Dienstag, 20. Dezember 2016

Bewundert mich, ich bin betroffener als ihr!

Wahrscheinlich wäre es gar keine schlechte Idee, im Fall von emotional aufwühlenden Ereignissen bei Twitter einen Verzögerungsschalter einzubauen, der jedes Posting für 24 Stunden puffert und danach den Verfasser fragt: "Hömma Kumpel, jetzt nachdem du eine Nacht darüber geschlafen hast, willst du den Schwachsinn wirklich immer noch posten?" Der Welt bliebe vieles erspart.

Es geht mir nicht um diejenigen, die einfach nur ehrlich entsetzt sind und um Worte ringen. Es geht mir um diese Typen, die unbedingt noch eine Schippe drauflegen, die aller Welt zeigen müssen, dass es nur eine Person gibt, die das Ergeignis so richtig mitnimmt, die noch wirkliche, wahre, reine, fast möchte ich sagen: reinrassige Emotionen hat. Schaut her, habt mich lieb, ich bin viel wichtiger als die 12 Toten, retweetet mich, favt mich!

Ein besonders schönes Beispiel für das selbstverliebte Aufmerksamkeitsgeheische drehte seine Runden unmittelbar, nachdem die ersten Reportagen vom Tatort gesendet waren. Da hatte nämlich ein ganz Eifriger besonders gründlich hingesehen und entdeckte im Hintergrund eines Reporters stehend einen jungen Mann, dem Aussehen nach nicht mit gültigem Arierausweis, der dem Anschein nach in sein Mobiltelefon spricht und - DABEI LÄCHELT!

UNFASSBAR! Da gibt es einen Führerbefehl vom Reichsemotionsamt, der nicht nur jedwede Gesichtsregung außer "Merkel beim Essen einer Zitrone" verbietet und dieser, sagen wir's doch ruhig: MUSELMANN besitzt die infame Frechheit, im Angesicht des Schreckens sich der von der Twitter-Empöreria verordneten Staatstrauer zu widersetzen.

So, und jetzt einmal ganz langsam für die Leute, deren IQ leider nur zum CDU-Wählen gelangt hat. Erstens: Woher wisst Ihr, dass das Bild überhaupt echt ist? Noch gestern krakeeltet ihr herum, Fake-News seien ja so wahnsinnig schlimm, die gehörten verboten, das Netz zensiert, die Täter schärfstens bestraft, aber kaum passt es euch in euer verqueres Weltbild, leitet ihr blind jeden Quatsch weiter. Klar, natürlich ist das Foto echt, so ist er halt, der Muselmann. Den freut es doch, wenn Ungläubige umkommen.

Selbst, wenn das Bild echt sein sollte: Habt ihr euch mal den Kontext angesehen? Was geschah in den Sekunden vor und nach der Aufnahme? War der Kerl vielleicht völlig fertig mit der Welt, weil er das alles miterlebt hat, und wird gerade von seiner Freundin mühsam wieder aufgebaut? Hat der Poster vielleicht den einen Frame getwittert, auf dem der Mann kurz gelächelt hat?

Woher wisst ihr, worüber er telefoniert? Habt ihr zugehört? Was maßt ihr euch an, anderen Menschen Emotionen vorschreiben zu wollen? Habt ihr noch nie davon gehört, dass Menschen zu den absurdesten Reaktionen neigen, wenn sie unter Schock stehen? Ihr jammert herum, wenn die Kirche am Karfreitag Tanzveranstaltungen verbietet, aber wenn es um eure eigenen Befindlichkeiten geht, sind die Taliban im Vergleich zu euch liberal. Nein, Differenzierung, zweimal nachdenken, bevor man einmal postet, das ist euch zu kompliziert. Schnell den Tweet rausschicken, mit ein bisschen Glück schafft man es damit auf irgendeine Twitterwall und hat dort seine 10 Sekunden Ruhm.

So wichtig soziale Medien bisweilen auch sein können, so unerträglich sind sie in solchen Momenten auch.

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