Wenn der nervige WG-Bewohner, der ständig quergeschossen, sich über den hohen Mietanteil beschwert, aber den gemeinsam genutzten Kühlschrank besonders ausgiebig geplündert hat, nach langen Jahren endlich ausziehen will, was sagen dann alle?
Genau. "Endlich."
Was sie ganz bestimmt nicht sagen, ist: "Klar, du kannst ausziehen, aber lass deine Kartons ruhig noch so lange du willst im Flur stehen, Miete musst du selbstverständlich keine mehr zahlen, aber den Schlüssel darfst du ruhig behalten, und der Inhalt des Kühlschranks ist dein."
Eine normale WG sieht zu, dass sie den Kerl los wird. Wenn zum Stichtag die Möbel nicht weg sind, landen sie auf dem Sperrmüll, und die Rechnung bekommt er an seine neue Adresse geschickt.
Anders ist die Sache, wenn die WG "EU" und der nervige Mitbewohner "Großbritannien" heißt. Dieses Land hatte vor zwei Jahren die durchgedrehte Idee, es könne das Staatenbündnis so verlassen, dass es alle Annehmlichkeiten behält, aber keine Gegenleistungen erbringen muss. Die EU wiederum hatte - vermeintlich - klargestellt: So einfach ist es nicht, es gibt kein Rosinenpicken, aber ihr habt zwei Jahre Zeit, mit uns über die Zeit nach dem Austritt zu verhandeln. Fest steht: Ende März 2019 seid ihr draußen.
Es geschah - nichts.
Zumindest geschah nichts Sinnvolles. Zwei Jahre lang führte sich Großbritannien auf, als sei das Verlassen der EU ein Wunschkonzert, und allein schon, um anderen austrittswilligen Staaten ein Signal zu geben, schalteten die anderen Staaten auf stur. Wer die Mitgliedschaft in der Europäischen Union kündigt, lautete die Botschaft, muss auf vieles verzichten.
Diese Botschaft kam an - nur nicht in Großbritannien, das sich weiterhin so verhielt, als könne es die Spielregeln diktieren. Die restliche EU wiederum zeigte Haltung. So ging die Zeit ins Land. Zeit, die eigentlich niemand hatte, denn es war klar: Wenn es zum Austrittsdatum kein Abkommen gibt, endet die Mitgliedschaft einfach so, und das wird schmerzhaft.
Kurz vor Ablauf der Frist handelte die britische Regierung dann etwas aus, was eupehmistisch als "Deal" bezeichnet wird, in Wirklichkeit aber nur ein Papier ist, das einige ganz wenige Fragen klärt, die meisten aber auf später verschiebt. Die ehrliche Bezeichnung wäre "Aufschub" gewesen, aber dieses Wort wollten alle vermeiden.
Was dann folgte, war ein Theaterstück, dessen Geschichte jeder Intendant mit der Begründung abgelehnt hätte, einen solchen Blödsinn nehme ihm kein noch so gutwillig gestimmtes Publikum ab. Die britische Premierministerin legte den "Deal" dem Parlament vor. Das lehnte ab. "Egal", dachte sich die Regierungschefin. "Dann lege ich ihn eben noch einmal vor. Und noch einmal. So lange, bis das Unterhaus zustimmt." Das wiederum dachte nicht daran, beschloss aber statt dessen, ohne Abkommen solle Großbritannien auch nicht die EU verlassen. Die Europäische Union wiederum blickte auf den Kalender und merkte zart an, dass für solche Kindereien keine Zeit mehr sei, es gäbe den "Deal". Was es nicht gäbe, wären Nachverhandlungen, auch wenn May eine ans Pathologische grenzende Realitätsverleugnung an den Tag lege und sind anders aufführe.
Im Prinzip war aber alles klar. Im März wäre es zum Austritt gekommen. Das hätte allen Beteiligten wehgetan, aber wenigstens hätte die Punch-and-Judy-Show ein Ende gehabt. Wir hätten gewusst, woran wir sind. Vor allem hätten die Europa-Kritiker einmal gesehen, welche Vorteile Europa bietet und dass die Europäische Union nicht mit sich spaßen lässt. An markigen Worten hatte diese nicht gespart.
Natürlich funktioniert solche Kraftmeierei nur, wenn die Taten zu den Worten passen. Statt dessen gesteht die EU in letzter Minute einen zweiwöchigen Aufschub zu und schließlich legt sie ein halbes Jahr bis zum Oktober 2019 drauf.
Gratulation, Regierungschefs, mit dieser Meisterleistung habt ihr der AfD, der Front National, der Forza Italia und wie die ganzen Europafledderer alle heißen mögen bestimmt 10 Prozentpunkte mehr Stimmen verschafft. Wer soll diese Europäische Union noch ernst nehmen? Indem ihr zulasst, dass sich Großbritannien wie ein verwöhntes Kind vor der Supermarktkasse auf den Boden wirft und herumschreit, weil Mami keine Bonbons kaufen will und statt Haltung zu zeigen noch schnell eine Handvoll Süßigkeiten in den Einkaufswagen werft, damit das Gör Ruhe gibt, sendet ihr das klare Signal: Dieses Staatenbündnis lässt sich auf der Nase herumtanzen. Tretet ruhig aus, alles halb so wild, wir sorgen schon dafür, dass euch nichts passiert. Sucht euch gern alle Annehmlichkeiten aus, die könnt ihr alle haben. Im Gegenzug dafür etwas leisten müsst ihr selbstverständlich nicht. Wir sind die EU, mit uns könnt ihr umspringen, wie es euch gerade passt. Wir hauen nur auf Staaten ein, die sich nicht wehren können.
Mir graut schon vor der Europawahl
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