Ein Mann betet jeden Abend vor dem Schlafen das gleiche Gebet: "HErr, bitte lass mich im Lotto gewinnen." - ohne Ergebnis. Eines Abends aber, er hat gerade wieder die Hände gefaltet, leuchtet auf einmal der Raum in strahlendem Weiß, Engelschöre ertönen, und eine hallende Stimme spricht: "Komm, gib mir eine Chance, kauf dir ein Los."
Der Witz ist alt, das weiß ich selbst. Ich habe ihn auch schlecht erzählt. Im Witzeerzählen war ich schon immer eine Niete. Darauf kommt es mir aber auch nicht an. Vielmehr geht es mir um den Unterschied zwischen statistischer Wahrscheinlichkeit und einem tatsächlich eintretenden Ereignis.
Der Mann aus der Geschichte handelt statistisch gesehen äußerst vernünftig. Wie man leicht ausrechnet, gibt es 13.983.816 Möglichkeiten, sechs Zahlen aus 49 möglichen zu ziehen. Wer Lotto spielt, muss sich darüber im Klaren sein, dass er höchstwahrscheinlich niemals einen nennenswerten Gewinn erzielen wird. Auf der anderen Seite gibt es nur eine Möglichkeit, herauszufinden, ob man nicht vielleicht doch einen Volltreffer landet: mitspielen.
Das heißt nicht, dass ich dazu aufrufe, Lotto zu spielen. Ich finde das Spiel langweilig, und wenn man unbedingt zocken will, dann ist jede noch so unseriöse Börsenspekulation um Klassen fundierter als das Vertrauen auf 49 in einer Plexiglaskugel herumspringende Pingpongbälle.
Geht es also darum, das Auf und Ab runden Plastiks anhand statistischer Wahrscheinlichkeiten zu beurteilen, habe ich damit keine Schwierigkeiten. Anders ist es, wenn man auf die gleiche Weise Menschen behandelt.
Natürlich schätzen wir unsere Mitmenschen anhand von Wahrscheinlichkeiten ein. Jedes Mal, wenn Sie bei Grün über eine Ampel gehen, vertrauen Sie darauf, dass die wartenden Autofahrer genug Verstand haben, mit dem Fahren bis zur nächsten Grünphase zu warten. Gegen diese Erwartungshaltung ist nichts einzuwenden. Schwierig wird es erst, wenn Ihr gesamtes Menschenbild nur noch von statistischen Einschätzungen abhängt. Genau das ist es aber, was moderne Datensammler praktizieren.
Wir stecken in der paradoxen Situation, dass unglaublich genaues Wissen über jeden von uns existiert, dass aber dieses Wissen nicht etwa genutzt wird, um uns individuell zu behandeln, sondern uns über einen Kamm zu scheren. Man interessiert sich nicht dafür, wie wir tatsächlich sind, sondern wie wir wahrscheinlich sein könnten. Bekanntestes Beispiel ist das so genannte Scoring anhand Ihrer Wohngegend. Wenn in Ihrem Umfeld viele Leute wohnen, die ihre Kredite nicht rechtzeitig zurück zahlen, kann es sein, dass man Ihnen bestimmte teure Waren gar nicht erst anbietet - allein aufgrund des für sie gemittelten Wertes. Ob Sie selbst liquide sind und schon ein schlechtes Gewissen bekommen, wenn Sie die Miete aus Versehen nicht zum Monatswechsel, sondern einen Tag später überwiesen haben, interessiert dabei nicht. Aus dem gleichen Grund könnte es sein, dass die KFZ-Haftpflicht für Sie nur die teuren Policen hat - immerhin bauen Ihre Nachbarn ungewöhnlich viele Unfälle.
Unsere Kultur möchte gern jede Gefahr vorhersehen. Man sammelt möglichst viel Wissen über die Anderen, um sie bestimmten Risikogruppen zuzuordnen. Was gern übersehen wird: Man kann sich nicht gegen jede Bedrohung absichern, und je intensiver man es versucht, desto absurdere Formen nimmt der Versuch an. Kinderlose Frauen sind unbeliebte Angestellte, weil sie heiraten und Kinder bekommen könnten. Wer sich wenig bewegt und das Falsche isst, riskiert Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Was meinen Sie, wie sehr sich Ihre Krankenkasse für die Daten Ihrer Payback-Karte interessiert? Wer in irgendwelchen obskuren Bürgerinitativen aktiv ist und dann vielleicht noch ein paar Muslime kennt, ist mit höherer Wahrscheinlichkeit ein Terrorist als der CDU-wählende Besitzer einer Kleingartenparzelle.
Vorurteile bilden wir praktisch automatisch, wenn wir einen uns unbekannten Menschen treffen. Allein schon die Frage, ob wir jemanden auf Anhieb sympathisch finden, entscheidet sich aufgrund platter Vorurteile. Die Frage ist nur, ob wir aufgrund unserer Statistiken an diesen Vorurteilen kleben bleiben oder genug Interesse an anderen Menschen haben, um die statistische Wahrscheinlichkeit mit der wahren Person abzugleichen.
Das Wissen umeinander ist nicht per se böse. In jeder guten Partnerschaft kennt man sich bis ins Detail. Die Bewohner eines beliebigen Eifelkaffs wissen voneinander, wann wer aufsteht, einkaufen geht, was er einkauft und welche Partei er wählt. Stadtmenschen mag diese Intimität zu weit gehen, aber manche Leute wollen diese Nestwärme. Der Unterschied zwischen dem Eifeldorf und den Datenhalden Ihrer Krankenkasse, Google oder T-Online besteht aber auch gerade darin, dass Sie von den Dorfbewohnern noch als Mensch wahrgenommen werden. Man tratscht vielleicht übereinander, aber man sieht in erster Linie, was Sie sind, nicht das, was Sie statistisch gesehen sein könnten. Wenn Ihre Nachbarn Ihr Privatleben in- und auswendig kennen, kann dies auf dem Dorf sogar manchmal nützlich sein, wenn sich jemand wundert, warum bei Ihnen schon seit Tagen abends kein Licht mehr brennt, obwohl Sie nicht im Urlaub sind, und lieber nach dem Rechten sieht. Es kann ja sein, dass Ihnen etwas zugestoßen ist. Es kann auch sein, dass man Sie anspricht, wenn man meint, dass Ihre Kinder mit den falschen Leuten Umgang pflegen. Nennen Sie es ruhig kleinbürgerlichen Mief, aber in Dorfgemeinschaften haben sich solche Mechanismen über Jahrhunderte bewährt.
Glauben Sie aber nicht, dass es dieses fürsorgliche Umeinander-Kümmern ist, was Google und Facebook umtreibt, alles nur Denkbare über sie zu erfahren. Im besten Fall geht es darum, Sie optimal mit Werbung zu versorgen, häufig genug aber einfach darum, ein von Ihnen ausgehendes Risiko besser kontrollieren zu können. Vor allem ist es ein asymmetrisches Wissen. Im Gegenzug zu all dem, was über Sie gespeichert wird, bekommen Sie ja nicht etwa genauen Einblick darüber, was mit diesen Daten geschieht, sondern sie können allenfalls an einem mit Werbebriefen vollgestopften Briefkasten sehen, dass wieder irgendjemand Ihre Daten bekommen hat. Was genau er weiß, wer es ihm verraten hat, und wem er es seinerseits erzählen wird, werden Sie nie genau wissen.
Nur komisch, dass Ihnen Ihre Bank neuerdings so schlechte Konditionen für Kredite anbietet.
1 Kommentar:
Hi, ich muss sagen, einen so schönen Beitrag der die ganze Thematik auch noch so schön zusammenfasst habe ich schon lange nicht mehr gelesen... Danke und bitte weiter so!!!
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