Sonntag, 25. Dezember 2016

Die Mär von der mutigen Überwachungskamera

Ein NDR-Kommentator brachte es auf den Punkt: Wir können nicht Weihnachtsmärkte in Festungen verwandeln. Es gibt einfach zu viele, als dass man sie schützen könnte, sie müssen beliefert werden, weswegen die hastig angekarrten Betonpoller nur bedingt hilfreich sind, und selbst wenn sie hülfen: Wenn die Weihnachtsmärkte abgebaut sind, bleiben die Fußgängerzonen und Strandpromenaden. Let's face it: Wer mit einem LKW in eine Menschenmenge hineinfahren will, wird das auch künftig können. Es gibt keinen Schutz.

Das will der obrigkeitsverliebte Deutsche natürlich nicht hören. Der Staat soll mich gefälligst schützen, wozu zahle ich schließlich Steuern?

Ja, wie soll denn dieser Schutz bitteschön aussehen?

Was weiß ich, Kameras meinetwegen. Geanau, Überwachtungskameras, davon brauchen wir unbedingt mehr.

Warum?

Keine Ahnung. Vielleicht, weil vor der Gedächtniskirche keine hingen, aber wenn da welche gehangen hätten, dann wären die aber dazwischengegangen, und wie! Da hätte der Kerl mit seinem LKW keinen einzigen Menschen umfahren können!

Äh, nein.

Mag sein, aber abgeschreckt hätten diese Kameras. Der hätte sich mit seinem entführten LKW niemals getraut, die Leute zu töten!

Äh, doch.

Na gut, aber wenn er dann die Tat begangen hat, kann man ihn viel schneller identifizieren und auffinden!

Sie haben seinen Ausweis in der Fahrerkabine gefunden. Ganz ohne Kameras.

OK, aber als Steuerzahler habe ich ein Recht auf ordentliche Anschlagsvideos, nicht so ein verwaschenes Zeug wie bisher. Mein Fernseher kann 1080p, da ist es wohl nicht zu viel verlangt, wenn ich in full HD sehen kann, wie die Leute umgefahren werden. Am besten live. Aus drei verschiedenen Perspektiven.

Vielleicht geht es wirklich darum.

Update:

Seit einigen Tagen kursiert ein Video, das zeigt, wie ein Zweijähriger seinen unter einer umgestürzten Kommode Bruder rettet. Die sich spontan stellende Frage lautet: Wieso existiert dieses Video überhaupt? Haben die Eltern jeden Realtitätsbezug verloren und ihr in Lebensgefahr schwebendes Kind gefilmt, statt ihm zu helfen? In gewisser Weise ja. Das Video stammt von der "Sicherheitskamera" im Kinderzimmer - die ganz offenkundig nicht für Sicherheit gesorgt hat. Weder hat sie verhindert, dass die Kommode umkippte, noch hat sie das Kind unter der Kommode hervorgezogen. Das Einzige, was sie schaffte, ist ein Video aufzunehmen, das man jetzt auf Youtube bestaunen kann, um den Voyeurismus der Massen zu befriedigen und sich seine Viertelstunde Berühmtheit zu verschaffen.

Dienstag, 20. Dezember 2016

Bewundert mich, ich bin betroffener als ihr!

Wahrscheinlich wäre es gar keine schlechte Idee, im Fall von emotional aufwühlenden Ereignissen bei Twitter einen Verzögerungsschalter einzubauen, der jedes Posting für 24 Stunden puffert und danach den Verfasser fragt: "Hömma Kumpel, jetzt nachdem du eine Nacht darüber geschlafen hast, willst du den Schwachsinn wirklich immer noch posten?" Der Welt bliebe vieles erspart.

Es geht mir nicht um diejenigen, die einfach nur ehrlich entsetzt sind und um Worte ringen. Es geht mir um diese Typen, die unbedingt noch eine Schippe drauflegen, die aller Welt zeigen müssen, dass es nur eine Person gibt, die das Ergeignis so richtig mitnimmt, die noch wirkliche, wahre, reine, fast möchte ich sagen: reinrassige Emotionen hat. Schaut her, habt mich lieb, ich bin viel wichtiger als die 12 Toten, retweetet mich, favt mich!

Ein besonders schönes Beispiel für das selbstverliebte Aufmerksamkeitsgeheische drehte seine Runden unmittelbar, nachdem die ersten Reportagen vom Tatort gesendet waren. Da hatte nämlich ein ganz Eifriger besonders gründlich hingesehen und entdeckte im Hintergrund eines Reporters stehend einen jungen Mann, dem Aussehen nach nicht mit gültigem Arierausweis, der dem Anschein nach in sein Mobiltelefon spricht und - DABEI LÄCHELT!

UNFASSBAR! Da gibt es einen Führerbefehl vom Reichsemotionsamt, der nicht nur jedwede Gesichtsregung außer "Merkel beim Essen einer Zitrone" verbietet und dieser, sagen wir's doch ruhig: MUSELMANN besitzt die infame Frechheit, im Angesicht des Schreckens sich der von der Twitter-Empöreria verordneten Staatstrauer zu widersetzen.

So, und jetzt einmal ganz langsam für die Leute, deren IQ leider nur zum CDU-Wählen gelangt hat. Erstens: Woher wisst Ihr, dass das Bild überhaupt echt ist? Noch gestern krakeeltet ihr herum, Fake-News seien ja so wahnsinnig schlimm, die gehörten verboten, das Netz zensiert, die Täter schärfstens bestraft, aber kaum passt es euch in euer verqueres Weltbild, leitet ihr blind jeden Quatsch weiter. Klar, natürlich ist das Foto echt, so ist er halt, der Muselmann. Den freut es doch, wenn Ungläubige umkommen.

Selbst, wenn das Bild echt sein sollte: Habt ihr euch mal den Kontext angesehen? Was geschah in den Sekunden vor und nach der Aufnahme? War der Kerl vielleicht völlig fertig mit der Welt, weil er das alles miterlebt hat, und wird gerade von seiner Freundin mühsam wieder aufgebaut? Hat der Poster vielleicht den einen Frame getwittert, auf dem der Mann kurz gelächelt hat?

Woher wisst ihr, worüber er telefoniert? Habt ihr zugehört? Was maßt ihr euch an, anderen Menschen Emotionen vorschreiben zu wollen? Habt ihr noch nie davon gehört, dass Menschen zu den absurdesten Reaktionen neigen, wenn sie unter Schock stehen? Ihr jammert herum, wenn die Kirche am Karfreitag Tanzveranstaltungen verbietet, aber wenn es um eure eigenen Befindlichkeiten geht, sind die Taliban im Vergleich zu euch liberal. Nein, Differenzierung, zweimal nachdenken, bevor man einmal postet, das ist euch zu kompliziert. Schnell den Tweet rausschicken, mit ein bisschen Glück schafft man es damit auf irgendeine Twitterwall und hat dort seine 10 Sekunden Ruhm.

So wichtig soziale Medien bisweilen auch sein können, so unerträglich sind sie in solchen Momenten auch.

Montag, 19. Dezember 2016

Wir brauchen mehr schwachsinnige Forderungen!

Am gestrigen Abend fuhr auf einem Berliner Weihnachtsmarkt ein LKW in eine Menschenmenge. Mehrere Menschen wurden verletzt oder getötet. Zur Zeit ist über Täter und Hintergrund nur wenig bekannt, aber ich wage dennoch eine Prognose, was in den nächsten Stunden von den üblichen Wichtigtuern gefordert wird:

  • mehr Überwachungskameras
  • schnellere Strafverfahren und härtere Strafen
  • Ausweitung der Vorratsdatenspeicherung
  • strengere Kontrolle des Internets
  • schärfere Maßnahmen gegen Fake-News
  • Einsatz der Bundeswehr im Inneren
  • vereinfachter Datenaustausch zwischen Polizei und Geheimdiensten

Was garantiert niemand fordern wird, obwohl es in die gleiche Logik passt:

  • Verschärfung der StVO
  • Härtere Strafen für Verkehrssünder
  • Strengere Führerscheinprüfungen
  • Tempo 30 in Innenstädten

Samstag, 26. November 2016

In der Liebe und im Cyber sind alle Mittel erlaubt

Manchmal ist es sehr einfach, den Grad an Bullshit einer Politikeräußerung zu messen. Ein guter Indikator ist das Vorkommen des Worts "cyber". Bei Thomas Oppermann sind es 3 auf 138 Worte. Die Redaktion benutzt im umgebenden Text das Wort weitere sechs mal. Die Wahrscheinlichkeit, dass weder Journalisten oder Oppermann selbst wussten, wovon sie reden, lag also bei etwa 0,9 Hanspeter auf der nach oben offenen Friedrich-Skala, umgerechnet 1 Schieb.

Im vorliegenden Fall ging es um die Frage, ob Wahlen in Deutschland durch soziale Medien, genauer: durch Bots und gezielte Falschmeldungen manipuliert werden können. Die Antwort lautete: Ja, und Oppermann will etwas dagegen unternehmen. Unklar hingegen ist, wie genau er sich das vorstellt.

In eine ähnliche Richtung ging wenige Tage zuvor die Initiative der Kanzlerin. Sie spricht deutlicher aus, was Oppermann noch hinter nebulösem Geschwafel verbarg: Netzregulierung. Das klingt doch gleich viel netter als Zensur.

Nun ist es nicht so, als sei Zensur hierzulande etwas völlig Neues. In gewissem Umfang ist sie sogar gesellschaftlich akzeptiert, beispielsweise bei der Leugnung des Völkermords im Dritten Reich, bei Volksverhetzung, Verleumdung, übler Nachrede und Beleidigung. Es ist also nicht so, als gäbe es keine Gesetze gegen solche Äußerungen und als fänden diese Gesetze keine Anwendung. Das scheint aber einigen Leuten nicht zu reichen.

Es ist eine eigenartige Allianz: Auf der einen Seite Analogpolitiker, deren Sozialisationsphase in einer Zeit liegt, zu der Computer ganze Hallen füllten, Senso als High-Tech-Spielzeug galt und die alles seit Erfindung der Glühlampe für Teufelszeug halten. Auf der anderen Seite Netzaktivisten, die souverän alle technischen Neuerungen benutzen und vehement die Freiheit im Netz verteidigen - so lange es ihre eigene Freiheit ist.

Richtig klar zu sein scheint sich im Moment niemand, was genau man bekämpfen will und worin die Gefahr besteht. Was versteht Merkel unter "Falschmeldungen"? Jede Satireseite liefert ausschließlich verzerrte und überspitzte Darstellungen. Seiten wie der Postillon erzielen ihre gesamte Komik in scheinbar seriösen Nachrichten, die sich erst bei genauerer Betrachtung als Unsinn herausstellen. Will man solche Seiten jetzt verbieten, weil irgendwelche Volltrottel zu blöd sind, Humor von Wahrheit zu unterscheiden? Wer will die Grenze ziehen zwischen Satire und manipulativer Meinungserzeugung? Erinnert sich noch irgendwer an das Böhmermann-Gedicht, bei dem die Republik wochenlang darüber stritt, ob das pennälerhaft dumme Geschreibsel Kunst oder plumpes Gepöbel war? So sehr ich das Gedicht ablehne, so froh bin ich auch, dass die Klagen gegen Böhmermann bislang sämtlich gescheitert sind. Staatschefs müssen es aushalten, gelegentlich ruppiger angegangen zu werden.

Unklar ist auch, wie man gegen stimmungserzeugende Bots vorgehen möchte. Bots zu programmieren, ist kein Hexenwerk, und schaltet man den einen Bot ab, schaltet der Angreifer eben den nächsten an. Ich wüsste nicht, wie man gegen solche Techniken vorgehen will - außer eben mit Zensur, und ich fürchte, genau das wollen Leute wie Oppermann und Merkel.

Die Schwierigkeit liegt unter anderem in Begriffen wie "Hatespeech", die alles abdecken von strafrechtlich relevanten Beleidigungen bis hin zu "Argumente fand ich immer schon doof, deshalb werfe ich mich weinend auf den Boden, wenn jemand anderer Meinung ist und schreie was von Triggern". Um die Zustimmung der "digital Natives" zu bekommen, erzählen die Internetausdrucker also gerne was von "Hatespeech", worauf die Natives begeistert nicken, geht es doch endlich den fiesen Hatern an den Kragen. Gemeint ist aber tatsächlich das, was China mit dem schönen Begriff "Harmonisierung" meint: Wenn wir das Internet schon nicht abgeschafft bekommen, sorgen wir wenigstens dafür, dass dort nur heile Welt herrscht, dass nur das zu lesen ist, was uns in den Kram passt und dass die Leute ansonsten schön brav bei Amazon lauter teuren Krempel bestellen. Davon merken die Natives freilich am Anfang noch nichts, und wenn sie es merken, ist es zu spät.

"Zensur? Wer redet denn hier von Zensur? Wir wollen keine Zensur, wie kommt ihr denn darauf?"

Deswegen.

Mittwoch, 23. November 2016

Scheindemokratische Präsidentenausrufung

Wenn man den Zustand der deutschen Sozialdemokratie in einem Satz beschreiben möchte, könnte es dieser sein: Dicke, alte Oligarchen inszenieren mit großer Geste längst vergangene Tages des Ruhms. Ja, man mag es kaum glauben, vor dreißig Jahren hatte diese Partei noch so etwas wie Relevanz. Sie sah sich nicht als Erfüllungsgehilfin und Mehrheitsbeschafferin der CDU, sondern sie vertrat, man höre und staune, Arbeitnehmerpositionen. Sie setzte sich für Menschenrechte ein, ja sogar ab und zu für Datenschutz.

Dann kam Frank Walter Steinmeier.

Man muss ihm zugute halten: Er hat Format. Er hat Kompetenz. Er ist nicht eine der Witzfiguren, mit der die SPD reichlich ausgestattet ist: bräsig wie Scharping, peinlich wie Andrea Nahles, aber hey, mit Studium in Politologie oder Geschichte oder Jura. Das Dumme ist nur: Sein politisches Handeln hat keinen Bezug zu den Werten, die er mit viel Pathos immer wieder hochhält. Er hat dafür gesorgt, dass ein Unschuldiger jahrelang in einem völkerrechtswidrigen Gefängnis festgehalten wird. Er als Architekt der Hartz-IV-Gesetze für den Abbau des Sozialstaats gesorgt. Er ist verantwortlich für die massenhafte Datenweitergabe an die NSA. Dafür kommt man hierzulande nicht ins Gefängnis, sondern ins Schloss Bellevue. Seien wir ehrlich: Da haben schon deutlich schlechtere Leute gesessen.

Peinlich ist auch weniger, dass im Rahmen des Berliner Postengeschachers ein zweifelhaft beleumundeter Politiker Bundespräsident wird. Peinlich ist, wie verzweifelt man den Schein zu wahren versucht, hier sei auch nur ansatzweise Demokratie im Spiel.

Das geht schon mit dem Ausgeklüngel los. Gauck wollte nicht mehr, also brauchte die Union einen Kandidaten, hatte aber nichts Ordentliches zu bieten, weil die wenigen Fähigen, die Merkel noch nicht weggebissen hat, noch keine Lust haben, sich ins Altenteil zu verabschieden. Gleichzeitig musste die SPD den Schein erwecken, in der Großen Koalition irgendwas zu melden zu haben. Weiterhin musste Gabriel einen lästigen Konkurrenten um die Kanzlerkandidatur loswerden. Also brachte er Steinmeier ins Spiel. Demokratische Entscheidungswege spielten hier keine Rolle, sodern allenfalls die Fähigkeit, gut Poker zu spielen.

Der zweite Schritt war, naja, sagen wir ungeschickt. Der kommende Bundespräsident hat nämlich ein Buch geschrieben, und sein Verlag kam jetzt auf die grandiose Idee, dieses Buch mit den Worten "das Buch des nächsten Bundespräsidenten" zu bewerben. Seien wir ehrlich: Wenn sich Union und SPD auf einen Kandidaten einigen und nicht einmal die üblichen parteiinternen Stänkerer etwas auszusetzen haben, ist der Mensch gewählt. Welches absurd unwahrscheinliche Ereignis soll bitteschön eintreten, um das noch zu verhindern? Ja, es ist trampelhaft, diese Tatsache verbunden mit klar kommerziellen Interessen auszusprechen, aber es ist wenigstens ehrlich.

Als Drittes kam das ZDF auf die Idee, in einer zweitklassigen Satiresendung auf den Umstand hinzuweisen, dass die Wahl des Bundespräsidenten allein schon wegen des Ausgekungels der Kandidaten aber eben auch wegen der fischigen Zusammensetzung der Bundesversammlung bestenfalls inszenierte Demokratie, in Wirklichkeit jedoch ein abgekartetes Spiel ist.

Da tobte aber die spezialdemokratische Volksseele, die traditionell äußerst dünnhäutig auf Kritik reagiert. Ihren Frank Walter so fies anzugehen, das grenze ja fast an, an... naja, also mindestens Majestätsbeleidigung. Das war angesichts des Amts, um das es geht, inhaltlich falsch. Gemeint war natürlich Gotteslästerung.

Schauen wir uns einmal an, wie sich die Bundesversammlung zusammensetzt. Da wären zum Einen die Mitglieder des Bundestages. Von denen kann man sagen, dass sie mit einem direkten Mandat dorthin geschickt wurden. Hinzu kommt die gleiche Zahl von Mitgliedern der Länderparlamente. Da in den Landtagen mehr Menschen sitzen, als in der Bundesversammlung unterkämen, findet auch hier ein Auswahlprozess statt. Die Mitglieder der Länderparlamente haben also ein indirektes Mandat.

Bis zu diesem Punkt kann man sagen: OK, das verstehe ich noch. Es geht aber weiter: Zu dieser Zahl hinzu kommen (vermutlich auf Kosten von Sitzen, die durch Parlamentarier besetzt werden) Prominente. Vermutlich soll damit der Schein erweckt werden, die Wahl fände durch das Volk statt - was natürlich Quatsch ist. Genau das sieht die Verfassung aus sehr gutem Grund nicht vor. Also kommt eine wild von den Parteien ausgewürfelte Truppe mehr oder weniger bekannter Gesichter in die Bundesversammlung, und woher die ihr Mandat hat, kann man nur grob mit "nja, da werden ein paar Bundes- und Landtagsabgeordnete der einzelnen Parteien sich mal hingesetzt und was ausgemauschelt haben" beschreiben.

Es ist auch nicht weiter schlimm. Mit Verlaub: Da wird jemand gewählt, dessen vornehmliche Aufgabe in den nächsten Jahren darin bestehen wird, Bänder von Ausstellungseröffnungen durchzuschneiden und nichtssagende Reden zu halten, von denen sich bloß niemand ernsthaft angegriffen fühlen darf. Das haben selbst Horst Köhler und dieser unscheinbare Typ aus Niedersachsen, wie hieß der doch gleich? Ach ja, Christian Wulff, also der hat es jedenfalls auch hinbekommen. Mit den richtigen Beratern im Hintergrund kann da offenbar nicht viel schiefgehen. Da darf die Wahl auch gern eine Inszenierung sein.

Aber nein, das hören die Spezialdemokraten nicht gern. Ihr Kandidat ist ohne Fehl und Tadel, und deswegen erfolgt seine Inthronisierung nur mit den besten Gütesiegeln, die eine Demokratie vergeben kann. Alles Andere ist (und da haben sie brav aufgepasst, womit man derzeit jede Diskussion gewinnen kann) Populismus.

Das wiederum ist genau der Punkt, an dem ich mich frage, ob die SPD-Claqueure irgendwann noch einmal etwas begreifen werden. Offenbar ist die Nazikeule schon so abgenutzt, dass ein neues Wort her musste, und Populismus klingt so schön gebildet. Griechisches Lehnwort, weißte, voll akademisch. Das Dumme ist nur: Damit stellt man allenfalls noch Disziplin unter den eigenen Leuten her. Die anderen sagen sich: Gut, dann bin ich halt Populist, gehe ich doch gleich rüber zu denen, die noch dieses Etikett tragen, zur AfD zum Beispiel. Mit anderen Worten: Der platte Versuch, abweichende Meinungen zum Verstummen zu bringen, treibt die Leute in die Reihen derer, die man doch eigentlich zu bekämpfen beabsichtigt.

Reife Leistung, SPD.

Sonntag, 20. November 2016

Medienkompetenz

Langsam hat sich herumgesprochen, dass die Wahl tatsächlich gelaufen ist und der wahrscheinlich ungeeignetste Kandidat der Geschichte der Vereinigen Staaten neuer Präsident wird. Ich habe ja die Theorie, dass die Ära der durchgeknallten Autokraten mit bescheuerten Frisuren angebrochen ist: Trump, PutinOrban (na gut, dessen Frisur geht halbwegs), Erdogan (auch hier: Frisur OK, aber der Rest?), Boris Johnson, Kim Jong Un, Kaczynski, Seehofer - wen wollt ihr noch? Sigmar Gabriel? Boris Becker? Passt auf, die Typen, die in der Schule wegen ihres Aussehens bis zum Abitur keine Freundin abkriegen, kompensieren das später und werden Regierungschefs. Ich an eurer Stelle wäre vorsichtig, wen ich als Kind veräpple. Sowas rächt sich.

Die Frage ist: Wie geht es weiter? Die Antwort lautet: Mit Protest. Ich will niemandem zu nahe treten, aber: Das hat bisher super funktioniert. Es ist nicht so, als hätten wir nicht auf allen medialen Kanälen herumposaunt, was für eine Pfeife dieser Trump ist und dass man den überall hinschicken soll, nur nicht ins Weiße Haus. Jetzt guckt mal, wer da sitzt.

Dass die Demokraten irgend einen Fehler begangen haben könnten, ist absurd. Das weisen liberale Internetintellektuelle weit von sich. Nicht die Linken haben versagt, ihre Wähler zu mobilisieren, nein die Rechten haben sich erdreistet, wählen zu gehen.

Geht es darum, die Ursachen für die eigene Misere zu finden, sind die linken und rechten Erklärungsansätze verblüffend ähnlich. Erstens: An uns liegt's nicht. Wir sind Opfer. Zweitens: Man ist uns in den Rücken gefallen. Bernie Sanders, der fiese Hund, hat die Stirn besessen, Hillary Clinton nicht ausreichend enthusiastisch zu unterstützen, nachdem sie ihn mit zweifelhaften Tricks ausgebootet hat. Na, ruft jetzt irgendwer "Dolchstoß"?

Drittens: Die Medien. Auch die haben die Göttlichkeit der Kandidatin nicht genügend herausgestellt, sondern sich in kleinlicher Weise darüber darauf konzentriert, ob es nicht ein wenig stümperhaft ist, die Staatsgeheimnisse des mächtigsten Lands der Welt auf einem selbstgehosteten Server abzulegen - was darüber hinaus auch noch schief ging. Alles nicht wahr! Das sind doch alles nur Kampagnen der republikanisch gesteuerten Lügenpresse!

Wir fassen zusammen: Verschwörungstheorien und Realitätsferne ist es nur, wenn es die Gegenseite bringt. Von uns hingegen kommt nur die Wahrheit, die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit.

Zeit, einen Begriff in die Runde zu werfen, den es seit Jahrzehnten gibt, der aber offenbar spurlos an vielen Menschen vorbeigegangen ist: Medienkompetenz.

Ihr müsst jetzt ganz tapfer sein, denn das Folgende wird euch nicht gefallen:

Dinge sind nicht notwendigerweise wahr, weil sie in diesem Internet stehen.

Da steht, die Erde sei eine flache Scheibe: falsch! Um das einzusehen, braucht ihr nur einen Tag am Strand und klare Sicht.

Da steht, es hätte niemals Dinosaurier gegeben, gern verbunden mit der Behauptung, es gäbe keine Evolution und die Erde sei gerade einmal 5000 Jahre alt: Blödsinn!

Das erfundene Mittelalter, die gefälschte Mondlandung, die Protokolle der Weisen von Zion: Bullshit! Gerade aber, was das Gefasel von der jüdisch-zionistischen Weltverschwörung angeht: gefährlicher, tödlicher Bullshit. Mit solchem Zeug rechtfertigt man Völkermorde.

Schon seit einiger Zeit überlegen sich die Leute, wie man gegen solche Dinge vorgehen kann. Der neueste Ansatz stammt von Facebook-Chef Mark Zuckerberg. Sein Unternehmen steht in der Kritik, Hatespeech zu verbreiten (was immer genau auch unter diesem Begriff verstanden sein mag), und nach der verlorenen Präsidentenwahl wurde Facebook als einer der Schuldigen identifiziert, angeblich, weil von dort ein Großteil der Verleumdungen gegen Clinton kam und zu ihrer systematischen Demontage beitrugen. Das soll sich jetzt ändern. Zuckerberg hat sich genau überlegt, wie er künftig gegen Falschmeldungen vorgehen will.

Mit anderen Worten: Der größte Medienkonzern der Welt, der mehr Kunden hat als China Einwohner, entscheidet künftig, was wahr ist und was falsch. Wenn ihr künftig eure Timeline lest, könnt ihr sicher sein, dass das dort Geschriebene wahr ist, geprüft vom Ministerium für Wahrheit daselbst.

Katharina Nocun hat kürzlich noch einmal darauf hingewiesen, dass Überwachungs- und Zensurinfrastrukturen auch dann bedenklich sind, wenn sie in den Händen derer liegen, denen wir vertrauen - weil Regierungen wechseln. Wir haben das unter der Obama-Präsidentschaft erlebt: Naja, Drohnenkriege, NSA-Totalüberwachung, Völkerrechtsverstöße in Guantanamo - alles halb so wild, denn der Präsident kann ja so lustige Witze reißen, und außerdem hat er die Krankenversicherung eingeführt. Die reißt alles raus. Tja, nun heißt der US-Präsident ab Januar dummerweise nicht mehr Obama, sondern Trump, und jetzt geht auch den naivsten US-Demokraten auf, dass die Geister, die sie riefen, sich wohl bald gegen sie wenden können.

Für die anstehenden Facebook-Säuberungen heißt das: Selbst wenn man Zuckerberg die besten Absichten unterstützt, fällt es schwer zu glauben, dass sein Plan funktioniert. Zu schwammig sind die Grenzen zwischen seriöser Nachricht und Satire, zwischen Überspitzung und blindem Herumgekeife. Seien sie sicher: Die Gefahr liegt nicht in den offensichtlichen Fällen, sie liegt in den Graubereichen. Um bei meinen eingangs genannten Beispielen zu bleiben: Es gibt seitenlange Artikel, die ausführlich begründen, warum die Mondlandung nie stattgefunden hat und die Evolution eine Erfindung gotteslästerlicher Atheisten ist. In den USA war Kreationismus zumindest zeitweise Unterrichtsstoff und wurde als gleichberechtigte Lehre zur Evolutionstheorie gelehrt. Wer versucht, entsprechende Artikel bei Facebook zu löschen oder wenigstens als unwahr zu kennzeichnen, bekommt die geballte Macht der religiösen Fanatiker zu spüren, von denen nicht wenige Republikaner wählen, und - hoppla, die sind ja an der Macht.

Wir haben erlebt, wie souverän Trump mit Kritik umgeht. Sollte es da nicht wundern, wenn der Präsident seine Finger bei sich behielte und keinen Versuch unternähme, auf die Einteilung Einfluss z nehmen, was bei Facebook wahr und was falsch, was lesenswert und was zu löschen ist? Wer garantiert, dass die Evolutionstheorie nicht bald bei Facebook als verdammenswerte Irrlehre von den Seiten verschwindet?

Viele mögen es bedauern, aber wir haben nun einmal nicht mehr die Achtzigerjahre, in denen drei Fernsehsender, drei Radiostationen und eine Handvoll Zeitungen uns mit Nachrichten versorgten. Es gab ein Informationsoligopol, aber wir konnten relativ zuverlässig sagen, dass die so publizierten Neuigkeiten einer gewissen Vorkontrolle unterlagen und wahrscheinlich einigermaßen den Tatsachen entsprachen. Natürlich gab es auch "Bild", aber wenn man deren Falschmeldungen nicht lesen wollte, kaufte man sie einfach nicht.

Das ist heute anders. Natürlich gibt es auch heute eine Reihe von Internetseiten, deren Nachrichten man trauen kann, aber wenn die Meisten ihr Wissen ihrer Facebook-Timeline entnehmen, wird es schwierig, richtige von falschen Meldungen zu trennen, weil der Freundeskreis eben nicht jedes Posting auf ihren Wahrheitsgehalt untersucht, sondern das weiterleitet, was ihm interessant erscheint. Ist Facebook daran schuld? Muss Facebook deswegen dafür sorgen, dass wir nur qualitätsgeprüfte Postings zu Gesicht bekommen?

Noch einmal: Wir sind nicht mehr in den Achtzigern, und wir sollten in den vergangenen 30 Jahren gelernt haben, mit der sich ändernden Medienlandschaft umzugehen. Gerade wenn uns eine Nachricht so richtig aufwühlt, sollten wir vorsichtig werden. Ist diese Meldung nicht vielleicht etwas zu sensationell, passt sie nicht etwas zu gut in das, was wir immer geahnt haben? Woher kommt die Meldung? Haben nur Timmi und Babsi das Posting gefavt oder gibt es irgendeine ernsthafte Quelle? Ernsthaft - also nicht Reddit, Twitter oder Tumblr, sondern irgendeine Nachrichtenseite. Was steht sonst noch auf dieser Seite? Ist sie vielleicht nicht gar so seriös, wie es auf den ersten Blick den Anschein hatte?

Es ist mir offen gesagt etwas unangenehm, solche Selbstverständlichkeiten aufschreiben zu müssen, denn eigentlich sollte so etwas zu den Grundtechniken der Nachrichtenrezeption gehören.

Genau dafür gibt es Schulen.

Schulen sind die Orte, an denen ihr gelernt haben solltet, Dinge nicht einfach blind zu glauben, Quellen zu hinterfragen und eigene Recherchen anzustellen. Man hätte euch für Referate, in denen ihr einfach den Wikipediaartikel ausgedruckt und ohne ihn verstanden zu haben abgelesen habt, so lange in die Schulbibliothek einsperren sollen, bis ihr mit etwas herauskommt, was vielleicht nicht ganz so geschliffen daher kommt, bei dem ihr aber jeden einzelnen Satz verstanden habt und belegen könnt.

Ich weiß nicht, was schief gelaufen ist, ob ihr wieder einmal den akademischen Bodensatz als Lehrer vorgesetzt bekamt oder einfach die ganze Zeit nicht aufgepasst habt, aber dann holt ihr es eben jetzt nach. Seid misstrauisch. Glaubt Dinge nicht einfach, nur weil sie euch so gut in den Kram passen. Geht Dingen auf den Grund. Lautstärke und Holzhämmer sind gute Unterhaltung, aber keine Argumente.

Vielleicht erspart ihr uns so Frauke Petry als Innenministerin.

Samstag, 19. November 2016

Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf

Es war der 15. August 1989. Erich Honecker redet bei der Vorstellung eines 32-Bit-Chips. Mit der DDR steht es nicht zum Besten. Die seit Jahren vor sich hin köchelnde Oppositionsbewegung gewinnt langsam an Stärke. Noch ist nichts kritisch, aber es scheint Zeit für ein paar aufmunternde Worte und so zitiert der Staats- und Parteichef einen Satz, den er fälschlich August Bebel zuschreibt, der aber schon seit dem Jahr 1886 kursiert: "Den Sozialismus in seinem Lauf / hält weder Ochs noch Esel auf."

Drei Monate später ist der Sozialismus Geschichte.

Eine Karikatur aus dieser Zeit bringt die Situation auf den Punkt: Der Sozialismus rast auf den Abgrund zu, und weder Ochs noch Esel werden dumm genug sein, sich dem in den Weg zu stellen.

Ungefähr so erscheint mir die linke Reaktion auf die Wahl Trumps.

Natürlich gab es Stimmen, die eine Kursänderung forderten. Stimmen, die verlangten, aus Fehlern zu lernen, zu überlegen, warum man zu wenig Menschen mobilisieren konnte und wie man den schon gefährlich nah am Abrund taumelnden Karren im letzten Moment noch herumreißen kann.

Das aber hieße, von liebgewonnenen Gewohnheiten, bequemen Denkmustern und heiligen Dogmen Abschied zu nehmen. Dinge zu ändern. Doch in diesem Punkt sind die sich selbst progressiv Nennenden erstaunlich konservativ.

Alles lief richtig, lautet das Credo. Wir hatten eine tolle Kandidatin, hervorragende Argumente,eine perfekte Kampagne. Der Trump aber, der miese Hund, der ist ein ganz gemeiner Populist. Es mag ja sein, dass er gewonnen hat, aber das war total unfair. Moralisch gesehen sind wir die Sieger. Sich jetzt zu überlegen, wie man einen moralischen in einen Wahlsieg ummünzt, sei ein Zeichen von Schwäche. Wir haben keine Handlungsoptionen, derwegen die Parole: Keine Handbreit den Faschisten. Wer uns nicht wählt, der hat es einfach nicht verdient, von uns regiert zu werden.

Es ist die masochistische Lust am eigenen Untergang. Seht alle her, wie wir aufrecht, dem Schicksal trutzig die Stirn bietend, mit einem Lied auf den Lippen in den Untergang gehen. Künftige Generationen werden uns Denkmäler setzen und Straßen nach uns benennen. Es mag sein, dass wir nichts auf die Kette gekriegt haben, aber in Sachen Haltung, da kann uns keiner was.

Man mag die SPD hassen und die Grünen verachten, aber eines muss man ihnen lassen: Kompromisse können sie eingehen. Sie verraten ein Grundprinzip nach dem Anderen, aber gleichzeitig bekommen sie andere Kernforderungen durchgesetzt. Als die Grünen vor 35 Jahren die politische Bühne betraten, war Gleichberechtigung ein linkes Nischenthema, Kernkraftwerke der Heilsbringer und alternative Energien eine wirre Fantasie kiffender Ökos. Heute hat selbst die CDU eine Frauenquote, Kernkraftwerke sind auslaufmodelle, und auf jedem Vogelhäuschen klebt eine Solarzelle, auf jedem Maulwurfshügel steht ein Windrad. Sie können kein Rosenbeet mehr umgraben, ohne sicher zu stellen, dass keine seltene Kellerasselnart sich davon belästigt fühlt. Die Grünen von heute haben kaum noch etwas mit denen aus dem Jahr 1980 gemein, aber unideologisch betrachtet waren sie erfolgreich. Ähnliches kann man über die SPD sagen. Es mag keinen Grundsatz geben, den sie nicht mit Füßen getreten haben, aber sie haben es geschafft, dass Kanzlerin Merkel Positionen vertritt, die früher sozialdemokratische Alleinstellungsmerkmale waren.

Um zu Trump zurückzukehren: Er hat mit Theatralik und Populismus gewonnen. Dieses Erfolgsrezept kopieren zu wollen, kann gar nicht funktionieren, weil man es sofort als billige Kopie erkennt. Ist es aber so falsch, wissen zu wollen, wie Leute ticken? Ist es so schlimm, herauszufinden, wie Leute auf zum Teil krude Ideen kamen? Wenn irgendwo regelmäßig Feuer ausbrechen, kann ich natürlich immer brav die Feuerwehr hinschicken. Vielleicht hat sie Erfolg, vielleicht nehmen aber auch die Brände überhand. Dann kann ich zwar behaupten, ich hätte wenigstens zu löschen versucht, aber ich muss mir auch die Frage gefallen lassen, warum ich nicht erforscht habe, wie die Brände entstehen. Vielleicht haben sie ja eine gemeinsame Ursache, ein Muster, und wenn ich die erkenne, kann ich proaktiv etwas unternehmen und muss nicht ständig Symptome bekämpfen. Ich bezweifle, dass rund die Hälfte der US-Amerikaner sabbernde Rednecks oder ein Fünftel der Deutschen Nazis sind. Den Leuten geht es nicht um Ausländer und Unterdrückung von Frauen. Es geht ihnen um darunter liegende Gefühle, um Sicherheit, Sorglosigkeit und Kontrolle über das eigene Leben. Wenn ihnen jemand erzählt, dass man dafür alle Mexikaner rausschmeißen muss, dann sind sie eben gegen die Mexikaner. Sie nehmen aber auch andere Erklärungen hin, wenn man sie vernünftig präsentiert.

In Demokratien werden Wahlen durch Mehrheiten entschieden, und gerade in politisch wackligen Zeiten wie diesen  ist es reichlich vermessen, auf 20 oder wie in den USA fast 50 Prozent der Leute herabzublicken und zu sagen: "Na von euch wollen wir uns gar nicht wählen lassen." Weder Trumps noch das Wahlprogramm der AfD halten einer ernsthaften Untersuchung nach logischer Konsistenz und Umsetzbarkeit stand. Andererseits liest auch kein Mensch so ein Geschreibsel. Die Leute wählen das, was sie hören, das, was ihnen ihnen in Reden versprochen wird. Niemand verlangt, so wie die Populisten den Wählern nebulös etwas vorzugaukeln. Dem Publikum glaubwürdig zu vermitteln, dass man es ernst nimmt, dass man es versteht und versucht, seine Bedürfnisse zu befriedigen, finde ich hingegen angebracht. Das ist kein Populismus, das ist eine demokratische Grundforderung.

Wenn man auf den Abgrund zurast, ist "weiter so, unsere Prinzipien sind heilig" keine Option.

Sonntag, 13. November 2016

Trump-traumatisiert

Es ist jetzt eine halbe Woche her, dass Trump zum nächsten US-Präsidenten gewählt wurde, und an der Reaktion der Linken sehen wir munter durchmengt die Phasen der Traumaverarbeitung:

Leugnen

Hillary hatte sogar 200.000 Stimmen mehr als Trump. Unfassbar, dass er trotzdem gewinnen konnte. Ja, es ist ungerecht, aber es spiegelt ein seit Jahrhunderten bekanntes Dilemma der Wahlmathematik wieder: Ein immer und unter allen Umständen gerechtes Wahlverfahren gibt es nicht. Entweder hat man ein Verfahren wie das Mehrheitswahlrecht, bei dem es passieren kann, dass man einige unbedeutende Staaten mit riesiger Mehrheit holt, dafür aber wichtige Staaten knapp verliert und damit in der Summe trotz summierter Stimmenmehrheit verliert, oder man baut ein Verfahren so, dass es den Wählerwillen sehr genau abbildet, dafür aber so umständlich ist, dass es kein Mensch begreift und dadurch dazu führt, dass nur einige wenige Experten qualifiziert wählen können.

Aber alle Prognosen sahen Clinton doch vorn? Wie kann das sein? Langsam, langsam. Die mir bekannten Prognosen sahen Clinton gerade einmal 4 Prozent vor Trump. Das ist noch voll im Bereich der statistischen Ungenauigkeit. Darüber hinaus waren sich alle Beobachter einig, dass die Wahl auf der Kippe stand, und da sind Prognosen immer unpräzise.

Mag ja sein, aber Hillary war doch wohl eindeutig die bessere Kandidatin. Falsch, sie war die weniger katastrophale, und das ist nun einmal kein überzeugendes Argument. Noch weniger überzeugend ist es, Trump-Wähler pauschal als sexistische, rassistische Idioten hinzustellen. Wenn man den Wählern sagt, man sei was Besseres, weil man Clinton wählt, verprellt man diejenigen, die mit solchen hochnäsigen Schnöseln nichts am Hut haben. "Wenigstens sagt Trump die Wahrheit" ist natürlich Quatsch. "Wenigstens gibt der Kerl nicht so ein öliges, durch Berater vorgekautes Politgewäsch von sich" ist hingegen wahr.

Habt ihr euch einmal überlegt, warum Clinton fast immer vorne lag, warum bei eigentlich allen Meinungsumfragen der vergangenen Monate die gesellschaftlich akzeptierte Meinung führte und dann bei den Wahlen komischerweise die "böse" Meinung siegte? Könnte es daran liegen, dass der einzige Ort, an dem die Leute sich noch trauen, ihre wahre Gesinnung zu zeigen, die Wahlkabine ist? Ich weiß, ihr hört das nicht gern, aber ich habe sie erlebt, die Shitstorms, auch schon im Vor-Internet-Zeitalter, wenn man es gewagt hat, dem linken Mainstream zu widersprechen. Ich habe gesehen, wie im Jahr 2009 jede noch so leise Kritik an den Piraten mit wütenden Kommentaren niedergeschrien wurde. Die Unterdrückung der freien Meinung, die ihr den Rechten so gern vorwerft, praktiziert ihr genau so. Ihr bekommt es nur nicht mit, weil in eurer Filterblase natürlich jeder die Freiheit hat, mit euch einer Meinung zu sein. "Natürlich kannst du anderer Meinung sein, aber dann bist halt ein Sexist." Könnt ihr nicht ein einziges Mal eure Ismus-Keule stecken lassen und der Gegenseite unterstellen, dass sie nicht das Land in den Faschismus stürzen will? Ihr habt über Jahre ein Klima geschaffen, in dem wir uns alle gegenseitig geflauscht und jede Störung der Harmonie rigoros beseitigt haben. Damit haben wir aber offenbar nicht den Störenfried beseitigt, sondern nur in ein Versteck getrieben, aus dem heraus er umso gefährlicher agiert.

Zorn

Trump hat gewonnen. Raus auf die Straße. Vor das Weiße Haus. Demonstrieren. Das bringt es bestimmt total. Wahrscheinlich denkt sich Trump: "Also, wenn da eine Handvoll Leute vor meinem künftigen Amtssitz mit Plakaten herumlungern, dann kann ich unmöglich Präsident werden. Ich glaube, ich nehme die Wahl besser nicht an." So läuft das bestimmt.

Die Schuldigen an diesem Schlamassel sind auch schon identifiziert: Verbitterte, alte Männer. Die haben Trump zur Macht verholfen. Die ganz allein.

Und die Hispanier. Und die Latinos. Und die Frauen. Und die Schwarzen. Wie sich nämlich langsam herausstellt, hätten die paar alten Männer in der Tat nicht ausgereicht, um Trumps Sieg zu sichern. Da mussten noch mehr Stimmen her, und die kamen überraschenderweise aus der Gruppe derer, denen man niemals zugetraut hätte, dass sie Trump wählen. Was heißt das?

Das heißt, dass das Narrativ, alles Weiße, Männliche, Christliche, im Alter Fortgeschrittene, kurz alles (Donner, Dramamusik) Privilegierte (Donner) verdammen und bekämpfen zu müssen, nicht mehr so ganz funktioniert. Der politische Gegner lauert auch in den Gruppen, die wir mit unserem Opferspürgerät bisher zuverlässig als moralisch edel, umsorgenswert und damit über jede Kritik erhaben identifiziert haben. Der Baden-Würtembergische grüne Ministerpräsident Kretschmann forderte es gestern auf dem Grünen-Bundesparteitag in Münster und bezog dafür kräftig Prügel: Man solle es mit der Politischen Korrektheit nicht übertreiben. Reflexartig reagierten die Link_innen, was man heute als "Political Correctness" bezeiche, habe früher schlicht Anstand und Respekt geheißen, mithin setze sich Kretschmann also für (und jetzt alle) Sexismus, Rassismus, Ableismus und Homomorphismus ein. Blödsinn, Kretschmann sagt nur, dass man mit einem Klima, das jede abweichende Meinung, ja sogar wissenschaftliche Forschung mit einem Bannfluch belegt, weil die Glutenintoleranz einer lesbischen transgender autistx of color mit Migrationshintergrund nicht hin_reichend gewür_digt wurde, allenfalls erreicht, dass sogar die einem politisch nahe Stehenden in ihrer Verzweiflung alles wählen, was nicht so einen Schwachsinn brabbelt.

Einen weiteren Schuldigen hat Clinton selbst noch gefunden: das FBI. Es stimmt, dass es schon sehr merkwürdig ist, dass ausgerechnet in der Endphase des Wahlkampfs die Bundespolizei mit Meldungen über Clintons selbstgehosteten Mailserver an die Öffentlichkeit tritt. Auf der anderen Seite, naja, vorsichtig gesagt gehören Kindervergewaltigungsvorwürfe auch nicht gerade zur feinen Art der politischen Auseinandersetzung.

Wenn Clinton die ach so haushoch überlegene Kandidatin war, warum habt ihr Vollidioten sie dann nicht gewählt? Wieso sind rund die Hälfte der Leute am Dienstag daheim geblieben? Ihr hättet die Katastrophe, die Trump angeblich bedeutet, ganz einfach verhindern können: Raus aus der Tür, rein ins Wahllokal, Kreuzchen bei den Demokraten. Erst den Hintern nicht hoch kriegen und jetzt mimimi ist vor allem eins: dumm. Beschimpft nicht die Trump-Wähler. Beschimpft eure eigenen Waschlappen, dass sie sich zu fein sind, an elementaren demokratischen Prozessen mitzuwirken.

Und stellt um Himmels Willen das nächste Mal etwas weniger Unwählbares als Hillary Clinton auf.

Verhandeln

Hillary Clinton hat Trump ihre Mitarbeit angeboten. Mit Verlaub, geht's vielleicht noch etwas kläglicher, noch etwas weiter an der Realität vorbei? Hilly-Billy, du hast verloren. Du bist raus. Ende. Die Leute wollen dich nicht. Warum, glaubst du, sollte Trump auch nur im Traum daran denken, von dir Hilfe anzunehmen, geschweige denn zu brauchen? Dass die Amtsgeschäfte von der scheidenden auf die neue Regierung sauber übergeben werden, ist gute amerikanische Tradition, diese Selbstverständlichkeit trägt man nicht wie eine Monstranz vor sich her. Alles, was darüber hinaus geht - naja, wie soll ich's sagen - entspricht nicht dem Wählerwillen. Die haben eben nicht für eine Vizepräsidentin Clinton gestimmt, sondern für (mal kurz nachschlagen) Mike Pence - wer immer das auch sein mag. Wer hat dir erzählt, das könnte anders sein?

Depression

Aber halt, auf Twitter kann man natürlich auch versonnen-intellektuell nachdenklich. So tauchten auch schon die ersten Tweets auf, die klagten, ihre Timeline sei zu privilegiert und man möge ihnen Twitteraccounts nicht so Privilegierter nennen, damit man diese erforschen könne.

Man hole dem Fürsten seinen Quoten-Mohr!

Twitter - seit Jahren Sammelbecken der Newshipster, der Nachrichtenelite, die es total cool finden, mit der Technologie der Endneunziger im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts zu kommunizieren. Wenn man sich einer Sache sicher sein kann, ist es die, dass hier niemand herumhängt, der sich als Studienobjekt eignet, an dem die Denkelite des Landes beobachten kann, wie der Plebs so tickt.

Abgesehen von der Mischung aus Arrgoanz und Naivität, die aus solchen Aufforderungen spricht, schwingt auch noch ein gehöriges Maß an Weltfremdheit mit. Ich weiß, das ist schwer zu begreifen, aber wenn ihr wirklich wissen wollt, was die Welt außerhalb eurer Filterblase denkt, könnt ihr nicht warten, bis sie euch auf eurem ach-so-datenschutzfreundlichen Twitter auf dem Silbertablett serviert wird. Nein, ihr müsst woanders hin, zu Facebook beispielsweise oder, noch viel besser: in dieses Draußen.

Dann sprecht mit den Krankenschwestern und Altenpflegerinnen, redet mit den Rentnern und Sozialhilfeempfängern. Fragt die Supermarktkassiererin und die Regaleinräumer. Sprecht mit den Polizisten und Busfahrerinnen. Vor allem aber: Führt euch dabei nicht auf wie ein Safaritourist, der von seinem Jeep aus mit dem Fernglas das wilde Treiben beobachtet, sondern interessiert euch wirklich für die Menschen. Geht an die Haupt- und Sonderschulen und erlebt, was eure Bachelor- und Masterabschlüsse dort wert sind. Spürt, dass euer abgehobenes Gequatsche oft nicht als Zeichen hohen Intellekts (Privileg!) und guter Bildung (noch ein Privileg!), sondern einfach nur als das wahrgenommen werden, was sie oft genug auch sind: Abgrenzung und Verbalonanie.

Aber halt, da gab es noch eine fünfte Phase:

Akzeptanz

In dieser Phase nimmt man das Unvermeidliche an und lernt, damit umzugehen. Wer hier angelangt ist, übernimmt wieder die Kontrolle, geht konstruktiv mit dem Erlittenen um.

Das kann wohl noch eine Weile dauern.

Samstag, 12. November 2016

Die Trump-Petry-Koalition

Witze sind nicht mehr komisch, wenn die Witzfiguren die Macht übernehmen.

Donald Trump, der Mann gegen den selbst Günther Oettinger noch kompetent wirkt, ist der nächste Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Als ich die Nachricht in den frühen Morgenstunden des Mittwochs verdaute, schaute ich auf Twitter nach, wie da die Reaktionen lauteten, und wie lautete eines der ersten Statements aus Deutschland? "Mein Mitgefühl gilt der LGBT-Community, die in erster Linie betroffen ist."

Wunderbar, alle Gründe, warum Trump gewonnen hat, in einem Satz.

Ich bestreite nicht, dass Homo-, Trans- und Bisexuelle in den kommenden Jahren mit erheblichen Repressionen zu rechnen haben. Eigentlich hatten wir gehofft, dass mit der Obama-Regierung die Typen, die ihr Denken komplett in die Bibel ausgelagert haben, für lange Zeit in die Bedeutungslosigkeit abgeschoben wurden, aber tatsächlich haben sie sich außerhalb unserer Filterblase erholt und massiv zurückgeschlagen. Mit ihnen kehrt ein Weltbild in die Regierung zurück, dessen Komplexität ungefähr diesen auf weiche Plastikfolie gedruckten Bilderbüchern entspricht, die man Neugeborenen als Spielzeug in die Wiege legt. Donald Trump wird mindestens 4 Jahre im Besitz der Codesequenz sein, mit der sich das menschliche Leben auf diesem Planeten durch einen Atomkrieg auslöschen lässt, und ihr sorgt euch um die Regenbogenflagge? Nichts für ungut, aber habt ihr mal eure Prioritäten überprüft?

Ein Großteil der Präsidentschaft Trumps haben sich natürlich die Demokraten selbst zu verdanken. Mit Hillary Clinton haben sie praktisch die weibliche Version von Draco Malfoy kandidieren lassen: machtversessen, gefühlskalt, arrogant, berechnend, skrupellos. Im politischen Spiel kompetent - das sei unbestritten, aber ohne jede Strahlkraft. In gewisser Weise ähnelt sie Angela Merkel: Sie bekommt ihren Kram schon irgendwie geregelt, aber es fehlt dieses: "Wow, also da will die hin. Cool, das will ich auch." Genau hier liegt die Gefahr.

Hierzulande ist die Situation nicht viel anders als in den USA. Die Wirtschaft läuft, aber vom erwirtschafteten Wohlstand bekommen immer weniger Leute etwas mit. Politik läuft weitgehend in abgeschotteten Zirkeln ab, die sich nur zu wenigen Gelegenheiten dem Volkeswillen öffnen, damit nicht zu offensichtlich wird, dass wir schon seit Jahrzehnten in einer Oligarchie leben. Demokratische Willensbildung, so lautet die Parole, soll man gefälligst den Profis überlassen. Wenn uns eine Maßnahme nicht passe, läge es vor allem daran, dass wir uns nicht genügend damit beschäftigt hätten, um ihre segensreiche Wirkung zu erkennen.

So, und jetzt wundern wir uns, warum die AfD eine Wahl nach der nächsten gewinnt? Die Standardausrede: "Unsere Politik ist nicht schlecht, sondern ihr seid es, weil ihr sie nicht gut findet" funktioniert nicht beliebig oft. "Ich hab nen Hochschulabschluss, und du kannst nicht einmal richtig gendern" ist kein Argument. Ich glaube nicht eine Sekunde lang, dass Trump oder die AfD für eine bessere Politik stehen. Sie stehen vor allem dafür, ihren Anhängern wenigstens das Gefühl zu geben, ernst genommen zu werden. Wir hingegen liefern uns lange und erregte Grabenkämpfe, ob Jim Knopf Blackfacing und Pippi Langstrumpf ohne Südseekönig rassistisch ist. Massenentlassungen bei Opel? Kein Ding, so lange die Frauenquote im Vorstand eingehalten wird. Niedriglöhne? Egal, in der Kantine gibt es jetzt lactosefreie Milch und vegane Hauptmahlzeiten, von der Küchenchefin von Hand containert. In unserer Filterblase mögen solche Themen relevant sein. Bei den Leuten, die Regierungen wählen, sind sie es nicht.

Natürlich können wir uns weiter auf Twitter aneinander kuscheln und über die bösen Hater und Harasser*innen, Sexisten, Ableist_innen, strukturell cis-antisemitischen und Rassist.innen klagen, die sich erdreisten "Flüchtling" statt "Geflüchtete" zu sagen und so unseren Beitrag leisten, damit Frauke Petry im nächsten Jahr Bundesinnenministerin wird. Oder aber wir verlassen unsere Filterblase und lernen etwas, was uns ganz furchtbar schwer fällt: zuhören.

Montag, 31. Oktober 2016

Über Schlitzaugen ins Straucheln geraten

Dass Günther Oettinger die fleischgewordene Fehlbesetzung ist und intellektuell maximal in der Lage ist, die Kaffeeküche des Europaparlaments aufzuräumen, ist jetzt nicht gerade die Sensationsmeldung, mit der man es bis in die Tagesschau schafft.

Offenbar doch. Dass der Mann über Jahre hinweg als EU-Digitalkommissar eine glatte Katastrophe war, dass er auf den Posten gesetzt wurde, ohne auch nur die geringste Qualifikation in Sachen Internet zu besitzen, dass seine öffentlichen Äußerungen selbst das Gestammel Edmund Stoibers klar und verständlich wirken ließen, dass er ganz offensichtlich nur das nachplapperte, was seine Lobbyisten ihm vorher einghämmert und gehofft hatten, dass wenigstens ein Bruchteil davon seine Hirnwindungen unbeschadet passiert - egal. Kümmert niemanden. Aber: Er hat "Schlitzauge" gesagt!

OK, er hat noch viel mehr gesagt. Er hat vor allem Zeug von sich gegeben, das man im vertrauten Kreis abends leicht angesäuselt an der Hotelbar von sich gibt. Äußerungen, die gerade in den Ohren derer, die das Internet seit Jahrzehnten als Kommunikationsmedium und Lebensraum nutzen, grotesk altbacken wirkt. Wir empfinden nichts Besonderes dabei, Zeitschriften auf dem Smartphone zu lesen. Unter Bewohnerinnen des globalen Dorfes gehört es zum guten Ton, ethische und ethnische Diversität zu achten. Insbesondere abfällige Bemerkungen über die äußerlichen Merkmale von Asiaten oder die Anerkennung homosexueller Ehen empfinden wir als unangemessen.

Jetzt müsst ihr ganz tapfer sein: So reden die Leute da draußen aber. Wir haben es uns in unserer Netzfilterblase gemütlich eingerichtet. Wir teilen einen gewissen Wertekanon mit einem Großteil der Journalistinnen und allgemein mit einem akademisch geprägten Bildungsbürgertum. Das ist aber eben nicht die Welt, es ist nicht einmal das Internet. Es ist eine numerisch große und meinungsprägende Schicht, aber ob es die Mehrheit ist, kann ich nicht sagen.

Von Douglas Adams gibt es ein schönes Zitat: Alles, was zum Zeitpunkt deiner Geburt auf der Welt war, ist normal und gewöhnlich und ein natürlicher Teil der Art, wie die Welt funktioniert. Alles was erfunden wurde, während du zwischen 15 und 35 Jahre alt warst, ist neu und aufregend und revolutionär, und du kannst möglicherweise eine Karriere damit machen. Alles, was erfunden wurde, nachdem du 35 warst, ist gegen die natürliche Ordnung der Dinge.

Jetzt schaut mal nach, wie alt Oettinger ist. Genau, als dieser Mann 1953 in der Hauptstadt eines für seine zutiefst biedermeierliche Grundaltung bekannten Bundeslandes geboren wurde, fuhren noch Dampfloks auf den Gleisen. Computer waren groß wie Turnhallen, und man berechnete Völkermorde oder Geschützbahnen mit ihnen. Als er 4 Jahre alt war, startete die Sowjetunion den Sputnik, also den ersten künstlichen Satelliten überhaupt, und löste damit die Überlegungen aus, die Jahrzente später zum Aufbau des Interenets führten. Als Oettinger 35 war, galt der C64 noch als ordentlicher Heimcomputer. Modems konnten 2400 Baud, es sei denn, man erwarb sie legal bei der Bundespost. Die konnten 300 Baud und waren auch sonst völliger Mist. Ein Jahr später sollte Berners-Lee das Hypertext-Konzept vorstellen. Kurz: Mehr als die Hälfte seines bisherigen Lebens hat Oettinger ohne Computer zugebracht, und sein gesamtes Umfeld war nicht so gestaltet, dass es dem Internet gegenüber besonders aufgeschlossen wäre.

Gerechterweise müssen wir aber auch ein kritisches Auge auf uns selbst richten. Nur weil wir mit Computern und dem Internet aufgewachsen sind, hängt davon nicht unser Leben ab. Es ging auch ganz offensichtlich ohne. Unser Aufgeplustere auf Twitter und Facebook wird außerhalb unserer Soziosphäre mit Befremden registriert. "Die Netzgemeinde", das ist für die Meisten da draußen bestenfalls dieser komische Schnauzbartträger mit dem roten Irokesenhaarschnitt, wie hieß der doch gleich? Von Vorratsdatenspeicherung, Netzneutralität und freier Software - für uns alltägliche Begriffe - hat von ihnen kaum jemand etwas gehört, und noch viel weniger verstehen, warum uns die Diskussion darum so wichtig ist. Das gleiche Unverständnis, mit dem wir die Geisteshaltung Oettingers betrachten, schlägt uns von den "Offlinern" entgegen. Da gibt es kein Richtig oder Falsch. Da sollte es den Versuch geben, einander zu verstehen.

Ich weiß nicht, wie viele von Euch regelmäßig mit Menschen aus verschiedenen Kulturen zusammenarbeiten müssen. Da gibt es Reibereien. Nicht umsonst gibt es für international agierende Firmen ganze Seminare, die sich mit nichts anderem beschäftigen als der Frage, wie in verschiedenen Kulturen bestimmte Dinge gesehen werden. Wenn man das nicht weiß, kann man arge Schwierigkeiten bekommen. Es ist natürlich äußerst peinlich, wenn ein EU-Kommissar auf dem internationalen Parkett mit der Blasiertheit eines schwäbischen Dackelzüchters herumtrampelt, sprachlich geglättet klängen seine Kommentare aber so: "Ich finde das schon fast militärisch einheitliche Auftreten einer chinesischen Delegation befremdlich. Es gibt dort kein Mehrparteiensystem, und Frauen sind in hohen Positionen unterrepräsentiert." - "Eine Absenkung des Renteneintrittsalters ist nicht finanzierbar." - "Ich sehe die Ehe homosexueller Partner kritisch." Das mag zwar immer noch nicht unserer Meinung entsprechen, aber das ist im Kern, was er gesagt hat.

Oettinger war immer schon provinziell, und er hat seine hinterwäldlerische Borniertheit unverändert auf die europäische Ebene gerettet. Mir wäre es lieb gewesen, hätte man ihn nach seiner Filbinger-Weißwaschansprache aufs Abstellgleis geschickt, nach seinem englischen Gestammel auf dem Niveau eines Gestapo-Offiziers in einem Indiana-Jones-Film oder für jede einzelne seiner Äußerungen als Digitalkommissar, bei denen man sich fragte, wie viele Tausend Euro ihm das wieder von welcher Firma eingebracht hat. Statt dessen stolpert er möglicherweise über Stammtischgebrabbel.

Wenn wir Pech haben, dann kostet ihn die Rede aber auch nur die Versetzung ins Haushaltsressort, und er bleibt uns als Digitalmarionette erhalten, weil er da scheinbar weniger Schaden anrichtet. Da hätten wir uns dann mit unserer Empörung richtig verzockt.

Montag, 19. September 2016

Warum ich die AfD wähle

Blödsinn, natürlich wähle ich die AfD nicht, aber mit dieser Überschrift bekomme ich wenigstens eure Aufmerksamkeit. Korrekterweise hätte ich schreiben sollen: Warum ein Viertel der Wahlberechtigten AfD wählt, aber dann hättet ihr euch gedacht, zu wissen, was jetzt kommt: Oh ja, die böse CSU ist schuld mit ihren Rattenfänger_innenparolen. Horst Seehofer, der Schuft. Die ehemals große Koalition mit ihrer Kaltlandpolitik. Die Hater.innen mit ihren komplett jeder Schulbildung entkleideten Facebookkommentaren. Besonders schuld sind aber die Wählend*innen, die einfach dreist auf dem Wahlzettel ankreuzen, was ihnen in den Sinn kommt. Ohne euch vorher zu fragen, ob sie das dürfen. Was fällt denen ein?

Die Ursachensuche ist komplex, aber in der Politik will man von Komplexität nichts wissen. Einfache Antworten müssen her, und so sucht man nach der einen plakativen Erklärung. Die armen Abgehängten des vom Neoliberlaismus gemeuchelten Sozialstaats sollten es sein, die ihr Heil in den Heilsversprechen der AfD suchen: Es stellt sich heraus: So wahnsinnig schlecht geht es denen gar nicht. Ja, einige von ihnen gehören zu denen, die durch Hartz-IV von genau dem Staat im Stich gelassen werden, in dessen Kasse sie vorher Jahrzehnte lang Steuern und Sozialbeiträge zahlen mussten, aber diese Leute sind nicht das Gros. Es sind auch nicht die Leute, welche in Gegenden mit hohem Ausländeranteil die Schwächen schlecht konzipierter Integrationspolitik erleben. Die gibt es natürlich auch, aber die AfD ist gerade dort stark, wo man schon gezielt nach Ausländern suchen muss, wenn man welche hassen will. Tatsächlich ist allein schon aus numerischen Gründen die AfD-Wählerschaft nicht nur bei irgendwelchen spinnerten rechten Randgruppen zu suchen, sondern mittendrin in der gesellschaftlichen Mitte, bei den, wenn nicht gut, dann doch wenigstens befriedigend Situierten, bei denen mit einer ordentlichen Wohnung, mit einem halbwegs vernünftig bezahlten Arbeitsplatz und mit einer gewissen sozialen Sicherheit. Überspitzt gesagt wählen genau diejenigen deu AfD, die dazu gar keinen Grund haben, und genau hier liegt eine mögliche Ursache.

In der AfD sammeln sich nicht die materiell Ausgegrenzten, sondern diejenigen, die sich vom gesellschaftlichen Diskurs ausgeschlossen fühlen. Jetzt kommen wir auch langsam auf die Idee, wer über Jahre dafür gesorgt hat, dass immer mehr Menschen das Gefühl bekommen, Politik fände nicht mehr mit ihnen, sondern vor allem gegen sie statt: das wart nämlich ihr.

Was? Wir? Wir sind doch so wahnsinnig tolerant und weltoffen. Wir integrieren doch alles, was bei drei nicht auf den Bäumen ist. Wir sind doch für ein buntes Land, voller Vielfalt und faszinierender Subkulturen, ein Land ohne Rassismus, Sexismus, Ableismus und welche -ismen uns noch so in den Sinn kommen. Danke. Ihr habt gerade beschrieben, wie bei euch Ausgrenzung funktioniert.

In eurem Eifer, jede noch so kleine Minderheit zur berücksichtigen, habt ihr eines der zentralen Prinzipien der Demokratie ausgehebelt: Mehrheiten entscheiden. Statt dessen entscheidet, wer sich möglichst theatralisch als Opfer inszeniert. Habt ihr beispielsweise einmal überlegt, wie viele Leute ein Problem damit haben, eine Toilette zu benutzen, weil sie sich nicht entscheiden können, durch welche Tür sie gehen wollen? Wie viele Leute nutzen die Zeit, die ihr beim Sprechen des Gender Gaps lasst, tatsächlich dazu, sich das Geschlecht zu denken, das ihrer Meinung nach am besten passt? Es ehrt euch, Minderheiten zu berücksichtigen. Deren Interessen höher als die der Mehrheit zu werten, treibt die Mehrheit in die Arme derer, die ein allgemeines Gefühl der Unzufriedenheit bedienen.

Die SPD feiert sich für den Abbau des Sozialstaats und ist zu einer neoliberalen FDP-Kopie verkommen. Die Grünen finden Krieg auf einmal total prima, haben einige der schlimmsten und nebenbei auch verfassungswidrigen Überwachungsgesetze mit beschlossen und befinden sich tief im linken Flügel der CDU. Gleichzeitig hat die CDU reihenweise Themen der SPD und der Grünen übernommen. Die Kernkraftwerke - hat die CDU abgestellt. Die Frauenquote in Unternehmensspitzen - hat die CDU eingeführt. Die beiden großen Blöcke schrumpfen und schmelzen zu einem diffusen Meinungsbrei zusammen, der immer weniger Leuten schmeckt. Die sinkenden Prozentzahlen bei Wahlen sind schon beunruhigend genug. Hinzu kommen die absoluten Werte, in denen sich sinkende Wahlbeteiligungen wiederspiegeln. Dort, wo entgegen dem Trend wieder Wähler mobilisiert werden - wandern sie überwiegend zur AfD.

Gerade die Reaktion auf den Effekt, dass aktivierte Nichtwähler vermehrt die AfD wählen, verrät viel über euer Demokratieverständnis. Jahrelang lautete "wählen gehen!" euer Mantra. Hohe Wahlbeteiligung, so glaubtet ihr, sei das Patentrezept gegen Stimmgewinne der Extremisten. Jetzt steigen die Werte, aber leider nicht so, wie ihr euch vorgestellt hattet. Wählen gehen - schön und gut, aber dann gefälligst die Parteien, die euch in den Kram passen! Diese, sagen wir, nicht ganz perfekt durchgezogene Logik taucht bei euch übrigens mehrfach auf. So gilt seit einiger Zeit euer Kampf der so genannten Hate Speech. Was das ist, sagt ihr nicht so genau, und ich habe den Eindruck, ihr wollt euch ganz bewusst nicht festlegen lassen. Der Gag ist nämlich, dass sich alle einig sind, dass Hate Speech etwas Böses ist, und damit habt ihr ein wunderbares Etikett, mit dem ihr nach Belieben alles Unangenehme diskreditieren könnt. Das ist bequem, erspart es euch doch jede inhaltliche Auseinandersetzung. "Hater" draufkleben, Diskussion erledigt. So schmeißt ihr locker zusammen, was nicht zusammen gehört. Die sich in Mord- und Vergewaltigungsfantasien ergehenden Idioten, die auf Facebook keinen Satz zustande bekommen, der die deutsche Sprache nicht weit hinter die Gebrüder Grimm zurückwirft, sind für euch das Gleiche wie Don Alfonso, der für seine Kritik nicht nur deutlich gewähltere Worte findet, sondern viel gezielter ansetzt und die Punkte präziser benennt. Mit dem könntet, mit dem müsstet ihr euch beschäftigen, aber dafür fehlt euch der Schneid. Also nennt ihr ihn "Hater" und glaubt, ihn damit widerlegt zu haben.

Der Verdacht, dass es euch in Wirklichkeit nicht darum geht, rechtlich bedenkliche oder gar zu Gewalttaten aufstachelnde Texte mit rechtsstaatlichen Mitteln zu beseitigen, sondern das Netz in bester orwellscher Manier zurechtzusensieren, dass es euren Spießerfantasien von einem ordentlichen Wohnzimmer mit Knick in den Sofakissen entspricht, erhärtet sich zur Gewissheit, wenn man sich die Bigotterie ansieht, mit der ihr Inhalte beseitigt wissen wollt. Auf der einen Seite drescht ihr wochenlang auf Facebook ein, es solle sich nicht hinter formaljuristischen Argumentationen verstecken, sondern einfach drauf los löschen. Ihr bejubelt die Äußerung des Bundesjustizministeriums, beim Kampf gegen "Hate Speech" solle man auch ruhig ohne rechtsstaatliche Grundlage vorgehen.

Und dann löscht Facebook.

Ja, nee, so hatten wir das auch wieder nicht gemeint, also bitte, ja? Löschen schön und gut, aber doch nicht das. Gemeint ist das Foto des "Napalm Girls", jenes Mädchens, das weinend von einem während des Vietnamkriegs von den US-Truppen bombardierten Dorf wegrennt. Facebook sagte sich: klar, Nacktheit, das passt nicht in unser sauberes Social-Media-Disneyland. Dass diese Argumentation aus jedem beliebigen Blickwinkel einfach idiotisch ist, brauchen wir nicht zu diskutieren. Entscheidend ist: Genau das passiert, wenn man nicht nach klaren Regeln vorgeht, aber das passt in eure Spatzenhirne nicht rein. Ihr fordert Willkürmaßnahmen und beschwert euch dann, wenn sie sich gegen euch richten.

Mit dem Rechtsstaat habt ihr ohnehin eure Schwierigkeiten. Da gab es beispielsweise den Prozess gegen ein drittklassiges Fotomodell, das zuvor mit einer Vergewaltigungsklage gescheitert war. Die junge Frau konnte nicht überzeugend belegen, dass eine sexuelle Handlung gegen ihren Willen geschehen war und musste sich im Gegenzug wegen Rufschädigung verantworten. Sie setzte beim Prozess auf die Strategie, sich weiterhin als Opfer zu inszenieren, und ihr sprangt nur allzu willig auf den Zug auf. Gerichte, rechtsstaatliche Verfahren, alles Firlefanz. Was Recht und richtig ist, das sagt euch euer objektives Gefühl. Dagegen sind selbst die Zwölftafelgesetze noch fortschrittlich.

Die ganze Kläglichkeit eurer Gedankenwelt offenbarte sich Anfang des Jahres, als euch tagelang nicht einfiel, wie ihr mit den Vorfällen vor dem Kölner Hauptbahnhof umgehen solltet. Da waren nämlich Ausländer auf Frauen losgegangen. Nun sind beide Gruppen bei euch als Opfer definiert und damit jede negative Äußerung über sie ein Kapitalverbrechen. Wie beurteilt man aber eine Situation, in der ein armes, hilfloses und nur zu Gutem fähiges Opfer auf ein anderes armes, nur zu Gutem fähiges Opfer losgegangen ist? Zunächst einmal gar nicht, weil dieser Fall in eurer Ideologie niemals hätte eintreten dürfen. Dann aber kam der erlösende Gedanke: Männer. Diese Schweine. Wir ignorieren einfach die Ethnie der Täter und konzentrieren uns darauf, dass es Männer waren, die gegenüber Frauen handgreiflich geworden waren. Puh, Glück gehabt. Fast hättet ihr ernsthaft nachdenken müssen, so jedoch könnt ihr weiterhin eure Schablonen nutzen.

In Eurer Selbstgerechtigkeit geht euch jedes Reflexionsvermögen abhanden. Den militärisch kaum begründeten Mord an tausenden Menschen verhöhnt ihr mit: "Sauerkraut, Kartoffelbrei - Bomber Harris, Feuer frei!" und beklagt euch mit großen Gesten, wenn die Antworten in den sozialen Medien ebenso primitiv ausfallen. Eine Mutter hetzt ihr vierjähriges Kind mit Gedankengut auf, das zum Töten des politischen Gegners aufruft. Doch ihr verurteilt nicht die Verursacherin und deren fragwürdige Erziehungsmethoden, sondern die Äußerungen derer, die sie wild beschimpfen. Hass und Menschenverachtung,so bekommt man den Eindruck, scheinen euch nur dann zu stören, wenn sie von der falschen Seite kommen.

Ab und zu gibt es jedoch Leute, die auf Inhalte Wert legen, aber selbst deren Aktivitäten gehen auf schon fast bemitleidenswerte Weise ins Leere. So feiertet ihr Katharina Nocun für ihre Herkulesaufgabe, das Wahlprogramm der AfD gelesen und nach allen Regeln der Kunst zerlegt zu haben. Dafür gebühren ihr Lob und Anerkennung. Solche Arbeiten wären in einem Seminar für Politologie oder Geschichtswissenschaften hoch willkommen. Politisch gesehen war die Aktion allerdings komplett sinnlos.

Wer bitteschön liest denn vor seiner Wahlentscheidung die Programme der Parteien? Was soll das bringen? Bis auf wenige Sätze steht da allgemeines Gelalle drin, das im Prinzip jeder unterschreiben kann, und die wenigen Passagen, in denen es wirklich zur Sache geht, sind in der Regel genau die, welche als Erstes im Fall einer Regierungsbeteiligung der Realität geopfert werden. Wie eine Partei zu ihren vollmundigen Versprechen steht, kann man in der Regel nur auf eine Weise herausfinden: Man wählt sie und sieht dann zu, wie sie sich anstellen. Um festzustellen, dass die SPD am besten auf ewig von der Kanzlerschaft ferngehalten werden sollte, musste erst einmal Schröder Kanzler werden. Dass eine der Friedensbewegung entstammende Partei mit Hurra in den Krieg ziehen wird, konnte man auch nur herausfinden, indem man die Grünen ins Außenministerium steckte. Hier liegt übrigens auch meine Hoffnung bei der AfD: Wer von einem Fünftel, mitunter sogar einem Viertel der Wähler ins Parlament geschickt wird, muss Ergebnisse liefern, muss aus der Opposition heraus Druck auf die Regierung ausüben und sie immer wieder vorführen. Dafür fehlt aber vielen AfD-Abgeordneten schlicht das Format. Viel mehr als diffuse Vorstellungen, das alles irgendwie doof ist und denen da oben mal so richtig der Marsch geblasen gehört, haben die meisten nicht. Das wird den Wählern aber nicht reichen. Sie wollen sehen, dass sich etwas ändert, und wenn das ausbleibt, verschwindet die AfD bei der nächsten Wahl auch genau so in der Versenkung wie vor ihr Dutzende anderer Protestparteien.

Sollen wir also einfach abwarten, weil sich das Problem schon von selbst erledigen wird? Nein, das wird nicht ausreichen. Wir haben ein Potenzial von 20 Prozent Unzufriedenen, die sich von den etablierten Parteien nicht mehr vertreten fühlen, Tendenz steigend. Sollte sich die AfD selbst demontieren, werden diese Leute nicht reumütig in die Arme der SPD oder CDU zurückkehren. Sie werden verzweifelt jeden wählen, der ihnen sagt, dass es in Ordnung ist, so zu sein  wie die Meisten und nicht irgendwas von "Privilegien checken" murmelt. Sie werden die wählen, die nicht von "People of Color" reden, wenn es um Dunkelhäutige geht, und die nicht hysterisch aufschreien, wenn jemand "Behinderte" statt "Menschen mit Behinderung" sagt. Sie werden für die stimmen, die in einer für sie verständlichen Sprache sprechen und sich nicht verbalonanierend hinter pseudowissenschaftlichem Gequatsche über Cis und Trans verschanzen sowie in Diskussionen ohne Tothauerphrasen wie Derailing, Mansplaining oder Victim Blaiming auskommen. Sie lesen keine Wahlprogramme. Sie lesen auch nicht eure seitenlangen Blogposts, in denen ihr triumphierend darlegt, dass die AfD eben keine soziale Partei ist und dass sie sich genau gegen die wendet, deren Interessen sie zu wahren vorgibt. Während ihr herumkräht, dass alle AfD-Wähler Nazis sind, ein total antirassistisches "Nie wieder Deutschland" euren Followern auf den Weg gebt und mit dramatischem Tonfall verkündet, jetzt helfe wohl nur noch Auswandern, sagen sie sich: Nun, ich kann es mir bedauerlicherweise nicht leisten, einfach mal so auszuwandern, und abgesehen davon: Warum? Ich finde dieses Land gar nicht einmal so furchtbar, wie ihr ständig behauptet. Die Leute, mit denen ich gestern am Informationsstand gesprochen habe, wirkten auf mich ganz vernünftig. Wenn das Nazis sein sollen, dann sind die vielleicht nicht so schlimm, wie ihr immer behauptet. Dann kann man die wohl wählen.

Unsere einzige Hoffnung ist, dass die AfD, sitzt sie erst einmal eine Legislaturperiode lang in den Parlamenten, sich im Pöstchengerangel und parteiinternen Kleinkriegen aufreiben wird. Das ist ein extrem riskantes Spiel, und nicht immer gewinnen es die Richtigen. Ich weiß, man muss bei historischen Vergleichen aufpassen, aber in den frühern Dreißigern glaubte man auch, eine in der Wählergunst starke Partei in den Griff zu bekommen, indem man sie mitregieren lässt. Zwölf Jahre und 50 Millionen Tote stellte sich heraus: keine so tolle Strategie. Nun haben wir heute andere wirtschaftliche und politische Verhältnisse, und der oft bei dieser Gelegenheit zitierte Satz von der sich wiederholenden Geschichte ist in dieser Reinheit natürlich auch nicht wahr, aber wenn ich lese, wie in der Union die ersten Stimmen von der AfD als Koalitionspartner reden, frage ich mich, ob unsere Demokratie wirklich so stabil ist, wie wir in den Sonntagsreden immer behaupten.

Freitag, 29. Juli 2016

Das Böse ist immer und überall

In Nizza fährt ein Mann mit einem LKW in eine Menschenmenge und tötet Dutzende. Nahe Würzburg greift ein Mann in einem Regionalzug mehrere Passagiere an. In München erschießt ein Amokschütze in einem Einkaufszentrum 10 Menschen. In Ansbach sprengt sich auf einem Musikfestival ein junger Mann mit einer Rucksackbombe. Als wenn das nicht reichte, wird inzwischen jede Kneipenschlägerei, die es unter normalen Umständen maximal auf die Lokalseite schafft, zur Schlagzeile bei Spiegel Online hochgejazzt. Die Welt und neuerdings auch unser Land, so ist man sich einig, versinkt im Terror.

Traditionell ist der Sommer eine Jahreszeit, in der die übermäßige Hitze die deutsche Runkelrübe mit geringerer Rechenleistung arbeiten lässt. Das kennt man von seinem Laptop: Kann der Lüfter den Prozessor nicht mehr ausreichend kühlen, fährt das System den Takt runter. Das ist nicht weiter kritisch, wenn man gerade mit der Textverarbeitung rumklimpert, aber sehr gefährlich, wenn man gerade jedes Quentchen Leistung für komplizierte Berechnungen bräuchte - zum Beispiel, wie man mit Terrorismus am besten umgeht.

In Deutschland geschehen etwa 300 Morde pro Jahr, also alle 1,2 Tage einer oder 5 in 6 Tagen. Durch die Anschläge der letzten Tage wird die Zahl in diesem Jahr wohl leicht höher liegen. Bei den regulär Ermordeten hechelt kein CSU-Sicherheitsexperte im Minutentakt neue Forderungen in Mikrofone, wie man dem künftig besser begegnen könnte, aber das nur nebenher. Die Frage ist: Wie kann man künftig solche Anschläge verhindern?

Die Antwort ist ernüchternd: gar nicht. Zumindest nicht, wenn wir dieses Land noch halbwegs wiedererkennen wollen.

Terrorismus ist von seiner ganzen Idee her auf Low-Tech ausgerichtet. Es war immer schon der Kampf der schlecht Bewaffneten gegen die gut Bewaffneten, der Guerilla geen die Armee. Nur ganz selten bastelt sich da jemand etwas wirklich Raffiniertes zusammen, wie wir es aus dem Kino kennen. Meistens sind es einfache Waffen, die man ohne große Schwierigkeiten auf dem Schwarzmarkt bekommt, oder mit Baumarktware gefertigte Sprengsätze. Vor allem die jüngste Taktik des "Islamischen Staats" setzt auf einfachste Mittel, so dass die Vorbereitung einer Tat nicht von einem regulären Einkaufsbummel zu unterscheiden ist.

Eine Axt ist das Standardwerkzeug eines Gartenbesitzers. Wollen Sie jetzt jeden Kaminholzhacker vorsorglich einsperren? Stabile Messer hat jedes Kaufhaus in der Küchenabteilung. Soll jetzt Brotschneiden als Vorbereitung eines Terrorakts gelten? Die Bombe befand sich in einem Rucksack. Als Konsequenz werden jetzt auf größeren Veranstaltungen Rucksackverbote ausgesprochen, was an Idiotie ungefähr der Maßnahme gleich kommt, an Bord von Flugzeugen nur noch Behältnisse mit einem maximalen Fassungsvermögen von 100 ml Flüssigkeit zuzulassen. Besonders bezeichnend finde ich die Reaktion in Deutschland auf den Amokfahrer von Nizza: Da kam nämlich exakt niemand mit der Forderung daher, künftig härtere Führerscheinprüfungen durchzuführen, Ärztliche Atteste vorzulegen, wenn man einen LKW mieten will oder Autofahrer mit lebenslänglicher Haft zu bestrafen, wenn sie in der Tempo-30-Zone zu schnell fahren. Nicht, dass dies irgendetwas brächte, aber sehen Sie sich doch die anderen Forderungen durch. Nein, nein, Autos sind dem Deutschen heilig. Was der Führer mit den Juden gemacht hat, das war nicht so nett, aber Autobahnen hat er gebaut. Wenn man uns ließe, hätten wir einen Mercedes Benz als Bundespräsident und einen Porsche als Kanzler. Deswegen: Amokfahrten - ja irgendwie schon schlimm, aber so sindse halt. Es wäre schön, reagierten die Deutschen auch bei anderen Themen ähnlich entspannt.

Jetzt hat sich dummerweise in München herausgestellt, dass der Täter Deutsch-Iraner war, was praktisch gleichbedeutend mit einer IS-Mitgliedschaft ist, aber mit dem Islam nichts am Hut hatte. Im Gegenteil: Er stand dem rechtsradikalen Umfeld deutlich näher als religiösem Spinnertum. Da lässt sich kein sauberes Feindbild aufbauen. Was bleibt also übrig? Das Internet.

Neuen Dingen und insbesondere dem Internet steht der Deutsche schon traditionell äußerst skeptisch gegenüber. Das Internet mag der Deutsche eigentlich nur dann, wenn er sich darin schön überwachen lassen kann. Bei Facebook zum Beispiel. Von Google. Von Amazon. Beim Pokemon-Jagen. So lange klar ist, dass der Blockwart regelmäßig Meldung bekommt, dass sich alle zackig und vorschriftsgemäß verhalten, ist alles prima. Aber dann gibt es ja noch dieses Darknet. Das DARKNET. DAS DAARRKNETT!

Da können sich die Leute frei bewegen. Einfach so. Ohne Genehmigung. Wo kommen wir da hin? Es soll dort sogar Leute geben, die sich für Demokratie und Menschenrechte einsetzen. Obwohl das in ihrem Heimatland verboten ist. Sollen wir so etwas dulden? WOLLEN WIR DAS?

Wenn man Presseberichen glaubt, dann ist es einfacher, im Darknet eine Waffe zu kaufen als auf dem Markt eine Schale Erdbeeren. Nur wer genauer liest, stellt fest, dass man offenbar mehrere Anläufe braucht, weil nicht jeder angebliche Waffenhändler auch einer ist. Die Einen wollen einfach nur das Geld, die Anderen sind Ermittlungsbehörden, die nämlich allen anders lautenden Gerüchten zum Trotz natürlich im Darknet ermitteln. Warum auch nicht? Ganz so einfach scheint es mit dem Waffenkauf im Darknet also doch nicht zu sein.

Dann kommt die Bezahlung. Die findet mit Bitcoin statt. MIT BITCOIN. Eine Währung, die unabhängig von staatlicher Kontrolle funktioniert und darüber hinaus auch noch anonym ist. Wie Bargeld. Ungeheuerlich. Dass Bitcoin nur bei entsprechenden Vorsichtsmaßnahmen echte Anonymität bietet und man, um an Bitcoins zu gelangen, staatliche Währungen auf meist nicht-anonymen Wegen eintauschen muss, wird dabei oft vergessen.

Dann kommt die Lieferung. Im Fall des Münchner Attentäters fand sie über die Packstationen der Deutschen Post statt. ÜBER PACKSTATIONEN. Na gut, die haben Probleme mit gestohlenen Nutzerkonten, aber abgesehen davon ist dieses letzte und entscheidende Glied in der Kette so eindeutig in der Analogwelt mit ihren seit Jahrhunderten immer wieder verfeinerten Ermittlungsmethoden, dass das Narrativ vom rechtsfreien Raum hier beim besten Willen nicht verfängt.

Hoffentlich findet niemand heraus, wie der Mann in das Einkaufszentrum gefahren ist, sonst kramt wieder jemand die an Idiotie kaum noch zu überbietende Forderung heraus, an Bahnhöfen, besser noch an Bushaltestellen, Gepäckschleusen zu errichten.

Selbst für die Forderung nach der Vorratsdatenspeicherung sind sich die Superspezialexperten der CSU nicht zu schade. Sekunde, die haben wir doch schon? Die sollte uns doch aber vor allem Bösen bewahren, wenn uns auch nicht ganz klar ist, wie. Ja, das lag daran, dass sie nicht vorrätig und speicherig genug war. Wenn wir das Pferd totgeritten haben, kaufen wir uns einfach eine größere Peitsche.

Damit es auch denen klar wird, deren IQ gerade einmal zum Union-Wählen reicht: Gegen Küchenmesser, Autos und Rucksäcke hilft kein noch so ausgeklügelter Polizeistaat. Es ist nicht so, als hätten wir nicht 56 Jahre lang ausprobiert, ob uns die totale Überwachung nicht von allem Übel erlöst. Wir haben sogar zwei verschiedene politische Richtungen sich an der Aufgabe versuchen lassen - nur um sicher zu gehen. Am Ende der Versuchsreihe 1989 waren wir uns einig: hat nicht funktioniert. Die Überwachung war zwar so gut, dass wir sogar Leute ins Gefängnis steckten, die den falschen politischen Witz rissen, aber Kriminalität gab es trotzdem. Gesetze sind in erster Linie für die Gutwilligen, die Dummen und die Faulen. Alle Anderen finden immer einen Weg, sie zu umgehen. Natürlich bekommen wir das Darknet irgendwie abgeschaltet oder zumindest den Zugang dazu erheblich erschwert. Die Chinesen zeigen, wie es geht. Das hindert aber niemanden, an den staatlichen Sperrmaßnahmen vorbei dennoch ins Onion-Netz zu gelangen. Was wir (oder die meisten von uns) durch ein Tor-Verbot verlieren, ist eine der letzten Möglichkeiten, frei und anonym zu kommunizieren. Was wir gewinnen ist - nichts. Nicht einmal Sicherheit vor Terroristen.