Eigentlich könnte es mir völlig egal sein, wer sich wann warum wo auf welche Straße klebt. So selten, wie ich Auto fahre, müsste es schon ein enormer Zufall oder der Protest enorm eskaliert sein, wenn ausgerechnet ich in einem von der "Letzten Generation" verursachten Stau stehe. Trotzdem fühle ich mich von dieser Aktionsform aus mehreren Gründen genervt.
Erstens ist es der Mangel an Originalität. Auf Straßen festkleben, ist das wirklich alles, was euch einfällt? Ah nein, ihr könnt euch auch an Bildern festkleben. Oder an Tischen. Oder an Dirigentenpulten. Das mag am Anfang noch ganz lustig sein, aber auf Dauer? Ich weiß nicht. Nehmen wir zum Vergleich Greenpeace. Die haben in den Achtzigern auch viel blockiert, aber sie waren dabei einfallsreich. Mal haben sie sich an Werkstoren festgekettet, mal von Brücken abgeseilt, Schornsteine besetzt, und wenn sie ganz wild drauf waren, kreuzten sie in halsbrecherischen Manövern vor Frachtschiffen, kletterten auf ausgemusterte Ölbohrplattformen oder bemalten Robbenbabies. Die direkte Auswirkung war ähnlich wie beim Festkleben auf Straßen: Behinderung. Was Greenpeace aber deutlich besser verstand als die "Letzte Generation", war die Wirkung in der Öffentlichkeit, und hier kommt es weniger auf die technische Effektivität als auf den Unterhaltungswert an. Greenpeace hat ständig neue Bilder produziert. Bei den Klebeaktionen braucht die Presse kein Kamerateam ausrücken lassen, sondern kann sich bequem aus dem Archiv bedienen. Am Ende ist es völlig uninteressant, auf welcher Straße sie diesmal sitzen und mit Zeugen-Jehovas-Blick Schilder hochhalten.
Zweitens gehört zum Mut auch die Fähigkeit, Konsequenzen in Kauf zu nehmen. Es gehört zweifelsohne Mut dazu, sich vor den Kühlergrill eines zwei Tonnen schweren Fahrzeugs zu setzen. Warum? Weil es eben nicht klar ist, dass die Fahrerin die Nerven behält, nicht weiterzufahren versucht oder nicht kräftig hinlangt. Wenn von vornherein klar ist, dass nichts passieren kann, ist das kein Mut. Wer aber über Monate auf immer gleiche Weise in einer sich ständig weiter polarisierenden Stimmung Autos blockiert, muss entweder unfassbar naiv oder selbstgerecht sein, davon auszugehen, dass alle einen bejubeln. Deutlicher gesagt: Es muss doch klar sein, dass irgendwann eine Polizistin oder eine Autofahrerin durchdreht. Nein, ich begrüße so ein Verhalten nicht. Es wundert mich nur nicht, dass es eintritt. Sich dann mit theatralischen Worten an die Öffentlichkeit zu wenden und sich als die armen, hilflosen Opfer zu inszenieren, ist bestenfalls verlogen. Nein, die Handgreiflichkeiten sind keine unvorhersehbare Eskalation, sie sind genau das, was der passive Widerstand seit Gandhi in seine Aktionen einplant: öffentlichkeitswirksame Bilder, die den Gegner als brutalen Finsterling und die eigenen Leute als Heilige Märthyrerinnen erscheinen lassen. Diese Bilder bedauert ihr nicht, ihr habt sie vom ersten Tag an herbeigesehnt. Bitte lasst die Krokodilstränen.
Drittens liegen die Grenzen von Selbstbewusstsein und Selbstgerechtigkeit eng beieinander, siehe auch den vorherigen Absatz, Die "Letzte Generation" hat die Klebeaktionen gezielt so gewählt, dass zumindest vor halbwegs neutralen Gerichten die Strafen milde ausfallen müssten. Die Penetranz, Entschuldigung, Beharrlichkeit, mit der sie sich festkleben, lässt allerdings Stimmen laut werden, die mutmaßen, hier werden die Grenzen des legitimen Protests überschritten. Dem setzt die "Letzte Generation" entgegen, immerhin ginge es hier um so grundlegende Dinge wie unser aller Überleben, da seien leichte Rechtsübertretungen legitimiert. Okay, wenn jemand Straßen blockiert, weil Autos zur Klimaerwärmung beitragen, sehe ich noch einen Zusammenhang zwischen Protestform und Anliegen. Wenn jemand Bilder mit Brei beschmiert und sich am Rahmen festklebt, fällt mir als Erstes nicht das Klima, sondern Bilderstürmerei und Kulturrevolution ein. Ähnlich geht es mir bei Aktionen ein, wenn sich jemand an einem Dirigentinnenpult festklebt. Ist das die Botschaft? Wir müssen Kultur bekämpfen, damit das Klima wieder in Ordnung kommt? Es mag ja sein, dass das Abwenden einer globalen Katastrophe derlei Mittel rechtfertigt, aber wo ist die Grenze bei der Wahl der Mittel und wo bei der Begründung? Was kommt als Nächstes? Was passiert, wenn wir uns damit arrangiert haben, dass ständig wer auf irgendeiner Kreuzung klebt? Was passiert, wenn auf einmal die Eisenbahnerinnen, die Krankenpflegerinnen, die Kindergärtnerinnen, die Verkäuferinnen und Fabrikarbeiterinnen bei den nächsten Tarifverhandlungen auf ähnliche Ideen kommen? Die Klimakatastrophe wird in den nächsten Jahrzehnten zuschlagen, aber die Kassiererin bei Aldi weiß jetzt schon kaum, wie sie über die Runden kommen soll. Da ist es vielleicht auch legitim, nicht nur einfach zu streiken, sondern leichte Rechtsverstöße zu begehen. Wie sieht es mit dem Asylrecht aus? Jeden Tag ertrinken im Mittelmeer Menschen beim Versuch, in Europa Zuflucht zu finden. Die bisherigen Versuche, die Öffentlichkeit zu sensibilisieren, haben offensichtlich wenig bewirkt. Vielleicht sind auch hier deutlichere Mittel nötig.
Allgemein ist es eine zweifelhafte Idee, Protestanliegen priorisieren zu wollen. Ich bestreite nicht, dass der Versuch, die Klimakatastrophe abzumildern, ein substanzielles Anliegen ist, aber steht er deswegen über allem anderen? Rechtfertigt er damit Mittel, die anderen Bewegungen, die für soziale Gerechtigkeit, Gleichberechtigung von Ethnien und Geschlechtern sowie Freiheitsrechte auf die Straße gehen, nicht zustehen? Bereits jetzt sehen wir, wie das Befestigen mit Sekundenkleber nicht mehr genügt und deshalb die Grenzen zur Sachbeschädigung immer mehr überschritten werden. Was passiert, wenn auch das Beschmieren mit Farbe irgendwann seine Wirkung verfehlt? Rechtfertigt der Kampf ums Überleben dann nicht auch rabiatere Methoden?
Und trotzdem
Das alles mag wahr sein, auf der anderen Seite: Welche Wahl bleibt der "Letzten Generation"? Ist es nicht das Recht, wenn nicht sogar die Pflicht der Jugend, gegen eingefahrene Werte der Eltern und Großeltern aufzubegehren? Ist es nicht umgekehrt ein schuldhaftes Versäumnis vergangener Generationen, genau diesem Konflikt ausgewichen zu sein und sich lieber um die eigene Karriere gekümmert zu haben? Holt die "Letzte Generation" gerade nach, was wir seit Jahrzehnten verpasst haben? Wie konnten wir zulassen, dass sich über Jahrzehnte in den Parlamenten Mackertypen wie Schröder, Steinbrück, Beck und Gabriel festsetzen konnten? Wie konnten Kreuzungen zwischen einer Dose Motoröl, Heintje und dem Kinderschokoladen-Jungen jemals als Parteijugend durchgehen? Wie konnten wir die politische Kultur so weit verkommen lassen, dass uns Kevin Kühnert als einziger Hoffnungsschimmer erscheint? Seien wir realistisch: Über "Fridays for Future" redet niemand mehr, seit wir die Bewegung totgelobt haben. Einmal pro Woche Schilder hochhaltende Schülerinnen lassen sich gut irgnorieren, Staus hingegen nicht. Die "Letzte Generation" nervt und hält genau damit ihr Anliegen im Gespräch. Wir können uns darüber streiten, ob sie damit am Ende mehr Sym- oder Antipathie erregen, aber immerhin schaffen sie es, regelmäßig die Talkshows mit Themen zu versorgen - das erste Mal seit der Ökobewegung der Achtziger und in Konkurrenz zum Ukrainekrieg. Das muss man erst einmal schaffen.
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