Aiwanger. Hubert Aiwanger, oder auch Hubot Oiwongo, wie er sich selbst zu nennen pflegt. Die Synchronstimme von Seelefant aus den Urmelfilmen, wahlweise auch der Hund aus dem Loriot-Sketch, von dem es am Ende heißt: "Ich glaube, Ihr Hund kann gar nicht sprechen. Er beherrscht nur einen einzigen Laut, sowas wie 'o'." Der Mann, der nur wenige Sekunden zu reden braucht, um von jeder Amtsärztin den Hirntod attestiert zu bekommen. Als ich die Nachricht über den Flugblattfund in seinem Schulranzen hörte, war meine erste Reaktion: Unfassbar, Aiwanger kann schreiben?
Über das Flugblatt selbst brauchen wir nicht zu streiten. Es ärgert mich, wenn es verniedlichend als "antisemitisch" bezeichnet wird. Die Generation meiner Großeltern war antisemitisch, weil ihnen bei der HJ und dem BDM das so beigebracht worden war. Nach Ende des zweiten Weltkriegs begriffen sie, dass dies falsch ist und sie so nicht reden sollten. Die Vorurteile aber blieben. Trotzdem hätten sie niemals so ein Flugblatt verfasst. Antisemitismus ist verwerflich, aber nicht unbedingt strafbar. Das Flugblatt hingegen ist es meines Erachtens, zumindest nach heutigem Recht. Es geht weit über das hinaus, was sich noch als geschmackloser Witz verharmlosen ließe. Ich bin ungefähr zur gleichen Zeit wie Aiwanger aufs Gymnasium gegangen und bezweifle, dass er an meiner Schule mit einem Referat davongekommen wäre. Ja, es waren andere Zeiten, aber auch Ende der Achtziger hätte sich bei diesen Sprüchen niemand auf eine pennälerhafte Provokation herausreden können. Auch wir hatten Grenzen.
Aiwanger ist fällig - aber nicht wegen eines 36 Jahre alten Flugblatts, sondern seines heutigen Umgangs damit. Hätte er sich gleich am Anfang vor die Kameras gestellt, die damaligen Ereignisse beschrieben, sich glaubwürdig distanziert und entschuldigt, wäre die Sache heute durch und niemand (zumindest niemand, den ich erstnehmen könnte) spräche davon, dass ein Ende der Achtziger von einem pubertierenden Pennäler zusammengeschmiertes Pamphlet heute noch Konsequenzen haben müsste. So aber schweigt Aiwanger, gibt gerade einmal das zu, was selbst für den simpelsten Verstand offensichtlich ist, schickt seinen Bruder vor, der auf einmal das Flugblatt verfasst haben soll, während der stramme Antifaschist Hubert nur beim Einsammeln behilflich war und ansonsten Erinnerungslücken aufweist (in seinem Duktus "ös nüchd örünnerlüch üsd"), die sogar den Kanzler anerkennend nicken lassen.
Selbst seine Entschuldigungserklärung, deren einziger Schönheitsfehler in meinen Augen darin bestand, dass er es bedauere, "falls" und nicht "dass" er jemanden verletzt haben sollte, reißt er wenige Tage später mit dem Hintern wieder ein, indem er wieder von einem "schlechten Witz" spricht. Distanzierung und Einsicht sehen anders aus.
Es geht nicht um ein Strafprozessverfahren, in dem ein Vorwurf zweifelsfrei bewiesen sein muss (oder was unter Juristinnen so als Beweis durchgeht). Wir sind in einer politischen Debatte, und da geht es vor allem um Stil, um Moral und Glaubwürdigkeit. Ginge es darum, in einem Gerichtsprozess die Anklage auf Volksverhetzung abzuwehren, kann Herumlavieren durchaus eine sinnvolle Strategie sein. Selbst wenn alle im Raum wissen, dass der Angeklagte lügt, ist er so lange freizusprechen, wie ihm nichts nachgewiesen werden kann. Wir werden wahrscheinlich nie genau wissen, wann wer auf welcher Schreibmaschine was getippt und wem in die Hand gedrückt hat. Juristisch gesehen ist Aiwanger sauber, aber das ist egal. Interessant ist nicht der Schulbubb vor 36 Jahren, sondern der stellvertretende Ministerpräsident Bayerns heute, und an dem gibt es reichlich auszusetzen.
Da wäre zum Beispiel seine Dunning-Kruger-hafte Unfähigkeit, einzusehen, dass er von einem Thema keine Ahnung hat. Als im Juli 2021 die Debatte um Coronaimpfungen ging und wegen der Komplexität des Themas kaum jemand darüber zu sprechen wagte, der nicht mindestens einen Doktortitel in Medizin, besser noch nachgewiesene Fachkunde in Virologie aufzuweisen hatte, erklärte Aiwager im Deutschlandfunk seine - vorsichtig gesagt - "Distanz" zum Impfen mit den Worten: "Ich bin Landwirt. Ich bin Naturwissenschaftler." Eine Aussage, so wahr und doch so falsch.
Söder konnte auch kaum etwas Besseres passieren als diese Affäre. Dem konservativen Lager wird sie keine einzige Stimme kosten. Noch nie hat es einem bayerischen Politiker geschadet, zu weit rechts zu stehen. Allenfalls werden sich einige Freie Wähler entschließen, wieder zurück zu ihrer eigentlichen Stammpartei, der CSU, zu wechseln. Sollte Aiwanger sich halten können, ist er zumindest so geschwächt, dass er gegenüber dem Koalitionspartner weniger großspurig auftreten kann. Insgesamt scheint es aber so, dass die Freien Wähler hinter Aiwanger stehen und ihm seine Selbstinszenierung als Opfer nicht verübeln. Das stört Söder nicht. Er braucht den comic relief, der die Lacher auf sich zieht, um von den Peinlichkeiten der Hauptfigur abzulenken. Söder allein ist nicht viel mehr als ein auf Effekthascherei fixierter Selbstdarsteller. Erst durch Vize Aiwanger wird klar: Es gibt immer noch Spiel nach unten.
Seine Unterstützer sprechen von einer Kampagne. Ganz aus der Luft gegriffen ist diese Vermutung nicht. Der Zeitpunkt des Wiederauftauchens des Flugblatts hat schon a Gschmäckle. Ich fand es albern, als im Jahr 2013 anlässlich der Verleihung des Theodor-Heuss-Preises an den Europaabgeordneten Daniel Cohn-Bendit einige extrem verstörende Texte aus der Frühzeit der Grünen hervorgekramt wurden - dreißig bis vierzig Jahre nachdem sie verfasst worden waren. Die CDU hielt dem SPD-Politiker Herbert Wehner seine kommunistische und möglicherweise auch nicht ganz friedliche Vergangenheit in den Dreißigerjahren vor. Auch in der Vergangenheit des Bundesumweltministers Trittin wurde herumgewühlt - erfolglos, aber von Fakten ließ sich "Bild" nie sonderlich aus der Ruhe bringen. All diesen Suchaktionen gemein war der Versuch, einem Ziel irgendwelche Dinge aus der Vergangenheit anzuhängen. So ist es ein interessanter Zeitpunkt, ausgerechnet so kurz vor der bayerischen Landtagswahl einen Vorgang herauszukramen, dass er lang genug im Gespräch bleibt, um vielleicht doch noch die Stimmabgabe zu beeinflussen, aber nicht so lang, dass die unterhaltungslüsterne öffentliche Debatte sich schon längst dem nächsten Eichhörnchen zugewendet hat. Ich frage mich, was ein ehemaliger Lehrer, der damals einer über Aiwanger verhandelnden Disziplinarkommission angehörte, dreieinhalb Jahrzehnte lang mit dem bei seinem Schüler gefundenen Flugblatt angestellt hat. Warum hat er es die ganze Zeit aufgehoben? Ist er ins Schularchiv gegangen, um sich von dort eine Kopie zu besorgen? Ich weiß, das Wort "Datenschutz" will niemand hören, wenn es nicht um die eigene Klientel, sondern den politischen Gegner geht, aber gibt es nicht auch an Schulen Löschfristen? Ist Hubert Aiwanger eine derart bedeutende Figur der Zeitgeschichte, dass auch seine Vergehen als Minderjähriger unbegrenzt der Nachwelt erhalten werden müssen? Finden wir das Recht auf Vergessen zwar grundsätzlich gut, aber bei Antipathen wie Aiwanger heben wir gern alles auf - wer weiß, wozu es gut ist? Nein, Hubert Aiwanger ist kein Opfer einer "Hexenjagd", so sehr er diesen Eindruck zu erwecken sich auch bemühen mag, aber dass es der "Süddeutschen Zeitung" nur um hehren Journalismus und faktenbasierter, politisch möglichst neutraler Berichterstattung geht, kann sie Kai Dieckmann erzählen, nicht mir.
A propos, erinnert sich noch jemand an diesen Satz: "Ich werde dich finden, und anspucken, dann aufhängen mit einem Messer anstupsen und bluten lassen."? Stammt er von a) Hubert Aiwanger, Vorsitzender der Freien Wähler in Bayern oder seinem Bruder, b) Bernd Höcke, Vorsitzender der AfD Thüringen oder c) Sarah-Lee Heinrich, Vorsitzende der Grünen Jugend? Genau, das waren die Tweets, die im Jahr 2015 von ihr geschrieben und im Jahr 2021 herausgekramt wurden, um sie ihr vorzuhalten. Heinrich war 14, als sie diese Texte verfasste. Was wiegt schwerer: sechs Jahre alte Tweets einer Vierzehn- oder 36 Jahre alte Flugblätter eines Siebzehnjährigen? Ich will das an dieser Stelle nicht klären. Auffällig ist nur, dass ihre Sympathisantinnen fast wortgleich mit den Unterstützerinnen Aiwangers reagieren, von einer "Hetzkampagne" und von "Cancel Culture" sprechen, die Aussagen als "lustiges Meme" oder einen "dummen Spruch" kleinzureden versuchen, und auch was das eigene Erinnerungsvermögen angeht, ist Heinrich schon eine echte Profi-Politikerin, wenn sie zu einem Tweet, bei dem sie unter ein Hakenkreuz das Wort "Heil" geschrieben hat, sagt, "sie könne sich nicht mehr daran erinnern, ihn gepostet zu haben". Die "taz" stellt sich ihr zur Seite und nennt sie eine "progressive Twitter-Userin". Ja, wenn das so ist, dann darf sie sowas auch schreiben. Ich halte fest: An Bigotterie lässt sich die linke Blase nicht so leicht von den Rechten die Butter vom Brot nehmen.
Diese ganze Debatte hätte Aiwanger mit einer einzigen glaubwürdigen Pressekonferenz vom Tisch haben können. Niemand beschuldigt Innenminister Otto Schily, im Jahr 1968
RAF-Mitglieder verteidigt zu haben - allenfalls der Rutschpartie durchs
politische Spektrum, die er seitdem hingelegt hat. Die Grünen mögen in den Siebzigern und Achtzigern zutiefst bedenkliche Positionen zur Pädophilie diskutiert haben - den Versuch, sie in Gesetzesform zu gießen, gab es meines Wissens nie. Mich interessiert nicht, was die Grünen in ihrer Findungsphase verzapft haben, sondern das, was sie heute anstellen, und da gibt es reichlich Grund zur Kritik. Aus dem gleichen Grund ändert Aiwangers Naziflugblatt nichts an meiner Ablehnung ihm gegenüber. Aktuelle Anlässe, von der politischen Bühne zu verschwinden, gibt es für ihn meiner Ansicht nach genuh, und wenn ein vor 36 Jahren geschriebener Zettel das Einzige wäre, was sich ihm vorwerfen ließe, hätten seine politischen Gegner nichts gegen ihn in der Hand. So aber passt sein Umgang mit der Vergangenheit in das trampelhafte Gesamtbild, das er abliefert. Dafür sollte er gehen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen