche es erstaunlich locker zuwege brachte, mal so eben ein Dutzend Menschen auf einen 384401 Kilometer entfernten leblosen Gesteinsbrocken zu schießen und sie, was noch viel erstaunlicher ist, auch wieder lebendig zurück zu holen, von einer Zivilisation, die mehrere Millionen Transistoren auf der Fläche eines Fingernagels verstaut und das Ganze für ein paar Dollar als Massenprodukt auf den Markt wirft, hätte ich eigentlich erwartet, dass sie einen Weg ersonnen hat, eine 2 * 0.5 * 1 cm große Kalkablagerung mit eleganteren Mitteln als denen des Straßenbaus aus dem menschlichen Schädel zu entfernen. Ich prügle meinen USB-Stick schließlich auch nicht mit einem Holzknüppel aus der Halterung.
Aber nein, die Entfernung der Weisheitszähne scheint das letzte verbliebene Abenteuer unserer übersättigten Spaßgesellschaft zu sein. Hier hat sich im Wesentlichen nicht viel geändert, seit sich unsere Ahnen vor 2.5 Millionen Jahren den ersten Faustkeil zurecht hämmerten. Gut, die Methoden der Anästhesie haben sich verfeinert, aber insgesamt ist die Zunft sich treu geblieben.
Was bringt eigentlich die Bibelfundamentalisten auf die Idee, der Mensch entspränge einem "intelligent design"? Sollte G'tt tatsächlich so ein Pfuscher sein, dass er sich bei der Zahl der Zähne verhaspelt und mehr von ihnen in den menschlichen Kiefer packt, als dort nach den Gesetzen der dreidimensionalen Geometrie Platz haben? Für einen derartigen Schnitzer flöge jeder Student der Ingenieurswissenschaften aus den Grundpraktika, und sowas soll das Werk eines allwissenden und allmächtigen Überwesens sein? Jungs, guckt noch mal in der Bibel nach, das steht da ganz bestimmt nicht so drin.
Das Abenteuer beginnt schon bei der Voruntersuchung, wenn mein persönlicher Halbgott in weiß nach einem kurzen Blick auf ein Röntgenbild meines Schädels sich in meinem Mund einen Eindruck der Lage verschaffen will. „Ja, das sieht wirklich grässlich aus“, murmelt er. „Der muss raus und der auch noch, der hier sowieso... Moment, was ist denn das?“ Er zögert, schaut auf das Röntgenfoto, dann wieder in die Mundhöhle, wieder auf das Foto und dreht es schließlich um. „Hing spiegelverkehrt“, sagt er achselzuckend und sieht sich die andere Seite der Zahnreihen an. „Ja, das sieht wirklich grässlich aus. Der muss raus und der auch noch, der hier sowieso...“
Wahrscheinlich rüstete uns Mutter Natur deswegen mit so vielen Zähnen aus, damit noch ein paar übrig bleiben, wenn der Zahnarzt links und rechts verwechselt. Doch wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein. Immerhin leben wir in einem Land, in dem 104% der Autofahrer auf der A1 die linke mit der rechten Fahrspur verwechseln. Da kann man schon mal ein Foto falsch herum aufhängen.
Mit wieder gewonnenem Vertrauen in die Kunstfertigkeit der Chirurgenzunft sitze ich also am Tag der Operation wieder im Behandlungszimmer. Das Zentrum meiner Hoffnungen und Wünsche betritt den Raum, betrachtet das Röntgenbild, greift zur Betäubungsspritze und nimmt mit sicherer Hand meiner linken Gesichtshälfte jedes Gefühl. Zufrieden schnappt er sich das Behandlungsbesteck, um die künftige Stätte seines Wirkens zu betrachten. Zögert. Blickt auf das Röntgenfoto. Dann wieder auf mich. „Oh, Da hing wohl das Bild spiegelverkehrt. Macht nichts, hab ja noch genug Spritzen.“ Spricht's und entkoppelt auch die rechte Gesichtshälfte sensorisch von meinem Körper.
Was wäre eigentlich passiert, hätte Kolumbus bei der Ausfahrt aus dem Hafen links und rechts verwechselt? Stünde die Freiheitsstatue dann heute im Wattenmeer vor Husum?
Bei der eigentlichen Zahnentfernung hätte Alfred Hitchcock das Buch geschrieben haben können. Wir erinnern uns: Der Altmeister verzichtete in der Regel auf die explizite Darstellung des Schreckens, sondern ließ durch geschickte Andeutungen den eigentlichen Krimi im Kopf der Zuschauer abspielen. Ähnliches passiert, wenn man auf dem Rücken liegend zwei maskierte Menschen mit obskuren Gegenständen in der Hand über sich gebeugt sieht, im Schädel es kreischen, knirschen und knacken gelegentliche Sätze wie "Hm, der bricht nicht so, wie ich es mir vorgestellt habe" "Ich seh nichts vor lauter Blut" oder "Sind Sie sicher, dass alles draußen ist?" hört. Selbstzweifel werden laut. Mein junges, zartes Leben, noch kaum gelebt und ich Narr gab es diesem Barbaren in seine latexüberzogenen Hände. Letzte Zweifel am Irrsin des Unternehmens werden beseitigt, wenn mitten während der Behandlung die Helferin mit einem Blick auf die Akte die Frage an den Patienten richtet: "Sagen Sie, haben wir Ihren Namen eigentlich richtig aufgenommen? Mir kommt die Schreibweise so komisch vor." Was glaubst du von jeder westlich-abendländischen Bildung verschonte PISA-Amnesie eigentlich, wie die menschliche Lauterzeugung funktioniert? Mit deiner bis zum Gelenk in meinem Mund versenkten Hand? Soll ich vielleicht noch zur allgemeinen Erheiterung ein paar Zeilen Goethe rezitieren? Wenn ich nicht gerade mit meiner eigenen Nahtoderfahrung beschäftigt wäre, spränge ich auf, stopfte dir dein abgewetztes Klemmbrett in den Rachen und hieße dich, Wagners "Walküren" zu singen - mal sehen, wie du dich anstellst. So hingegen mobilisiere ich meine sämtlichen Kenntnisse der Jedi-Kunst und versuche, meine Gedanken in dein retardiertes Hirn zu senden: "Nein, du dummes Geschöpf, ich wurde alphabetisiert, als deine Eltern noch nicht einmal alt genug waren, um sexuelles Interesse aneinander entwickeln zu können, und nach einem abgeschlossenen Universitätsstudium schaffe ich es - mit Mühe zwar, aber immerhin - meinen Namen auf Anhieb richtig zu schreiben. Das mag bei der momentanen Qualität unserer Grundschulen überraschen, aber zu meiner Zeit wurde auf sowas erfolgreich Wert gelegt."
Während ich mich noch in Betrachtungen ergehe, woher Kafka wohl die Ideen seiner Geschichten bezogen hat und zum Ergebnis komme, Zahnarztbesuche müssten definitiv dazu gehört haben, merke ich, wie die ganze zuvor in meinem Mund verstaute Altmetallsammlung blutbeschmiert aus meinem Mund heraus gekramt und mein Mund mit einem schlürfenden Geräusch ein letztes Mal ausgesaugt wird. Eine Hälfte meines Gesichts rebelliert, die andere scheint sich auf immer aus meiner Wahrnehmung verabschiedet zu haben. Meine verbliebenen grobmotorischen Fähigkeiten schaffen es, mich aus dem Behandlungszimmer auf die Straße und irgendwie nach hause zu bringen. Mein Blickfeld ist verengt, ich mahne mich: "Geh nicht auf das helle Licht zu." Langsam kehrt auch wieder Gefühl in meinen Schädel zurück, es sagt: "Bedenke, dass du sterblich bist. Wie sterblich genau, das werden dir deine anschwellende Wange und ein schabender Schmerz in den kommenden Tagen vermitteln."
Inzwischen sieht meine rechte Gesichtshälfte nicht mehr ganz so aus wie Helmut Kohl beim Saumagenkauen, ich kann ohne Beschwerden reden und sogar schon ansatzweise feste Nahrung zu mir nehmen. Dieser Kieferchirurg ist ein Magier, ein Prophet, ein Gott! Gepriesen sei sein Handwerk! Nur noch ihn will ich an meinen kostbaren Körper lassen, den er so kunstvoll behandelt. Kaum erwarten kann ich den Moment, mich wieder vertrauensvoll in seine Hände zu begeben, auf dass er mir die Fäden ziehe, die er in meinen Mund genäht.
Wehe, wenn da irgendwas schief geht.
4 Kommentare:
_Absolut_ genial geschrieben :D ...
Und gute Besserung ;) ...
Gute besserung wuensche ich auch!
Und alle aengstlichen leser, die ebenfalls noch weisheitszaehne zu viel haben, und dazu auch noch ca. €400,- eruebrigen koennen, moechte ich auf das IMHO in solchem falle entscheidende wunder der modernen medizin hinweisen: die vollnarkose! Hinsetzen, einschlafen, aufwachen, nach hause gehen! Ok, nach hause fuehren lassen ist kreislaufbedingt besser als alleine gehen, und es empfiehlt sich natuerlich auch eiswuerfel etc. vorzubereiten und ausgiebig zu nutzen. Dazu kamillentee. Kleine schmerztablette fuer alle faelle ist sicher auch nicht verkehrt. Aber das sind details, wenn man bedenkt, dass einem die komplette tortur inkl. aller grusel-erinnerungen erspart bleibt. Ich glaube auch, dass ein chirurg, der keine ruecksicht auf die akuten befindlichkeiten seines wimmernden opfers nehmen muss, effizienter, schneller und besser arbeiten kann. Fuer mich war dies jedenfalls das am besten angelegte geld aller zeiten. Wenn man's runterrechnet waren es ja auch nur noch 100,- pro zahn - ein schnaeppchen!
Alles gute,
rob
PS: wegen fehlender anonymer kommentiermoeglichkeit nehm ich mal irgend so einen google-muell-account, einfach ignorieren, mails werden vermutlich nicht gelesen.
Hallo Rob, danke für den Hinweis. 400 Euro sind natürlich auch nicht gerade wenig Geld, aber dann hat man es wenigstens hinter sich.
Danke auch für den Hinweis bei der Kommentarfunktion. Dass man ein Google-Konto haben muss, um hier kommentieren zu können, war mir nicht klar, und ich finde es albern. Deswegen habe ich jetzt anonyme Kommentare zugelassen und warte ab, was passiert.
Ja, sind quasi 800DM, was fuer ca. eine stunde arbeit schon ganz ordentlich ist (keine ahnung was das "material und werkzeug" kostet). Andererseits ist anaesthesie auch wirklich kein bereich in dem ich fuer dumping-loehne plaedieren wuerde, da hat qualitaet schon prioritaet und die hat bekanntlich ihren preis. Moechte ja nicht beim naechsten mal mit einem hirnschaden aufwachen oder mitten in der OP ;-)
Alles gute,
rob
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