Donnerstag, 21. Januar 2010

In Erinnerung an George Orwell

Man mag es einem eher technisch orientierten Menschen nachsehen, dass sein Gedenken an George Orwell sprachlich weniger eloquent ausfällt als die Literaturbeilage der "Zeit". Auch will ich nicht die hinlänglich bekannten Rahmendaten seines Lebens abspulen. Ich gehe davon aus, dass Sie die Werkzeuge der Informationskloake hinreichend gut beherrschen, um sich alles Nötige selbst zusammenzusuchen. Mein Blick auf Orwell ist daher ein persönlich geprägter.

Als ich erstmals von "1984" erfuhr, war es 1983 und die Diskussion um die Volkszählung in vollem Gange. Jeder - und ich meine damit: wirklich jeder - fühlte sich berufen, zum "Orwell-Jahr" seinen unqualifizierten Kommentar loslassen zu müssen, Beispiel: "Der siebte Führungswechsel an der Tabellenspitze der Bundesliga und die Punktverluste von Stuttgart, München und Hamburg unterstreichen, dass im Orwell-Jahr alles möglich ist." (dpa, 6.2.84) Noch ein Beispiel: "Es kommt, wie es im Orwell-Jahr 1984 wohl kommen muss: Das 21. Titelrennen in der Fußballbundesliga entpuppt sich als Neuauflage des Duell der 'Großen Brüder' Bayern und HSV, die seit 1979 die Meisterschale gepachtet haben." (Offenbacher Sport-Post, 19.3.84) Gut, es ist kein Geheimnis, dass man Sportjournalist nicht gerade deshalb wird, weil man in der Schule bei den intellektuell herausfordernden Fächern besonders gut aufgepasst hat, aber mal unter Geschwistern: Heißt das in der Konsequenz wirklich, dass man jede Bildungslücke, die einem durch den hoffnungslos überforderten Denkapparat wabert, so weit von jeglicher Selbstkritik entfernt dem entgeisterten Publikum zur Schau stellen muss?

Zurück ins Jahr 1983. Die von mir oben gebrachten Zitate waren zwar noch nicht geschrieben, aber man ahnt, dass solche geistigen Totalausfälle sorgfältig vorbereitet werden müssen. Mit "1984" war und ist es wie mit vielen anderen bekannten Büchern: Kaum einer liest sie, aber jeder redet darüber, und weil praktisch niemand weiß, was wirklich drin steht, gibt es auch nahezu keinen, der dem überbordenden Dummschwatz durch Faktenwissen Einhalt gebietet.

Doch ich war jung und glaubte an das Gute, insbesondere daran, dass man Bücher, über die alle so klug reden, auch kennen sollte. Also ging ich hin und lieh mir das Buch aus.

Im Nachhinein stellte ich fest, dass ich mit der Seitenzahl, bei der ich entnervt zu lesen aufhörte, guter Durchschnitt war. Ich fand "1984" ein ödes Machwerk, zäh geschrieben und so meilenweit von jenem hochtechnisierten Überwachungsstaat entfernt, auf den wir uns alle damals zuschliddern sahen, dass ich mich für meine polemischen Ausfälle auch ohne dieses Buch bestens gerüstet sah. Unterstützt wurde ich in meiner Faulheit von Neil Postman, der in "Amusing ourselves to death" die These vertrat, Huxleys "Brave new world" beschriebe viel zutreffender eine drohende Zukunft, in der wir völlig verblödet so brav dahin trotten, dass es keines Überwachungsapparates bedarf, um uns zu zügeln. Huxley hatte ich gelesen, also was soll's?

In der Schule lasen die Englischkurse "Animal Farm", und weil auch dieses Buch unter dem Eindruck einer kommenden kommunistischen Unterdrückungsherrschaft geschrieben zu sein schien, was jeder brave Linke damals weit von sich wies, war das Thema Orwell für mich erst einmal erledigt.

Reden wir nicht drum herum: Das war unfassbar dumm von mir. Jedes Regime, das seinen Untertanen das Recht auf Individualität verweigert, ist ein verbrecherisches Regime. Es ist egal, ob der Ausbeuter nun Firmenchef oder Genosse Staatsratsvorsitzender heißt, es ist egal, ob man die Lager Gulag oder KL nennt, es ist egal, was genau man den Menschen zu denken vorschreiben möchte, verachtenswert ist es so oder so. Beim Sozialismus kommt erschwerend diese vollkommen lächerliche Verherrlichung der Arbeit hinzu. Gibt es auch nur einen Menschen mit Verstand, der um der Arbeit willen arbeitet? Natürlich nicht, zuallererst geht es darum, sich den Lebensunterhalt zu sichern, und erst, wenn diese Frage geklärt ist, hat man überhaupt die Chance, darüber nachzudenken, ob man das Ganze auch irgendwie netter gestalten kann. Nur weil wir Geeks das Glück haben, für unser Hobby bezahlt zu werden, heißt dies nicht, dass die Lidl-Kassiererin auch nur eine Sekunde länger am Platz säße, wenn man ihr anböte, dass sie ihr Geld auch so bekommt.

Angesichts dessen, dass nicht der Name des Unterdrückungssysytems, sondern die Unterdrückung selbst das Unrecht darstellt, ist es nicht weiter wichtig, wen Orwell nun genau vor Augen hatte, als er "1984" schrieb. Ich brauchte ein paar Jahre, um das zu begreifen. Gleichzeitig begriff ich, dass uns alle geistigen Tiefschläge des Privatfernsehens nicht vor einem Überwachungsapparat bewahrt haben. Allein die Vorratsdatenspeicherung ermöglicht Observation in einer Vollkommenheit, die selbst in Orwells extremen Vorstellungen kaum erreicht wurde. Ausschlaggebend für mich, "1984" doch noch einmal zur Hand zu nehmen und diesmal durchzulesen, war für mich jedoch weniger die Frage, ob die technischen Ideen des Buches Wirklichkeit wurden, sondern eine Chaosradio-Express-Folge mit Martin Haase, in der es um Neusprech und die Frage ging, wie in der heutigen Politik die vor sechzig Jahren beschriebenen Stilmittel angewandt werden. Die Antwort: oft und reichlich.

Dass wir mit Community-Portalen, Payback-Karten und elektronischer Kommunikation eine breite Datenspur hinterlassen, ist inzwischen Allgemeingut. Weniger auffällig sind andere Parallelen zu "1984". So befindet sich in der Geschichte England in einem permanenten Kriegszustand, wobei niemand richtig weiß, worum es in diesem Krieg überhaupt geht, zumal die Koalitionen ständig wechseln, was aber durch Geschichtsfälschung vertuscht wird. Gleichzeitig dient der Krieg als Begründung für diverse Verknappungen. Wie sich herausstellt, sind die Verknappungen wirtschaftlich nicht nötig, aber sie halten das Volk in der richtigen Stimmung, ermöglichen ein Belohnungssystem für besonders verdiente Helfer, und darüber hinaus kann man das, was man den Anderen vorenthält, auch gut für sich gebrauchen. Bei allem Mangel gibt es aber vor allem eines reichlich: Propaganda.

Wie sieht es in der Realität aus? Ab Mitte der Vierziger befanden wir uns im Kalten Krieg. Die Taliban, Bin Laden und Hussein waren gern gesehene Partner des Westens bei der Bekämpfung der roten Gefahr. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion herrschte kurze Zeit Ratlosigkeit, dann stellte sich aber mit dem Irak und spätestens mit den Anschlägen auf das World Trade Center heraus, wer einen fantastischen neuen Gegner abgeben könnte: die Taliban, Bin Laden, Hussein, oder einfacher: der islamistische Terror. Moment mal, das waren doch eben noch unsere besten Freunde? Waren sie das? Nie gehört, nein, die waren immer schon böse.

Böse teuer ist vor allem auch der Krieg gegen den Terror, für den wir lauter cooles Zeug in Stellung bringen: Neue Scanner an den Flughäfen. Ferngesteuerte unbemannte Flugzeuge, computergestützte Überwachungsfilmanalysen, mit denen man bekannte Gesichter zuverlässig aus der Menge herausfinden und unbekannte Gesichter anhand ihres Verhaltens als wahrscheinliche Terroristen identifizieren kann, automatische KFZ-Kennzeichenerkennung, per Funk heimlich auslesbare Personalausweise, Fingerabdruckscanner an Schulen, Internetzensur und durch Vorratsdatenspeicherung erstellte Beziehungsprofile. Natürlich, so sagt die Regierung, kosten diese Maßnahmen eine Menge Geld, und deswegen müssen wir einigen luxuriösen Ballast loswerden, den wir uns während der fetten Jahre angesammelt haben: Ein Krankenversicherungssystem zum Beispiel, in dem die Leute gesunde Zähne haben können, ohne dafür einen Kredit aufnehmen zu müssen. Ein Bildungssystem, in dem man einen Hochschulabschluss erwerben kann, ohne auf Jahrzehnte verschuldet zu sein. Eine Rentenversicherung, bei der man nach Jahrzehnten des Beitragzahlens einen Lebensabend oberhalb des Sozialhilfeniveaus führen kann. A propos Sozialhilfe: Wenn die Firma durch katastrophales Missmanagement in die Pleite schliddert, ist das natürlich allein Schuld der Arbeiter, und wenn ein Doktor der Physik nach jahrelangem teurem Studium Schwierigkeiten damit hat, bis zum Ende seiner Tage für einen Euro pro Stunde im Park Müll zu sammeln, dann soll dieser elende Sozialschmarotzer verhungern. Wir leben in harten Zeiten, da muss jeder mit anpacken.

Bis auf die Banken vielleicht.

Interessant ist auch, was wir mit unserer Sprache angestellt haben. Dass wir die elektronische Krankenkarte auf einmal "Gesundheitskarte" nennen, dass es plötzlich keine Studiengebühren, sondern nur noch "Studienbeiträge" gibt, dass wir "Zugangserschwerung" sagen, wenn wir Zensur meinen, mag ja noch als Schönfärberei durchgehen. Dass wir Völkermord "ethnische Säuberung" nennen, zu Folter "innovative Verhörmethoden" sagen und Kriegsgefangenen ihren völkerrechtlichen Status verweigen, indem wir sie "ungesetzliche Kombattanten" nennen, ist mit den Begriffen "zynisch" und "zutiefst verachtenswert" so liebevoll umschrieben, dass allein die Tatsache, dass dieses Blog auch abends vor 22 Uhr von Minderjährigen gelesen werden kann, den Text vor einem langen Ausflug in die Fäkalsprache bewahrt. Es hat einige Jahrtausende und Millionen Tote gedauert, bis sich wenigstens in Teilen der Welt die Auffassung durchgesetzt hat, dass ein Mensch immer eines bleibt - egal, was er getan hat, egal wie groß sein Fehler, wie furchtbar seine Verbrechen waren: ein Mensch. Wenn wir eine Sprache benutzen, die genau diese Tatsache bestreitet, fallen wir in eine Zeit weit vor der Aufklärung zurück.

"1984" mag zu einer anderen Zeit auf ein anderes System gemünzt sein, aber offenbar funktionieren die Mechanismen des Präventivstaates ideologieübergreifend. Man mag sich darüber streiten, wem bei uns die Rolle Immanuel Goldsteins zufällt, ob es eine Hasswoche gibt und ob die Versuche, einen Bundestrojaner als staatlich verordnete Hintertür auf jedem Rechner zu installieren, der Bekämpfung von Gedankenverbrechen dienen, aber einige Charakteristika hat Orwell offenbar gut erkannt.

Als Orwell die letzten Kapitel seines Buches schrieb, war er bereits schwer erkrankt, und möglicherweise wäre das Ende des Romans optimistischer ausgefallen, wenn Orwells Körper in anderer Verfassung gewesen wäre. Doch gerade das fatalistische Ende, die Beschreibung der Hoffnungslosigkeit des Individuums gegenüber einem allumfassenden Herrschaftssystem, lässt den Appell klarer werden: So wie in "1984" beschrieben, kann es aussehen, wenn man es zu weit kommen lässt. Noch befinden wir uns jedoch in einer Demokratie - zwar auf dem besten Weg in den Präventivstaat, aber noch mit einigen intakten Mechanismen zur Verteidigung der Menschen- und Bürgerrechte. Wir sollten sie nutzen.

Eric Arthur Blair alias George Orwell starb am 21.1.1950 in London.

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