Freitag, 7. Dezember 2018

Drei kurze Rants

George Bush ist tot.

Eigentlich ist das eine Meldung, die man mit einem Schulterzucken hinnehmen kann. Eine Amtszeit hat er als US-Präsident geschafft, bis er von Bill Clinton abgelöst wurde. Was mich, gelinde gesagt, verstört, ist die postume Heiligenverehrung, welche diesem Mann zuteil wird. George Bush. Das war ein ganz großer. Der nahm sein Amt wenigstens noch ernst und füllte es mit Würde aus.

Meine Güte, Bush war ein erzreaktionärer Knochen. Der hat einen Krieg angezettelt. Meinetwegen kann man sich darüber streiten, ob es wirklich darum ging, Kuwait zu befreien und nicht um billiges Öl. Wir können uns auch darüber streiten, ob es eine kluge Strategie war, über Jahrzehnte einen blutrünstigen Diktator im Irak heranzupäppeln, damit er einen anderen blutrünstigen Diktator im Iran angreift und sich dann zu wundern, wenn er irgendwann die Lust verliert und sich einen anderen Gegner sucht, der nebenbei bemerkt auch nicht gerade für sein humanistisches Weltbild bekannt ist. Wir können uns ebenfalls darüber streiten, wie klug es war, wenn man schon einen Krieg anzettelt, ihn dann nicht wenigstens konsequent durchzuziehen, sondern unmittelbar vor Zerschlagung des Gegners zu sagen, jetzt sei ja alles wieder prima, das widerrechtlich besetzte Land befreit, den Rest zu regeln sei ja wohl eine Kleinigkeit und fröhlich pfeifend davonzuschlendern, während hinter einem sowohl bildlich als auch wörtlich das Land brennt. Das alles zusammen jedoch hinterlässt bei mir jedenfalls nicht den Eindruck, da habe sich einer besonders toll als US-Präsident angestellt. Da hilft es auch nicht, immer wieder zu betonen, er sei best buddy mit Helmut Kohl gewesen und die Wiedervereinigung hätte er ja so toll unterstützt. Vor allem aber überschlägt sich die Presse mit der Meldung, wie großartig es doch sei, dass sich einer nicht wie ein vollkommen unzurechnungsfähiger Idiot in seinem Amt aufführt. Ist denn die Feststellung so sensationell, dass Donald Trump, man lese und staune, Amtsvorgänger hatte? Sind denn unsere Ansprüche an einen US-Präsidenten inzwischen so weit gesunken, dass wir da jeden bejubeln, der mehr IQ-Punkte auf die Waage bringt als ein Dreijähriger?

Ulrich Kelber ist Bundesdatenschutzbeauftragter.

Die Szene ist begeistert. Nachdem wir fünf Jahre lang faktisch keine Datenschutzbeauftragte hatten (Ok, wir müssen fair bleiben. Sie brauchte vier Jahre für die Einarbeitung, um dann kurz vor Ende ihrer Amtszeit zwei oder drei gute Sätze abzulassen.), hat die ehemals große Koalition die unfassbar tolle Entscheidung getroffen, jemanden ins Amt zu mauscheln, der - und jetzt alle festhalten - Informatik studiert hat. Na, wenn das nichts ist. Informatik! Trump hat übrigens einen Bachelor in Wirtschaftswissenschaften.

Gut, das ist natürlich auch schon ein paar Jahre her, und seitdem hat er sich nicht mehr besonders mit der Materie beschäftigt. Aber Informatik ist ja wie Radfahren, das verlernt man nicht. Deswegen hat er auch im Jahr 2009 für die Internetzensur gestimmt.

"Ja, aberaberaber, er war doch gegen die Vorratsdatenspeicherung." Richtig, er war. Inzwischen ist er dafür, komischerweise kurz nachdem er zum Staatssekretär unter dem damaligen Justizminister Heiko Maas ernannt worden war, dem von seiner Umfallnummer bei der Vorratsdatenspeicherung noch das frisch verbogene Rückgrat schmerzte. Seitdem ließ er keine Gelegenheit aus, zu betonen, wie wahnsinnig wichtig Datenschutz sei - so lang er die Wirtschaft betrifft. Der Staat hingegen, das ist ja ein ganz ein Lieber. Der schürt keinesfalls Terrorpanik (oder was gerade das aktuelle Feindbild ist), um ein Überwachungsgesetz nach dem nächsten durchzudrücken, und selbst wenn dem so wäre: Vertraut ihr etwa dem Staat nicht? Wann bitte haben jemals deutsche Überwachungsbehörden unser Vertrauen missbraucht?

Friedrich Merz wird Kanzler.

Ja, ich weiß, angeblich will die Mehrheit der Leute Kramp-Karrenbauer, aber das ist nicht die Mehrheit in der CDU, und auch die Mehrheit in der CDU ist nicht die Mehrheit der Delegiertenkonferenz. Warum die Leute Spahn so viel schlimmer als Merz finden, verstehe ich zwar nicht, aber ich verstehe, warum die CDU Merz wählen wird. Kramp-Karrenbauer steht zu sehr für die Fortführung der Merkel-Linie, und die hat dafür gesorgt, dass die CDU von 41,5 Prozent im Jahr 2013 auf Umfragewerte von teilweise weniger als 30 Prozent abgesackt ist. Gut, das ist im Vergleich zur SPD, deren einzig verbliebener Gegner die Fünf-Prozent-Hürde zu sein scheint, noch moderat, aber es scheint klar: Das einstige Erfolgsrezept des Hinschauens, Abwartens und späten Entscheidens funktioniert nicht mehr. Jetzt ist Umdenken angesagt, und in den Augen der CDU heißt das: Ab nach rechts, dorthin, wo sie die meisten Wähler verloren hat. In den USA, da hat das doch auch so ein komischer Populist und Geldzocker zum Präsidenten geschafft, den jetzt etwas dünner, besser frisiert und nicht ganz so bäuerlichem Auftreten, das wär's doch. Deswegen wage ich die Prognose: Merz wird Parteivorsitzender, und von da ist es nur ein kurzer Weg zur Kanzlerkandidatur. Ob er mit Schäubles Hilfe Merkel aus dem Amt putscht oder geduldig die nächste Bundestagswahl abwartet und sich dann aufstellen lässt, wage ich nicht zu prognostizieren. Was ich zu prognostizieren wage, ist: Wir werden uns noch die Jahre des bräsigen Dahindümpelns zurückwünschen. Die kommenden Jahre werden im Zeichen rechtspopulistischer Klientelpolitik für Reiche stehen.

Aktualisierung:

Mit dem Parteivorsitz lag ich falsch, wenn auch nur um 18 Stimmen, aber ich hatte mit einer deutlichen Mehrheit für Merz gerechnet. Dennoch glaube ich nicht, dass sich mit dieser Wahl das Thema "reaktionärer Populismus" in der CDU erledigt hat. Es ist nicht so, als hätte Kramp-Karrenbauer einen strahlenden Sieg davongetragen. Auch wenn ich meine, dass dieses Land schon erheblich schlechter als vom Merkel-Stil regiert wurde, weiß ich nicht, ob diese Wahl strategisch eine kluge Entscheidung war. Merz wird in den kommenden Monaten einfach nur abwarten müssen. Er wird zusehen, wie die CDU weiter an die AfD Stimmen verliert, um sich dann rechtzeitig vor der Bundestagswahl knallig zu Wort zu melden. Vielleicht mit dem Vorschlag, den Mittelstand, also Leute ab einem Jahreseinkommen von einer Millionen Euro, steuerlich deutlich zu entlasten und das dafür nötige Geld bei den Sozialleistungen für Flüchtlinge einzusparen. Vielleicht sind bis dahin aber auch die Muslime wieder das aktuelle Feindbild oder die Terroristen, die faulen Hartz-IV-Empfänger, die Pädophilen, die Pleitegriechen - irgendwer wird sich schon finden.

Samstag, 17. November 2018

Buchkritik: Andreas Eschbach: Nationales Sicherheits-Amt

"Was wäre wohl passiert, hätten die Nazis schon Computer besessen?"

Wir schreiben die finstersten Achtziger. Helmut Kohl regiert das Land mit der Provinzialität, die entsteht, wenn man Oggersheim und Bonn zusammenlegt. Der politische Gegenentwurf ist ein Mix aus Pazifismus, Ökologie und Antikapitalismus. In diese Zeit hinein bricht eine technische Revolution: Computer werden erstmals so billig, dass sie für Schülerinnen erschwinglich sind. Auf einmal sind sie überall: In Armbanduhren, Kinderzimmern, immer mehr auch auf Schreibtischen und ganz allgemein im Berufsleben. Das ist vielen unheimlich. Eine passenderweise für das Jahr 1984 geplante Volkszählung wird mit einer Verfassungsklage abgewendet. Das Gericht erkennt ein Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. All das verdichtet sich zur Grundhaltung: Wer oppositionell ist, engagiert sich gegen den Atomkrieg, für die Umwelt und eben auch gegen Computer, weil sie nicht nur Arbeitsplätze vernichten, sondern auch dem Überwachungsstaat den Weg bereiten. Passend zum Kalenderjahr erlebt Orwells "1984" neue Popularität. Wirklich gelesen hat es natürlich kaum jemand, dafür ist es gerade in seiner zweiten Hälfte zu zäh, zu düster. Das hindert natürlich niemanden daran, darüber irgendwelches Halbwissen in die Welt zu posaunen, was nicht weiter auffällt, da wirklich niemand es ganz gelesen hat.

Wichtig ist auf jeden Fall: Computer sind böse. Steht doch schon bei Orwell. Und um gänzlich klarzustellen, wie böse Computer sind, zuppeln wir uns den selbstgestrickten Pulli zurecht, stellen den Jasmintee beiseite und verkünden mit wissendem Lächeln den bereits oben zitierten Satz: "Was wäre wohl passiert, hätten die Nazis schon Computer besessen?"

Nichts wäre passiert, hört ihr? Nichts. Die Geschichte wäre exakt so verlaufen, wie sie verlaufen ist. Warum ich das weiß, warum die ganze Menschheit außer den Müslikauern das weiß? Weil. Die. Nazis. Computer. Hatten.

Die Maschinen stammten von Hollerith, im Deutschen Reich in Lizenz betrieben von der DEHOMAG, einer Tochter des US-Unternehmens IBM. Wer es im Detail nachlesen will: IBM und der Holocaust. Ich will mich nicht auf die Aussage versteigen, der Völkermord an den europäischen Juden wäre ohne den Computer nicht möglich gewesen, aber er wurde durch ihn zumindest stark erleichtert.

Die Frage was-wäre-wenn stellt sich also nicht, es sei denn, man stellt sie etwas genauer, so wie Andreas Eschbach in seinem Buch "NSA - Nationales Sicherheits-Amt". Er fragt sich: Was wäre passiert, hätten die Nazis nicht nur Computer besessen, sondern auch Mobiltelefone, Internet und die damit verbundenen Überwachungsmöglichkeiten? Um die heutige Technolgie in die Vierzigerjahre zu bekommen, muss Eschbach etwas wacklig annehmen, Charles Babbage hätte die Analytical Engine tatsächlich bauen können, woran sich ein Entwicklungsschub anschloss, der unsere heutige Welt in eine Art Steampunk-Version vorweggenommen hätte. Datenkabel wären noch klobige Schläuche, Computer hätten Bakelit-Tastaturen und wären noch kleiderschrankgroß, Smartphones hätten ungefähr heutige Ausmaße, was dadurch ermöglicht wäre, dass es sich bei ihnen nur um dumme Terminals handelt und alle leistungshungrigen Operationen auf Zentralrechnern stattfinden. Integrierte Schaltkreise im Allgemeinen und Mikrochips im Besonderen scheint es noch nicht zu geben, und das verlangt der technisch interessierten Leserin zumindest am Anfang einige Geduld ab, gilt es doch zum Beispiel zu akzeptieren, dass es offenbar leistungsfähige und vor allem kleine Akkus gibt, mit denen sich Smartphones betreiben lassen, aber die Erklärung, wie ohne Chiptechnologie der Energieverbrauch und gleichzeitig die Leistungsfähigkeit dieser Geräte so weit gesteigert werden konnte, dass sie mit heutiger Funkzellentechnik arbeiten, fällt arg dürftig aus.

Das alles lässt sich als literarische Freiheit verkraften, immerhin ist der Schwerpunkt des Buches ein anderer. Dass Eschbach ordentlich recherchiert hat, belegt er nicht zuletzt mit seinen deutschsprachigen SQL-Befehlen, und irgendwann zuckt der innere Nerd mit den Schultern und sagt sich: OK, genug genörgelt, weiterlesen.

Die Geschichte spielt während des zweiten Weltkriegs in einer Weimarer Behörde, die versucht, ihrer Vereinnahmung durch das Reichssicherheitshauptamt durch besonders gute Arbeit zu entgehen. Im Zentrum stehen der Analyst Eugen Lettke, der zusammen mit der Progammiererin Helene Bodenkamp versucht, die Suchalgorithmen ihrer Behörde zu optimieren. Beide haben ihre persönlichen Geheimnisse. Während Bodenkamp eine Liebesaffähre mit einem Deserteur hat, der sich auf einem nahe gelegenen Bauernhof versteckt, nötigt Lettke Frauen zu sexuellen Handlungen, indem er droht, unangenehme Dinge, die er über sie herausgefunden hat, zu veröffentlichen. Im weiteren Verlauf der Geschichte fangen beide auch an, die Rechner zu manipulieren - Lettke, um immer raffinierter an düstere Geheimnisse von Frauen zu gelangen, Bodenkamp, um zu verhindern, dass Suchfunktionen ihren Geliebten aufspüren.

Suchfunktionen sind es auch, die im Buch breiten Raum einnehmen. Um Himmler zu demonstrieren, wie gut das NSA arbeitet, finden die Mitarbeiter innerhalb weniger Minuten alle Haushalte in den besetzten Niederlanden, die wahrscheinlich Juden bei sich versteckt halten - allein anhand von Abnormaliäten beim Pro-Kopf-Kalorienverbrauch. Doch das ist nur der Anfang. Später werden die Abfragen immer raffinierter, und mit Bodenkamps Hilfe kommen sogar KI und neuronale Netze zum Einsatz. Die junge Programmiererin kommt dabei immer weiter in Konflikte. Einerseits ist sie offensichtlich gut in ihrem Beruf, an dem sie auch Gefallen hat, andererseits sieht sie auch, wie ihr Wissen zum Aufbau eines Überwachungs- und Mordapparats eingesetzt wird.

Eschbach schreibt nicht nur routiniert, er schreibt auch raffiniert und wartet immer wieder mit überraschenden Wendungen auf. Das Buch enthält anzügliche Passagen, aber es sind keine billigen Versuche, damit die Auflage zu steigern, sodern erfüllen innerhalb der Geschichte eine wichtige Funktion. Insgesamt fällt auf, wie glaubwürdig die Figuren entwickelt sind. Es gibt keine Deus-ex-machina-Momente, in denen man das Gefühl hat, der Autor wisse sich nur noch mit irgendwelchen wilden Konstrukten zu helfen. Im Gegenteil: Eschbach entwickelt eine bis zum Ende glaubwürdige Geschichte.

Na gut, eine ganz am Ende eingeführte Technologie finde ich selbst für heutige Verhältnisse etwas gewagt, aber anders wäre die Schlussszene schwer möglich gewesen, in der Eschbach eine Verbeugung vor dem dystopischen Klassiker "1984" vollführt.

"NSA" ist keine beschwingte Unterhaltungsliteratur. Es ist auch kein packender Thriller, den man nicht mehr aus der Hand legen kann. Es ist aber anders als Robert Harris' "Vaterland" nicht nur eine Überlegung, wie Geschichte hätte anders verlaufen können. Es ist eine aktuelle Mahnung, dass harmlose Daten zur tödlichen Gefahr werden können, wenn sie in die falschen Hände geraten. Gerade in dieser Zeit, in der Demokratien Überwachungsapparate errichten und kurz darauf in den Totalitarismus kippen, ist es gut, wenn Leute wie Eschbach zeigen, wo so etwas enden kann.

Andreas Eschbach
NSA – Nationales Sicherheits-Amt
Roman

Verlag Lübbe, Köln.
€ 22,90
Hardcover, 800 Seiten
ISBN 978-3-7857-2625-9

Donnerstag, 1. November 2018

Die Lotsin geht von Bord

Eigentlich war allen klar, dass dieser Tag bald kommen müsste - der Tag, an dem Angela Merkel den kotrollierten Abschied von der Macht einleitet. Wahrscheinlich hatte sie sich das Ganze anders vorgestellt - ruhiger, in weniger stürmischen Zeiten. Dafür stimmten jedoch schon die Startvoraussetzungen nicht: eine schwer angeschlagen überstandene Bundestagswahl, eine geplatzte Koalitionsverhandlung mit Grünen und FDP, die auf einmal kalte Füße bekam und sich endgültig in die Ecke der Politkasper verabschiedete und schließlich das Zusammenrotten mit dem alten und neuen Koalitionspartner SPD, die bei dieser Gelegenheit eine Selbstdemontagenummer hinlegte, deren Drehbuch selbst bei einer RTL-Vorabendserie durchgefallen wäre. Der einzige Grund, warum die Koalition überhaupt zustande kam, war die Angst vor Neuwahlen und der AfD, die in diesem Fall wahrscheinlich 20 Prozent geholt und damit das Land an den Rand der Nicht-Regierbarkeit gebracht hätte. In einer Zeit, in der allen klar war, dass es neue Ideen und frische Impulse brauchte, war die einzige Antwort, die dem Parlament einfiel, die Fortsetzung einer Koalition, die vor allem phantasie- und lustloses Sich-Durchwurschteln verkörperte, bei der Wahl abgestraft wurde und das Attribut "groß" schon lange nicht mehr verdiente. Bereits beim Wieder-Zustandekommen der ehemals großen Koalition war klar: Das ist eine Notlösung, die einschließlich der Koalitionspartner niemand so richtig gewollt hatte. Es war auch klar, dass es eine weitere Bundestagswahl mit Merkel als Spitzenkandidatin nicht mehr geben wird, dass irgendwann im Verlauf der Legislaturperiode die Übergabe stattfinden wird. Die Frage war nur: wann und an wen?

Der jetzige Zeitpunkt ist denkbar schlecht gewählt: Bei zwei Landtagswahlen in Folge wurden beide Koalitionspartner dezimiert, und der einzige Grund, warum die CDU überhaupt noch, wenn auch taumelnd, steht, liegt darin, dass die SPD in einem Maß pulverisiert wurde, dass es nicht einmal mehr Spaß bringt, darüber Witze zu reißen. Die Partei hat schlicht ihre Satisfaktionsfähigkeit verloren. Noch denkt niemand ernsthaft daran, aber wenn der SPD nicht bald etwas einfällt, ist der nächste Gegner keine Partei, sondern die Fünf-Prozent-Hürde.

Als bei der vorletzten Wahl die damals noch große Koalition zustande kam, sahen viele besorgt auf die erdrückende Macht, die sie im Bundestag innehatte. Die Regierung konnte jederzeit die Verfassung ändern, saß nahezu allen Ausschüssen vor, und bei der Redezeit blieb für die kleineren Fraktionen kaum noch die Zeit, das Mikrofon auf die richtige Höhe zu justieren. Den aktuellen Umfragen zufolge wäre Schwarz-Rot auf Bundesebene nicht einmal mehr in der Lage, überhaupt eine Regierung zu bilden.

Angesichts solcher Zahlen hätte Merkel eigentlich schon viel früher den Abschied ankündigen müssen, aber dafür war schlicht keine Zeit. Kaum war die Regierung nach monatelangen Verhandlungen endlich zustandegekommen, schaltete die CSU in den Landtagswahlmodus und dominierte über Monate die Schlagzeilen. Der neue Ministerpräsident, dessen Geisteszustand mit "schlicht" noch sehr wohlwollend beschrieben ist, verstieg sich in einer Kapriole nach der nächsten, und weil sein nach Berlin ins Innenministerium abgeschobener Erzfeind im bajuwarischen Gemächtevergleich nicht nachstehen wollte, überboten sich die beiden in immer wilderen Ideen, ob man Kreuze an der Landesgrenze aufhängen und wie viele Flüchlinge in Amtsstuben hineinlassen sollte. In dieser Zeit hatte Merkel alle Mühe, ihren zunehmend abdrehenden Minister im Zaum zu halten, dessen Kapriolen nicht nur Richtung Bayern, sodern auch auf die Kanzlerin zielten. Hier Schwäche zu zeigen, hätte das sofortige Ende der Regierung bedeutet.

Es war also eine gute Idee, erst die Landtagswahlen in Bayern und Hessen durchzustehen und nach dem erwartet desaströsen Ergebnis zu sagen: OK, wir haben verstanden. Wir leiten den Wechsel an der Spitze ein. Die Frage ist nur: an wen?

Im Moment kursieren vor allem drei Namen: Kramp-Karrenbauer, Spahn und - wer bitte? - Merz.

Merz? Der mit der Steuererklärung auf dem Bierdeckel? Der mit den Cum-Ex-Gechäften, der sich in Dutzenden Aufsichtsräten eine goldene neoliberale Nase verdient - naja, was heißt verdient? - angeschafft hat? Der Zweiundsechzigjährige, vor 16 Jahren von Merkel ausgebootet und vor 9 Jahren in den politischen Ruhestand gegangen, dieser Mann soll bitte was verkörpern? Neue Ideen? Schamlose Raffkementalität passt da wohl besser. Gegen Merz wirkt selbst der Minister für Reichengesundheit schon fast empathisch.

Bleibt eigentlich nur noch Kramp-Karrenbauer, aber sie trägt den Makel, die alte Linie fortsetzen zu wollen, und das will in der CDU niemand. Bei den Wahlen zieht das offenbar auch nicht so recht.

Ich will nicht unken, aber viele von uns werden sich Merkel noch zurückwünschen, wenn die CDU den sich andeutenden Rechtsschwenk vollzieht. Die Kanzlerin hatte das Kunststück vollbracht, die CDU weit in Richtung Sozialdemokratie zu bewegen und viele Ideen der SPD als eigene Errungenschaften zu präsentieren. Während Kohl einfach entschied und aussaß, verfügte Merkel über das Gespür, abzuwarten, bis sich in der allgemeinen Meinung ein Trend abzeichnete und ihn aufzugreifen. Viele kreideten ihr das als Zögerlichkeit an, dabei war es nur ein einfühlsamerer Stil als die Basta-Mentalität ihrer Amtsvorgänger. Ich behaupte, da merkte man die promovierte Naturwissenschaftlerin: gucken, analysieren, entscheiden. Nicht versuchen, der Welt den eigenen Willen aufzuzwingen, sondern die bestehenden Mechanismen für sich wirken zu lassen.

Als Merkel erstmals Kanzlerin wurde, sah ich zwei Möglichkeiten: Entweder wird sie zerrieben zwischen den ganzen machtgierigen Obermackern in der eigenen Partei, der CSU, dem Koalitionspartner FDP und der Opposition, oder sie schreibt Geschichte. Ehrlich gesagt gab ich ihr zwei Jahre, bis die Anderen die Kanzlerin ausgelaugt und sich selbst in Stellung gebracht haben. Tatsächlich kam es anders.

Ich bin alles Andere als ein Merkel-Fan, aber nach dem bräsigen, aus Ehrfurcht vor der eigenen historischen Größe erbebenden Kohl und Ich-will-hier-rein-Schröder empfand ich ihren schon fast apathischen Regierungsstil geradezu als Wohltat. Wie schon gesagt: Da wird sich was ändern.

Und die SPD? Noch vor zwei Jahren hätte ich mir das Maul zerrissen, hätte über Ätschi-bätschi-Pippi-Langstrumpf-Nahles gelästert und mich darüber ereifert, dass ihr selbst nach einem einstelligen Wahlergebnis in Bayern nicht mehr einfällt als das übliche Gestammel von: "Wir haben verstanden", "keine Zeit für vorschnelle Entscheidungen" und: "wir werden uns neu orientieren und ganz entschieden in die Richtung weiterrennen, in die wir all die Jahre vorher schon erfolglos gerannt sind". Aber ehrlich: Welchen Tipp will man dieser Partei heute noch geben außer: "zum Abschluss einmal durchkehren und bitte dran denken, das Licht auszuschalten"? Unter Schulz hätte es eine Chance gegeben, sich wieder als soziale Partei zu präsentieren und beispielsweise zuzugeben, dass Hartz IV von jeder Partei hätte kommen können, nur nicht von der SPD. Doch dafür ist es jetzt zu spät. Die SPD könnte sich jetzt hinstellen und jeder Arbeitslosen einen Sack Diamanten versprechen - es glaubt ihr einfach keiner mehr. Eine Partei, die in Bayern auf Platz 5, in Hessen auf Platz 3 und den aktuellen Umfragen zufolge im Bund auf Platz 4 steht, kann nicht erzählen, was sie täte, wenn sie die Regierung übernähme. Sie kann allenfalls andeuten, was sie vorschlüge, wenn sie denn jemand fragte.

Als wenn das allein schon nicht genug wäre, hängt über allem das Damoklesschwert AfD, die sich deutlich im zweistelligen Bereich bewegt, vielerorts die Zwanzig-Prozent-Marke als nächstes Ziel sieht und in Bayern sowie den letzten Umfragen nach auch im Bund deutlich vor der SPD liegt. Das ist ein weiterer Grund, warum Witzereißen gerade nicht funktioniert. Es gibt kein Drumherumreden: Die "große" Koalition hat den Nährboden für die AfD geschaffen, und egal, welche Strategie man wählt, es scheint kein Kraut gegen sie gewachsen. Mit ihr reden, hieße ihre Thesen ernst nehmen, sie auszugrenzen gibt ihr die Möglichkeit, sich noch effektvoller als Opposition zu inszenieren. Die einzige Chance könnte sein, sie sich selbst demontieren zu lassen. Das aber ginge nur in Regierungsverantwortung, und dieses Risiko wäre mir deutlich zu hoch. Wir haben gesehen, wie in der Türkei, in Polen und den USA scheinbar stabile Demokratien in Diktaturen verwandelt werden. Wir sehen an der eigenen Geschichte, dass keine Verfassung so stark ist, dass man sie nicht schrittweise aushöhlen kann. Die AfD in einer Regierungskoalition wäre kein Spiel mit dem Feuer. Es wäre ein Spiel mit Thermit. In einem heliumgefüllten Zeppelin. Mit einem Atomsprengkopf an Bord. Über den Dächern Moskaus schwebend.

Merkel hat ihren Abgang klug gewählt, ist auch der Zeitpunkt alles Andere als optimal. Ihre Nachfolger werden eine Neuorientierung versuchen, und ich fürchte, das heißt: Rechtsorientierung, in der Hoffnung, auf diese Weise verlorene Stimmen zurückzugewinnen. Die SPD spielt derzeit keine Rolle, falls sie jemals wieder eine spielen wird. An ihre Stelle sind - für mich überraschend - die Grünen getreten, eine Partei, die sich von einem Haufen wirrer Ökopaxe in eine sauber durchgestylte Marke verwandelt hat, die Frieden zwar OK findet, aber durchaus auch mal einen Krieg mitbeschließt, die Ökologie fördert, aber die ganz harte Konfrontation mit der Industrie scheut und die innenpolitisch auch schon gern mal den starken Staat schätzt. Kurz: Im Prinzip ist für alle was da. Es gibt keine Überzeugung, welche die Grünen nicht notfalls aufzuweichen bereit wären. Von der einstigen Prinzipienstärke ist nicht mehr viel übrig, aber seien wir ähnlich: So funktioniert Regieren nun einmal.

Wohin die Reise geht? Schwer zu sagen, im Moment ist alles möglich. Die drei großen politischen Kräfte sind im Moment CDU, Grüne und AfD, und fragen Sie mich bitte nicht, was dabei am Ende herauskommen soll.

Samstag, 22. September 2018

Bitte konservativ ranfahren

Auf der Autobahn ist die konservative Spur die Regelspur. Deswegen befindet sich die Ausfahrt immer auf der konservativen Seite. Es ist üblich, sich zum Gruß die konservative Hand zu geben. Auf vielen Rolltreppen finden Sie den Hinweis: "Konservativ stehen, links gehen."

Ob das Blödsinn ist? Natürlich ist das Blödsinn, aber nicht für Sascha Lobo. Der hat nämlich in seiner jüngsten Ausgabe seines "Debatten-Podcasts" verkündet, das Gegenteil von "links" sei nicht etwa "rechts", sondern "konservativ". Natürlich meinte er das nicht geometrisch, sondern politisch, aber auch da ist es Blödsinn, verschuldet von linker Sprachpanscherei, die sich jetzt gegen die eigenen Leute wendet.

Historisch bezeichneten "links" und "rechts" Sitzpositionen im Parlament, vom Präsidentenpult aus gesehen. Bis in die Neunziger des letzten Jahrhunderts eigneten sich diese Begriffe auch gut, um ein im Wesentlichen eindimensionales politisches Spektrum zu beschreiben. Ganz links waren die Kommunisten, dann kamen die Sozialdemokraten, irgendwo in der Mitte die FDP, dann die CDU, die CSU und irgendwo dahinter Republikaner, DVU, NPD, und wie sie alle heißen. Die Grünen habe ich eben nicht etwa vergessen, sondern bewusst ausgelassen, weil mit ihrer Gründung eine Entwicklung begann, die zu immer absurderen sprachlichen Situationen führte. Fangen wir einfach an: Wo verorten Sie die Grünen?

Links von der SPD, wegen ihrer basisdemokratischen, feministischen und pazifistischen Wurzeln? Einverstanden, aber was ist mit der Ökologie? Zugegeben, die ist auch "irgendwie links", aber Ökologie finden Sie auch in der Blut-und-Boden-Ideologie, die von "Mitteldeutschland" sprechen, wenn sie die fünf nicht mehr ganz so neuen Bundesländer meinen, und "Ostdeutschland" sagen, wenn von Polen die Rede ist. So ist es kein Wunder, dass Baldur Springmann die Grünen mitgründete, später austrat und irgendwo im rechtsextremen Spektrum endete. Es erstaunt auch nicht, dass es inzwischen viele schwarz-grüne Koalitionen gibt und dass Winfried Kretschmann ausgerechnet im stockkonservativen Baden-Würtemberg grüner Ministerpräsident ist. Die Grünen sind nicht und waren auch nie eine klar linke oder rechte Partei. Ihre Stärke besteht genau darin, Anknüpfungspunkte in alle Richtungen zu haben. Selbst einen ordentlichen Krieg kann man inzwischen mit ihnen führen.

Unter der CDU wurden die Atomkraftwerke abgeschaltet, Frauenquoten in Unternehmen und der Mindestlohn eingeführt. Die SPD hat im Gegenzug den Sozialstaat ab- und den Polizeistaat aufgebaut. Es scheint fast zufällig, welche klassischen linken oder rechten Forderungen von welcher Partei umgesetzt werden.

Nur an den politischen Rändern sind die Verhältnisse noch einigermaßen klar. Die "Linke" muss zwar ab und zu realpolitisch handeln, aber sie hat so etwas wie einen Markenkern. Noch weiter links kommen diverse kommunistischen Gruppierungen, von deren Ideen Sie halten mögen, was Sie wollen, aber wenigstens gibt es hier deutliche Positionen und Abgrenzungen. Ähnlich ist es am rechten Rand, und langsam wird auch das argumentative Dilemma klar.

Es liegt in der Natur der Sache, das jeweils weiter entfernte politische Extremum als gefährlicher als die auf der eigenen Seite liegenden Auswüchse anzusehen. Immer wieder lese ich ausschweifende Begründungen, warum die RAF besser war als der NSU, warum der Gulag besser war als die Konzentrationslager, und bis zu einem gewissen Grad bin ich sogar bereit, diese Argumente mitzutragen. Was aber gern übersehen wird: Extremismus und Intoleranz gehen miteinander einher. Der Kommunismus war in der Behandlung seiner Gegner nicht gerade zimperlich. Einen Weltkrieg mit 50 Millionen Toten und einen Völkermord, der eines der ältesten Kulturvölker der Welt in Europa nahezu ausrottete, hat er nicht durchgeführt, aber daraus den Schluss zu ziehen, der Kommunismus sei so viel besser und menschenfreundlicher, finde ich gewagt.

Sehr wohl begründet hingegen ist die Aussage, der hierzulande gelebte Linksextremismus führe sich deutlich menschenfreundlicher auf als der Rechtsextremismus. Zugegeben, auch bei Linken fliegen Steine und Brandsätze und es wird auch einmal ein Supermarkt geplündert, aber es brennen eben keine Flüchtlingsheime. Der hierzulande gelebte Linksextremismus kennt auch Gewalt gegen Menschen, aber er sucht sich seine Gegner sorgfältiger aus. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich verachte es, sich Straßenschlachten mit der Polizei zu liefern, aber wenigstens sind das Menschen, die für diese Situation ausgebildet und ausgestattet wurden. Das ist etwas Anderes, als auf Menschen loszugehen, weil sie oder ihre Vorfahren die Landesgrenze übertreten haben.

Aus diesem Grund gibt es bis weit ins Bürgertum gehend eine klare Abneigung gegen Rechtsextremismus, und wer Zeit sowie sprachliche Sorgfalt besitzt, spricht das Wort in voller Länge aus. Irgendwann in den Neunzigern hatte sich aber eingeschliffen, nur noch von "rechts" zu sprechen. Konzerte wie "Rock gegen rechts" gab es sogar schon seit 1979, aber die sprachliche Unsauberkeit, "rechts" zu sagen, aber "rechtsextrem" zu meinen, ging erst um die Jahrhundertwende in den allgemeinen Gebrauch über. Den Linken war es nur recht (verzeihen Sie bitte das dumme Wortspiel), konnten sie damit sprachlich eine ganze politische Richtung diskreditieren. Da sich in dieser Zeit sowieso alle in der "Mitte" zu tummeln begannen, widersprach auch niemand.

Was bei dem ganzen sprachlichen Herumgeschmiere verloren ging, war ein vernünftiger Begriff für diejenigen, die sich, grob gesagt, auf klassischen CDU-Positionen finden, die Krieg als ultima ratio akzeptieren, die wirtschaftliche Interessen höher priorisieren als ökologische, die eine starke Polizei wollen, hartes Durchgreifen des Staats, Elitenförderung an Schulen und ein traditionelles Familienmodell. So etwas hätte man früher "rechts" genannt. Da jetzt aber mit "rechts" das bezeichnet wird, was einmal "rechtsextrem" hieß, kommt man in absurde Situationen, wenn man überlegt, das dann konsequenterweise "links" wäre, nämlich "linksextrem". Das wiederum ärgert diejenigen, die sich als "links" bezeichnen und eher Vorstellungen vertreten wie Pazifismus, Ökologie, einen starken Sozialstaat, der sich aber ansonsten zurückhält, Einheitsschulen und Patchworkfamilien. Sie wollen nicht in einen Topf mit den Steineschmeißern und Barrikadenbauern gesteckt werden, mit denen sie zwar heimlich sympathisieren, es aber nicht zugeben. "Rechts" soll ihrer Vorstellung nach also weiter synonym mit "Nazis" sein, während "links" dem Wahren, Schönen, Guten vorbehalten ist und "linksextrem" die Schmuddelkinder bezeichnet. Als Ersatzbegriff für "rechts" schlagen Leute wie Lobo "konservativ" vor, aber "links" soll gefälligst weiter "links" sein. Das aber ist sprachlicher Blödsinn. Das Gegenteil von "rechts" ist seit Jahrtausenden "links", das von  "konservativ" ist "progressiv", und ich weiß ehrlich gesagt nicht, was Lobo an diesem Begriff stört. Sind es vielleicht die sich selbst als "progressiv" Bezeichnenden, die sich mit bemalten Oberkörpern für die Bombardierung Dresdens bedanken und sich stundenlang über die Frage ereifern, ob mensch korrekterweise mit Stern, (Doppel-)punkt, Ausrufezeichen oder Unterstrich gendert? Sind ihm diese Leute etwa peinlich? So peinlich, wie zuzugeben, dass es eine dumme Idee war, herumzuschludern, weil die Schluderei jetzt auf die eigene Klientel zurückfällt? Schlägt er deswegen lieber logische Volten, statt einfach Begriffe wieder korrekt zu benutzen? Oder noch besser: Wie wäre es, das alberne Links-Recht-Schema zur politischen Verortung aufzugeben, sich einzugestehen, dass die Welt in den letzten 30 Jahren komplizierter geworden ist und dass man von liebgewordenen Denkmustern Abschied nehmen muss? Eine Dimension allein reicht offensichtlich nicht mehr aus.

Samstag, 15. September 2018

Make love, not Warcraft

Es gibt eine Southpark-Folge, in der Cartman, Kyle, Stan und Kenny beim Versuch, ihre Avatare bei Warcraft auf ein höheres Erfahrungslevel zu hieven, wochenlang Wildschweine schlachten. Wildschweine sind die wahrscheinlich einfachsten Gegner, die das Spiel zu bieten hat. Entsprechend wenig Punkte bringt es ein, sie zu töten, was dazu führt, dass die vier Jungs jeden Tag 21 Stunden und insgesamt zwei Monate aufwenden, Gegner, die streng genommen keine sind, zu besiegen.

Jetzt sehen wir uns im Vergleich dazu die Netzgemeinde an. Egal, welcher -ismus dort gerade Mode ist, die Szene spaltet sich sehr schnell in diejenigen, die dort wirklich etwas zu erzählen haben, und die Wannabes, die sich in ihrem verzweifelten Ringen um ihre persönlichen 15 Minuten Ruhm irgendwie in Szene setzen wollen. Um sich ernsthaften Aufgaben zu widmen, welche die Sache wirklich voranbringen, fehlt es ihnen sowohl an Wissen als auch an Energie. Wie bekommt man dennoch Aufmerksamkeit? Indem man sich einen Gegner konstruiert, ihn möglichst theatralisch bekämpft und sich von allen nicht nur für diesen heroischen Kampf, sondern vor allem für die Tatsache bewundern zu lassen, diesen Gegner überhaupt als solchen erkannt zu haben. Oder kurz: Warcraft-Wildschweinschlachten.

Zwei Beispiele hierzu: Die "Zeit" stellte vor einigen Wochen die Frage, ob und in welchen Grenzen die Rettung ertrinkender Menschen im Mittelmeer vertretbar ist. Die Titelzeile "Oder soll man es lassen?" war provokoant und zugegebenermaßen am Rand des ethisch Vertretbaren formuliert, aber letzlich ging es um genau diese Frage, und sie wurde differenziert betrachtet. Einigen Netz-Menschenrechtsaktivisten stellte aber allein schon die Frage eine Grenzübertretung statt. Die empörten Reaktionen gingen so weit, die seit Jahren ob ihrer bildungsbürgerlich-behäbigen Art belächelte Wochenzeitung in den Rang einer AfD-Hetzpostille zu erheben.

Zweites Beipiel: Der "Spiegel" widmete das Titelblatt der Ausgabe 37/2018 dem anscheinend unaufhaltsamen Aufstieg der AfD und wählte als Schlagzeile die Frage "Und morgen das ganze Land?" Auch hier hagelte es sofort empörte Reaktionen. Der "Spiegel" betreibe Wahlwerbung für die AfD hieß es. Warum? Na, weil, weil, ja weil die AfD viel zu positiv auf dem Titelbild dargestellt werde.

OK, es muss ja nicht jeder die Schule noch zu anderen Gründen besucht haben, um in den Pausen Panini-Bildchen zu tauschen. Denjenigen, welche dort wenigstens noch Fragmente von Bildung abgriffen, wird vielleicht die Nähe der Schlagzeile zum Refrain des Baumann-Lieds aufgefallen sein, einem sehr bekannten Propagandalied des Dritten Reichs. Aber auch alle Anderen sollten den "Spiegel" gut genug kennen, um zu erkennen, dass eine provokante Fotomontage verbunden mit einer mehrdeutigen Titelzeile ein oft verwendetes Stilmittel dieses Magazins ist. Um daraus AfD-Propaganda zu konstruieren, muss man entweder intellektuell so zurückhaltend ausgestattet sein, um Ironie nicht zu erkennen, oder aber man will sie gar nicht erkennen, sondern sich lieber Lorbeeren mit dem Kampf gegen einen einfachen, weil nicht vorhandenen Gegner verdienen.

Das ist nämlich eine der großen Schwierigkeiten mit der AfD. Natürlich wimmelt es da von den üblichen Schwammköpfen, die ihre Bildungsferne bereits durch Orthografie der Abenteuerichkeit eines Indiana-Jones-Films demonstrieren, aber es gibt dort eben auch Leute, die im Deutschunterricht aufgepasst haben und sich nicht mit jedem einzelnen Satz der kompletten Lächerlichkeit preisgeben. Sich mit denen verbale Gefechte zu liefern, ist ebenso frustrierend wie aussichtslos, weil sie nicht aufgeben. Weil sie sich geschickt formulieren, den Stachel reizen, während sie selbst verbal auf dem Teppich bleiben. Weil sie auf jeden Fall das letzte Wort behalten wollen.

Einen solchen Gegner besiegt man nicht. Im Zweifelsfall ist er fanatischer und geduldiger. Wer ein Erfolgserlebnis haben möchte, sucht sich also auch hier Wildschweine. Mit anderen Worten: die "Zeit" oder den "Spiegel". Die nämlich legen noch Wert auf ihre Reputation. Deren Reichweite schadet es, der rechtsradikalen Szene zugerechnet zu werden. In deren Refaktionen sitzen Leute, die sensibel genug sind, selbst bei den absurdesten Anschuldigungen zu überlegen, ob nicht doch ein Funken Wahrheit in ihnen steckt. Die Wahrscheinlichkeit, beim Lostreten eines völlig abwegigen Shitstorms irgendeine Reaktion bei diesen Magazinen zu erreichen, ist deutlich höher, als wenn man versucht, eingefleischte AfD-Aktive zum Einlenken zu bewegen.

When your only tool is a hammer, every problem looks like a nail to you. Dieser Satz stimmt auch bei Ideologien. Wer erst einmal ein neues Feindbild zu identifizieren gelernt hat, wird dazu neigen, künftig auch dort den Feind zu wittern, wo er beim besten Willen nicht existiert. Das ist schlimm für die Betroffenen, die Bewegung selbst schnürt es jedoch zusammen. Siehe die Spanische Inquisition, die Hexenverfolgung, die Jakobinerherrschaft, den Volksgerichtshof, der McCarthyismus oder die stalinistischen Schauprozesse.

Was haben all diese Säuberungsaktionen gemein? Sie wendeten sich am Ende gegen ihre Protagonisten.

Sonntag, 12. August 2018

Engagement ist böse!

Wenn die politische Linke etwas in Vollendung kann, ist es, sich selbst zu zerfleischen. Das ist praktisch, lenkt es doch hervorragend vom eigenen Bedeutungsverlust ab. Wir hatten vier Jahre lang die absurde Situation, dass eine Koalition aus SPD, Linken und Grünen das Land hätte regieren können. Statt dessen regierte - eine "große" Koalition. Warum? Weil die verschiedenen linken Strömungen sich gegenseitig vorwarfen, nicht wahrhaftig links zu sein.

Das ist keine neue Verhaltensweise. Eifersüchtig wacht jede linke Splittergruppe über ihren Claim, sieht jede in der Nähe emporkommende Gruppe als Bedrohung und versucht, sie kleinzureden, noch bevor sie irgendetwas Bedeutendes getan hat. Besonders schön kann man es bei der Netzbewegung sehen, die früher im Jahresrhythmus neue Gruppen ausspuckte, die nach einer kurzen, rasanten Aufmerksamkeitsphase wieder implodierten, weil die Leute nicht die Energie aufbrachten, sich länger als ein paar Wochen auf ein Projekt zu konzentrieren. Weiß heute noch jemand, was die Piratenpartei war? Für diejenigen, die sich nicht mehr erinnern können: Als die populär wurde, haben einige Leute erst einmal so lange gesucht, bis sie ein paar fragwürdige Postings eines Parteimitglieds fanden und bliesen das Ganze zur Behauptung auf, die Piraten hätten ein Naziproblem. Andere fanden den Namen doof. Piraten seien gewalttätige Verbrecher, damit könne man sich doch unmöglich identifizieren. Wieder andere sahen ein Genderproblem. Es müsse doch eigentlich Pirat*innen heißen. Außerdem sie die Partei monothematisch und damit eigentlich gar keine echte Partei.

Als Markus Beckedahl die "digitale Gesellschaft" vorstellte, hagelte es von allen Seiten Kritik. Es sei ein Egotrip. Zu intransparent. Zu elitär. Zu einem Zeitpunkt, an dem Beckedahl nur äußerst schwammig umrissen hatte, was ihm überhaupt vorschwebt.

Die Liste ließe sich beliebig fortführen. Was bleibt, ist die allgemeine gegenseitige Ablehnung, vor allem jedem Neuen gegenüber, weil das eine Gefahr für die bräsige Gemütlichkeit darstellt. Möglicherweise könnte das Neue ja Erfolg haben, und das würfe peinliche Fragen auf, warum man selbst jahrzehntelang nicht in die Pötte gekommen ist.

Jetzt also ruft Sara Wagenknecht eine neue "linke Sammlungsbewegung" namens "#aufstehen" ins Leben, so richtig fancy und cyber mit Hashtag. Nun ist Sara Wagenknecht so ziemlich die Letzte, die ich mit neuen linkem Schwung und zukunftsgewandten Ideen verbinde, aber, meine Güte:

Lasst sie doch erst einmal loslegen.

Ich habe Vorbehalte. Ich glaube, dass die falschen Leute hinter der Bewegung stehen, und was sie genau vorhaben, ist mir auch nicht klar, aber ich habe Geduld und warte ab, wie sich die Sache entwickelt. Die politische Linke hat sich jetzt über ein Jahrzehnt über korrektes Gendern, Kopftuch ja oder nein, Quoten und die Frage zerfetzt, ob man die AfD nun ignorieren, mit aller Gewalt bekämpfen oder doch mit ihr reden soll, dass kaum noch einende Gedanken zu sehen sind. Sobald irgendwer aufsteht und sich für bezahlbare Mieten oder ordentliche Löhne einsetzt, sucht ein Anderer so lange, bis er ein Posting von ihm findet, in dem "schwarz" statt "PoC" steht oder "Bradley" statt "Chelsea Manning", was ja wohl ganz klar die faschistoiden Gedanken dieses Menschen zeigt, weswegen man ihn unter keinen Umständen bei seinem Engagement für mehr soziale Gerechtigkeit unterstützen darf.

Gebt "aufstehen" doch wenigstens die Chance, zu scheitern. Möglicherweise ist die Gründungsbesatzung wirklich nicht so toll, aber noch kann niemand sagen, wohin sich die Sache entwickeln wird. Wenigstens versucht da jemand, wieder etwas Leben in die linke Bewegung zu bringen, und das ist mehr als alles, was in den letzten Jahren passierte. Es zwingt euch auch niemand, Mitglied zu werden. Im Gegenzug könntet ihr das reflexhafte Herumjammern bleiben lassen und einfach ganz entspannt zusehen, was passiert.  Vielleicht gehts schief, vielleicht klappts. Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden.

Samstag, 14. Juli 2018

Buchkritik - Marc-Uwe Kling: Qualityland

Viel wurde in Netzaktivistenkreisen das Buch bejubelt. Der wegen seiner "Känguru"-Reihe beliebte Kleinkünster Marc-Uwe Kling hatte jetzt auch einen längeren Roman geschrieben, in dem es um die Herrschaft der Big-Data-Analyse, des Scorings und des computergestützten Turbokapitalismus über den Menschen geht. Nebenher gibt es noch eine Menge über KI zu lesen, und Ausländerfeinde bekommen auch ihr Fett weg. Kurz: alles was das linke Netzaktivistenherz erfreut.

Vielleicht ist dieser perfekte Mix der Grund, warum das Buch nicht so richtig in die Gänge kommt. Man kann Kling nicht vorwerfen, schlecht recherchiert zu haben. Die technischen Details stimmen. An der Geschichte ist auch nichts auszusetzen: In einer nahen Zukunft haben die Maschinen die Herrschaft übernommen, auch wenn die Menschen das nicht zugäben. Formal haben sie immer noch das Heft in der Hand, aber sie verlassen sich in ihren Entscheidungen so blind auf das, was ihnen die Computer vorgeben, dass der menschliche Faktor praktisch keine Rolle mehr spielt. Der Wert eines Menschen hängt von dessen Scoring ab, und das entscheidet auch, welches Produkt er als nächstes kaufen zu wollen hat - zum Beispiel einen rosafarbenen Vibrator in Delfinform, den der Antiheld der Geschichte eines Tages unverlangt zugestellt bekommt und den er nicht zurückgeben kann. Keine Chance. Die Berechnungen sagen, dass er, auch wenn er es nicht wahrhaben will, dieses Produkt möchte, und Computer können sich nicht irren. Zusammen mit einem Kellerraum voller defekter KI-Hightechprodukte, die er vor der Verschrottung bewahrt hat, bricht er zu einer kafkaesken Reise auf, um das unerwünschte Gerät wieder loszuwerden. In Nebenerzählsträngen geht es um den Chef der das Land beherrschenden Versandfirma sowie einen Androiden, der gegen einen Rechtsradikalen im Präsidentschaftswahlkampf antritt und dabei merkt, wie wenig die Wähler auf Sachargumente ansprechen.

Die Zutaten stimmen, und das Ergebnis schmeckt auch, aber es schmeckt nicht nach meisterlich abgeschmeckter Sterneküche, sondern nach Fertiggericht. Die Grundgeschichte ist in Ordnung, aber sie ist auch nicht besonders originell. Die phlegmatische Hauptfigur kommt einem von den "Känguru"-Büchern bekannt vor, sie funktioniert auch, aber mehr auch nicht. Die Ideen mit den eigentlich zur Verschrottung vorgesehenen Robotern und Haushaltsgeräten, dem selbststeuernden Taxi mit Orientierungsschwierigkeiten und den Lieferdrohnen, die beleidigt reagieren, wenn man ihnen bei der Leistungsbewertung nicht die maximale Punktzahl gibt, sind lustig, aber seit Douglas Adams auch nicht mehr neu. Der paternalistisch herrschende Social-Media-Versandhauskonzern ist gut beschrieben, aber auch das hatten wir in ähnlicher Form schon in "The Circle". Die zahlreichen Seitenhiebe gegen Rechtsradikalismus und Ausländerfeindlichkeit mögen die dringend nötigen Streicheleinheiten für die Berliner Alternativszene sein, damit der Hipster von Welt auch das Neue Kling-Buch kauft, aber wen will Kling damit erreichen? Glaubt er ernsthaft, ein AfD-Wähler kaufe sich das Buch, um es mitten während des Lesens sinken zu lassen und zu sagen: "Ja, also, wenn ich mir das hier so ansehe, merke ich, dass Rassismus eine reichlich dumme Sache ist. Ich glaube, ich wähle wieder grün." Die Idee, bereits bekannte Abkürzungen neu zu belegen, hat schon fast Schülerkabarettniveau. Ähnlich geht es mir bei den penetranten Zahlenspielereien im Buch. Viele Zahlen sind entweder glatte Zweierpotenzen, sind in Dualschreibweise irgendwie hübsch anzusehen oder spielen sonstwie auf die IT-Welt an. Ja, Nerds lieben diese kleinen Erkennungszeichen, mit denen man sich gegenseitig der Gruppenzugehörigkeit versichert, aber die Dosierung ist wichtig. So massiv wie in "Qualityland" wirken sie eher wie der Straßensozialarbeiter Ende 40, der  mit akkurat falsch aufgesetzter Baseballkappe auf eine Gruppe Jugendlicher zugeht: "Hey Kid's, was geht ab, immer voll krass am Chillen?" Dabei hatte man ihm doch im Fortbildungsworkshop gesagt, dass die jungen Leute heute so reden.

Kling hat einen Sinn für absurde Situationen, er hat ein Gespür für Komik, aber vielleicht funktioniert es in in kurzen, knackingen "Känguru"-Geschichten besser als bei einem langsam sich entwickelnden Erzählfaden eines Romans. Kling scheint das zu ahnen, und so greift er zum Standardtrick, dessen sich jeder zweitklassige Comedian bedient, wenn er aus einem lahmen Publikum ein paar billige Lacher rauskitzeln will: schlüpfrige Anspielungen. Am deutlichsten wird dies natürlich bei dem Artikel, den der Protagonist vergeblich zurückgeben will, aber Gürtellinien-Witzchen kommen auch sonst mehrfach vor. Ich finde nicht, dass Kling so etwas nötig hat.

Insgesamt kommt ein Buch heraus, das weder besonders schlecht, noch besonders gut ist. Es buhlt etwas sehr aufdringlich um die Lesergunst, was einfach schade ist, denn die Figuren, die Ideen und die Recherche stimmen. Es scheint mir, als hätte Kling genug davon, als der lustige Kleinkünster mit seinen etwas albernen Kurzgeschichten herumgereicht zu werden und habe nun den satirischen Science-Fiction-Roman schreiben wollen, mit dem er auch die Anerkennung des moderat netzaffinen Bildungsbürgers bekommt. Den überwiegend positiven Reaktionen aus dieser Gruppe zufolge ist ihm das auch gelungen. In meinen Augen bleibt das Buch jedoch hinter dem zurück, was es hätte werden können.

Marc-Uwe Kling: Qualityland. Ullstein, 18 €

Sonntag, 1. Juli 2018

Buchkritik - Katharina Nocun: Die Daten, die ich rief

In den vergangenen Jahren hat die Netzaktiven-Bewegung viele Leute nach oben gespült, bei denen man sich verzweifelt gefragt hat, welche Eigenschaft außer hysterischem Kreischen sie wohl besonders auszeichnen mag. Oft genug nutzten diese Leute dann ihre Viertelstunde Ruhm, noch schnell ein Buch zusammenzukritzeln, gern mit einem lustigen Wortspiel, vielleicht irgendwas mit "klicken", um sich so den Anschein von Relevanz zu geben.

Zum Glück gehört Katharina Nocun nicht zu dieser Art Netzaktiven, im Gegenteil. Sie tauchte vor ungefähr einem Jahrzehnt in der Szene auf, diskutierte engagiert, gern auch etwas überspitzt, aber eben auch immer sachkundig. Das sind nicht die Voraussetzungen für eine Blitzkarriere, aber Kattascha setzte offenbar mehr auf Seriösität als auf Krawall. Den konnte sie durchaus auch. Wenn sie es darauf anlegte, konnte sie auch auf einer improvisierten Bühne einer Demonstration einheizen, und der eine oder andere knackige Spruch kam dabei zustande. Insgesamt aber bestach sie in erster Linie durch Sachkunde und Argumente.

Vielleicht ist das auch der Grund dafür, warum sie ungewöhnlich lang mit einem Buch auf sich warten ließ. Andere Aktive waren ihr zuvorgekommen, hatten Mitte 20 Autobiografien verfasst, sich an der Netzbewegung im Allgemeinen und den Piraten im Besonderen abgearbeitet. Auch Kattascha hätte dazu reichlich Anlass gehabt. Statt dessen kommt sie mit ihrem Buch zu einer relativ unspektakulären Zeit und zeigt gerade damit ein gutes Zeitgefühl.

Kattascha ist Datenschutzaktivistin und deswegen schreibt sie, wen wundert's, über Datenschutz. Das große Grundlagenwerk, der alles verändernde Meilenstein, die neue Referenzgröße zu diesem Thema ist dabei nicht herausgekommen, aber das war wohl auch nie ihr Anspruch. Zu viele haben vorher ebenfalls darüber geschrieben: Gerhart Baum, Ilja Trojanov und Juli Zeh, Constanze Kurz und Frank Rieger, Jan Philipp Albrecht, Malte Spitz, um nur einige Namen zu nennen. Nach all diesen Büchern noch irgendetwas komplett Neues zu erwarten, wäre Unsinn. Was man jedoch erwarten kann, ist alle paar Jahre ein Buch, das den aktuellen Stand sauber darstellt; ein Buch, das man jemandem, der in die Materie einsteigen will, in die Hand geben und sagen kann, dass da die wesentlichen Argumente erläutert werden. Ein solches Buch war mal wieder fällig, und dankenswerterweise hat Kattascha es geliefert, engagiert, gut lesbar, kompetent. Dass im hinteren Teil, in dem es um konkrete Tipps geht, der eine oder andere Hinweis nicht korrekt ist, stört nicht weiter. Der Rest gleicht das vollkommen aus.

Das Buch beginnt mit einer Recherche, die sich von der Idee her bei Malte Spitz "Was macht ihr mit meinen Daten?" bedient und nachforscht, wo welche Informationen über uns anfallen und verarbeitet werden. Wer Spitz' Buch gelesen hat, findet hier keine sensationellen Neuigkeiten, aber eine willkommene Aktualisierung. Im zweiten Teil geht es um die Möglichkeiten, und mit den über uns gewonnenen Daten zu manipulieren. Anhand vieler Fallbeispiele und selbst durchgeführter Experimente räumt Kattascha mit dem Mythos auf, das Netz sähe für alle gleich aus und behandle auch alle gleich. Der dritte Teil beschreibt Möglichkeiten der Gegenwehr, und hier fehlt neben diversen technsichen Maßnahmen auch nicht der dringende Appell, politisch aktiv zu werden. Zum Abschluss gibt es eine reichhaltige Literaturliste, welche die zahlreichen im Buch genannten Beispiele mit Quellen belegt. Schön wäre es gewesen, wenn der Text schon direkt auf diese Werke verwiesen hätte, aber wahrscheinlich wollte der Verlag nicht mit Dutzenden Fuß- und Endnoten unnötig Leute verschrecken.

Mein persönlicher Lieblingsabschnitt ist der über das Zustandekommen der DSGVO, der gerade in der zur Zeit herrschenden Anti-Datenschutz-Hysterie all denen um die Ohren gehauen gehört, die sich lautstark darüber echauffieren, wie unfassbar böse dieses Gesetzeswerk ist. Dieser Abschnitt beschreibt, wie massiv und mit welch unredlichen Methoden bisweilen gegen das Zustandekommen des Gesetzes lobbyiert wurde. Es wird klar, wie dringend notwendig die Verordnung war, dass sie trotz aller Kritik eine deutliche Verbesserung zur vorherigen Lage darstellt und dass die zum Großteil extrem uninformiert herumtönenden Kritiker vielleicht einmal darüber nachdenken sollten, wem sie mit ihrem Gekreische Schützenhilfe leisten.

Katharina Nocun:  Die Daten, die ich rief. Lübbe 2018, 18 €.

Samstag, 12. Mai 2018

Linke auf AfD-Werbung

Falls ihr euch fragt, warum die AfD von einem Wahlerfolg zum nächsten eilt, wenn ihr euch fragt, ob wir tatsächlich 15 Prozent Nazis unter uns haben oder ob die Leute inzwischen einfach nur noch verzweifelt alles wählen, was einen nicht mehr funktionierenden Diskurs aufzubrechen droht, dann schaut euch dieses Video an.

Bevor hier wieder einer die Schubladen aufzieht: Nein, ich habe nie die AfD gewählt und ich werde es auch nicht. Ich halte nichts von der DVU, den Republikanern, der NPD, der CSU, oder wie diese Rechtsradikalen sich gerade nennen mögen. Die rechteste Partei, die ich je gewählt habe, waren die Grünen. Über Jahrzehnte habe ich mich im linksliberalen Milieu sehr wohl gefühlt, aber ich bin zunehmend befremdet darüber, wie sich hier eine Diskussionskultur ausbreitet, die ähnlich viel Pluralität zulässt wie der Stalinismus.

Worum geht es im Video? Eine weiße Frau ruft in einem Stadtpark mit ihrem Mobiltelefon die Polizei, weil sie sich an ein paar Leuten stört, die dort gemütlich grillen. Eine zweite, mutmaßlich ebenfalls weiße Frau zückt daraufhin ihre Mobiltelefonkamera und filmt die gerade die Polizei herbeitelefonierende erste Frau. Messerscharfe Kombination: Die Leute, die da grillen, sind schwarz, also handelt die erste Frau aus rassistischen Motiven.

Es stellt sich die Frage: Woher weiß sie das? Ist sie vielleicht nicht einfach eine Spießerin, wie sie in Deutschland zu Millionen herumlaufen (das Video selbst wurde in Oakland aufgenommen), die sich als Blockwart aufspielen muss? Im weiteren Verlauf des Videos wendet sich die filmende Frau an die Grillenden: Gell, ihr seid schwarz, nicht wahr? Gell, die Frau, die da gerade die Polizei ruft, die ist weiß, nicht wahr? Eine ganz üble Rassistin, stimmt's? Ich bin auch weiß, richtig? Ja, aber ich setze mich ganz toll für euch Schwarze ein, bin ich nicht ganz toll antirassistisch?

Stimmt, so ein dreißig-, vierzigjähriger Schwarzer kriegt seinen Kram nämlich nicht ohne Hilfe durch die weiße Herrenrasse erledigt. Der wäre ja völlig aufgeschmissen, wenn sich die Filmfrau nicht eingemischt hätte, zumal seinen Angaben zufolge die Feuerwehr schon mehrfach freundlich winkend vorbeigefahren war. Hätte ihn die weiße Filmfrau nicht gerettet, wer weiß, was dann passiert wäre.

Durch so viel Zuspruch ermutigt, geht die Filmfrau jetzt auf die Telefoniererin los und bezichtigt sie - jetzt müsst ihr ganz tapfer sein - des Diebstahls. Eine ganze Visitenkarte soll sie gestohlen haben! Im Wert von, mal überlegen, bestimmt 50 Cent! Die Stimme der Filmfrau schraubt sich ihn Höhen, die man wohl nur bei völliger Adrenalinübersättigung erreichen kann. Sie will sofort ihre Visitenkarte zurückhaben. Die Visitenkarte, die sie zwar der Telefonierfrau gezeigt hatte, aber von Geben war nie die Rede. Diebstahl! Die Telefonierfrau ist sogar bereit, die unfassbar wertvolle Karte zurückzugeben, will sie aber vorher abfotografieren. Jetzt kennt die Hysterie der Filmfrau keine Grenzen mehr. Wie die Telefonierfrau die Unverschämtheit besitzen könne, einfach so eine ihr gezeigte Visitenkarte abzufotografieren. Sagt die Frau, die zu diesem Zeitpunkt drei Minuten lang ungefragt eine andere Frau beim Telefonieren filmt.

Das Video endet damit, dass die Polizei eintrifft und die Telefonierfrau unter Tränen berichtet, sie sei von der Filmfrau belästigt worden. Die Kommentare unter dem Video überschlagen sich in diesem Moment vor Häme.

Gäbe es einen Preis für übergriffige Selbstgerechtigkeit, die Filmfrau bekäme ihn. Ich bin überzeugt, wären die Grillleute weiß gewesen, hätte sie niemals für sie Partei ergriffen. Die Art, wie sie bei den Grillenden um Beifall bettelt, weil sie ja eine so tolle Antirassistin ist, hat schon fast pathologische Züge. Minutenlang einfach so andere Leute zu filmen aber völlig auszurasten, weil jemand mit einer Visitenkarte exakt das anstellt, wozu das Ding einst hergestellt wurde, nämlich annehmen und einstecken, schreit geradezu nach einer guten Therapeutin.

Warum ich mich so lang über den Zwischenfall auslasse? Weil er exemplarisch für eine Geisteshaltung ist, die in sich freiheitlich nennenden Kreisen immer mehr um sich greift. Rassisten sind immer nur die Anderen, aber wenn man selbst bei jeder Ungerechtigkeit erst nachsieht, ob sie auch den ethnisch richtigen Leuten zustößt, bevor man Partei ergreift, das ist natürlich kein Rassismus. Ständig mit Argusaugen nachsehen, ob irgendwer falsch gendert, das falsche Geschlecht hat, die falsche Hautfarbe hat oder irgendwas von sich gibt, was irgendwem vielleicht nicht passen könnte, um sich dann unaufgefordert mit den Leuten zu solidarisieren, noch bevor sie sich überhaupt beleidigt fühlen können. das ist genau die Geisteshaltung, für die wir Denunzianten in Diktaturen verachten. Wenn jedoch die Diktatur die richtige politische Richtung hat, ist ein bisschen Polizeispielen schon ganz OK.

Mittwoch, 18. April 2018

In der ideologischen Sackgasse

Irgendwo verübt irgendwer einen Anschlag. Die Presse meldet: Es war ein Ausländer.

"WIE KANN MAN NUR! Die Nationalität spielt doch bei solchen Dingen keine Rolle! Mord ist Mord, egal, wer ihn ausübt."

OK, das nächste Mal meldet die Presse nur, dass es ein 25jähriger Mann war. Jetzt sollte man doch erwarten, dass sich jemand darüber aufregt, dass das Geschlecht keine...

"SIEHSTE, wieder ein klares Beispiel für die brutale Gewalt des Patriarchats!"

Ah, verstehe, Nationalismus ist voll böse, aber Sexismus ist OK, so lange das Feindbild stimmt. Vor einigen Tagen fuhr in Müster ein Auto in eine Menschenmenge. Weder über Geschlecht, noch über Nationalität der Schuldigen war lange Zeit etwas zu erfahren. Dann kam heraus, dass es ein Deutscher war. Jetzt sollte man meinen, dass es deswegen Ärger gibt, weil...

"GENAU, ein Deutscher. Siehste, es sind eben nicht immer nur die Ausländer, gegen die ihr immer hetzt."

Mal sehen, ob ich das zusammenkriege: Wenn der Attentäter Ausländer ist, spielt die Herkunft keine Rolle, aber wenn es ein Deutscher ist, auf einmal schon? Gut, habe ich notiert. Kommen wir zu vergangenem Samstag.

Da hat ein Raufen rechter Wirrköpfe in Köln gegen das NetzDG demonstriert. Das sollte nicht weiter verwundern, denn genau für sie ist es überhaupt erst geschrieben worden. Das Problem mit diesem Gesetz ist nur: Es geht nicht allein gegen die Rechten. Das wäre erstens wenig sinnvoll und zweitens verfassungsrechtlich fragwürdig. Deswegen geht das Gesetz gegen verleumderische und hetzerische Äußerungen allgemein und droht den Betreibern sozialer Netze empfindliche Strafen an, wenn sie solche Äußerungen nicht umgehend sperren. Dummerweise sieht das NetzDG keine Strafen vor, wenn man im Übereifer nicht nur eindeutig strafbare Äußerungen sperrt, sondern lieber gleich alles, was irgendwie Ärger bereiten könnte. Aus diesem Grund haben auch viele, eher dem linken Spektrum zuzurechnende, Netzaktivistinnen Bedenken gegen dieses Gesetz geäußert. In den falschen Händen ist es eben nicht nur ein Instrument, um rechte Hetze aus dem Netz zu verbannen, sondern es lassen sich fast beliebige Inhalte zensieren. Das ist übrigens ein guter Indikator dafür, ob ein Gesetz oder eine Regel im Allgemeinen wirklich gerecht ist: Wenn ich widerwillig anerkennen muss, dass es mich selbst auch treffen kann, ist es gerecht. Ich kann mich eben nicht hinstellen und fordern, dass der Kinder wegen in meiner Straße Schritttempo gefahren wird und selbst mit 30 durchpreschen, weil ich so toll aufmerksam fahre, dass ich niemals einen Unfall baue.

Ein anderes Beispiel ist die Vermietung der Stadthalle Wetzlar an die NPD. Hier hat die Stadt - was ich emotional verstehen kann - versucht, der NPD die Nutzung der Halle zu verwehren. Die NPD hat daraufhin geklagt und gewonnen. Prompt schwappte eine Empörungswelle durchs Netz, was dem Gericht denn einfiele, sich an geltendes Recht zu halten. Wir brauchen uns nicht darüber zu unterhalten, dass die NPD eine Partei mit zutiefst verachtenswerten Zielen ist, aber sie ist - eine zugelassene Partei. Deswegen gelten für sie die gleichen Spielregeln wie für die Piraten, die Grünen, die CDU oder die SPD. Wenn eine zur politischen Neutralität verpflichtete Stadtverwaltung einer zugelassenen Partei einen Veranstaltungsraum nicht zur Verfügung stellen will, weil ihr deren Ziele nicht passen, kann das schnell nach hinten losgehen. Was wäre, wenn eine Stadt - was ich in den nächsten Jahren für gut möglich halte - von einer CSU-AfD-Koalition regiert wird und die eine Veranstaltung der Grünen verhindern will, weil ihr deren Ziele nicht passen?

Zurück zur Situation am vergangenen Samstag in Köln. Die Szene war in ihrer Absurdität schon speziell. Im Prinzip finde ich es nämlich völlig richtig, gegen ein derart stümperhaftes und gefährliches Gesetz auf die Straße zu gehen, und ich frage mich, warum es nicht schon längst Proteste dagegen gab. Na gut, vielleicht liegt es daran, dass die Netzaktiven-Szene nach 10 Jahren weitgehend erfolglosen Herumgelatsches sich eher auf andere Protestformen verlegt hat. Das aber führ dazu, die Straße denjenigen zu überlassen, die man auf keinen Fall da haben will. Natürlich haben sich wie immer, wenn die extreme Rechte demonstriert, auch linke Gegendemonstranten gemeldet, und das wiederum gab den extrem Rechten eine Steilvorlage für eine Rede, die sie als die aufrechten Verteidiger der Meinungsfreiheit hinstellten und die Linken als Gesinnungstaliban.

Zumindest, was den ersten Teil der Aussage angeht, konnten die Rechten nicht falscher liegen.

Mittwoch, 14. Februar 2018

Die Wiederkehr der SPD

Die Überschrift mag zu diesem Zeitpunkt überraschend wirken. Scheinbar ist die SPD am Ende. Erste Umfragen sehen sie bei 16,4 %. Der vor wenigen Monaten noch mit 100 Prozent gewählte Parteivorsitzende ist zur absoluten Lachnummer verkommen. Es gibt keine Fehlentscheidung, keinen Umfaller, den er ausgelassen hätte. Der Noch-Außenminister versuchte seine Absetzung mit einer peinlichen Jammernummer und Zitaten seiner Tochter abzuwenden und hat gerade dadurch bewirkt, dass keine derzeit mögliche Parteiführung ihn im Amt lassen kann, zumindest nicht ohne Gesichtsverlust. Nicht, dass Gesichtsverlust bei dieser Partei noch etwas zählte. Selbst die kontrollierte Machtübergabe des Vorsitzes misslang, weil jemand zart darauf hinwies, dass es "Parteivorsitz", nicht "Erbkönigtum" heißt, und dass es dem scheidenden Vorsitzenden eben nicht zustünde, sich einfach wild aus der Mitgliederschaft jemanden herauszupicken und kraft seiner verschwundenen Autorität zu verkünden: Die ist es.

Die designierte Nachfolgerin reißt auch nicht gerade zu Begeisterungsstürmen hin. Zu sehr neigt sie zu verbaler Kraftmeierei, zu selbstverliebt ist ihr Auftreten, und doch: Wenn jemand die SPD noch retten kann, wenn es jemanden gibt, den die SPD in diesen Tagen braucht, ist es Andrea Nahles. Das Spiel ist riskant, die Partei scheinbar in Auflösung begriffen, aber gerade deswegen sage ich: Etwas Besseres konnte ihr nicht passieren, wir erleben hier möglicherweise nicht das Ende, sondern einen neuen Anfang. Das ist kein heilloses Chaos, das ist der Umbau der SPD zu einer demokratischen Partei.

Über Jahrzehnte verwechselte die SPD großspuriges Mackertum mit Führungsstärke. Über Jahrzehnte unterdrückte sie dringend notwendige interne Diskussionen mit Kampfvokabeln wie "Solidarität" und "Stärke zeigen". Auf Parteitagen galten Kampfkandidaturen als Zeichen der Zerrissenheit, nicht als demokratische Selbstverständlichkeit. Vorsitzende wurden mit Zustimmungsraten gewählt, die irgendwo zwischen DDR und Nordkorea lagen. Peinlich genau wurde mit der Stoppuhr gemessen, wie lang die Delegierten applaudierten, und selbst bei Ansprachen auf dem Niveau einer Abirede musste es alle von den Stühlen reißen.

Vielleicht ist der einzige historische Verdienst, den man Martin Schulz zurechnen kann, nicht der, die SPD in den Abgrund gerissen, sondern durch seine Inkompetenz die Widersprüche in seiner Partei offengelegt und sie in einen Umwandlungsprozess gezwungen zu haben. Vielleicht geht es schief, aber ich behaupte, die Erfolgsaussichten sind gar nicht schlecht.

Ich sehe die missglückte Machtübergabe an Nahles nicht als peinliches Missgeschick, sondern als deutlichen Hinweis des Parteivolks: Es gibt Regeln. Nichts gegen Andrea, aber die wird immer noch gewählt, nicht inauguriert. So ist auch die Kampfkandidatur der Flensburger Bürgermeisterin gegen Nahles zu werten: nicht als ernsthaften Zweifel an ihrer Führungsrolle, sondern als Signal, dass sie eine echte Wahl im Sinne von Auswahl haben möchte.

Obwohl ich nichts von Nahles halte: Sie hat genau die richtige Mischung zwischen Bierzelt und Konferenzraum, den es gerade braucht. Das Bierzelt, in dem sie die gebeutelte Parteiseele aufpeppelt, der Konferenztisch, an dem sie hart, aber verlässlich verhandelt. Nahles hängt seit Jahrzehnten im Parteidickicht. Das Attribut "personeller Neuanfang" ist das Letzte, was mir bei ihrem Namen in den Sinn kommt. Dennoch hat sie es geschafft, sich aus den größten Katastrophen (sieht man einmal von ihren eigenen peinlichen Auftritten ab) herauszuhalten. Es gab schon einmal eine Frau, die völlig unterschätzt viele Jahre im Schatten der Platzhirsche ganz ruhig ihre Sachen erledigt hat, um dann, als um sie herum alles kollabierte, als Retterin aufzutreten, die Partei zu reformieren und wieder an die Macht zu bringen: Angela Merkel. Vielleicht gelingt Andrea Nahles das Gleiche für die SPD.

Freitag, 9. Februar 2018

Fertiggezockt

Am Ende der Koalitionsverhandlungen wurde noch einmal kräftig Pseudospannung aufgebaut. Oh nein, die erste Verlängerung, dann die zweite - es wird doch nicht etwa?

Natürlich nicht. Allen Beteiligten war klar: Diese Koalition kommt zustande, egal wie. Es kam nur noch darauf an, wer besser pokert.

Und besser gepokert haben, sehr zu meinem Erstaunen, die Spezialdemokraten. Natürlich kann man nicht sagen, sie hätten ihre Überzeugungen durchsetzen können. Dazu müssten sie welche besitzen. Außer der natürlich, dass sie um jeden Preis regieren wollen. Was ich nicht vermutet habe, ist, dass die CDU so sehr mit dem Rücken zur Wand steht, dass sie sich im Postengeschacher so weit runterhandeln lässt. Außenministerium: SPD. Finanzministerium: SPD. Innenministerium: CSU.

Besonders putzig finde ich das neu eingerichtete "Heimat"-Ressort. Ich hätte nicht für möglich gehalten, dass man die CSU so leicht  mit einem Verballeckerli ruhiggestellt bekommt. "Komm, darfst dich jetzt auch um die Heimat kümmern, wirst du wahrscheinlich genauso toll, wie ihr euch in den letzten vier Jahren ums Internet gekümmert habt, jetzt geh spielen." Natürlich ist es besorgniserregend, dass Seehofer Innenminister wird, aber wir haben auch Zimmermann, Schily, Schäuble und Kanther überstanden, da sollte es selbst Seehofer schwerfallen, einen neuen Negativrekord zu schaffen.

Andrea "Ätschi-Bätschi bis es quietscht" Nahles wird Parteichefin. Dann wird wohl bald das Pippi-Langstrumpf-Lied die Parteihymne. Zugegeben, mit einer siebenminütigen Rede auf dem SPD-Parteitag die Stimmung pro Koalition kippen zu können, ist eine Meisterleistung. Eine rhetorische Meisterleistung. Inhaltlich war die Rede dünn. Doch offenbar ist es genau das, was die Basis liebt: inhaltsleeres Gewäsch, emotional vorgetragen, und Claudia Roth war leider schon vergeben.

Den humoristischen Höhepunkt setzte ausgerechnet der ansonsten nicht gerade für Feinsinnigkeit und Sensibilität bekannte Noch-Außenminister Sigmar Gabriel, welcher der SPD "Wortbruch" vorwarf. Siggi, alter Freund und Chefstratege, kann es sein, dass du dich da ein ganz kleines bisschen verzockt hast? Ja, es war ein brillianter Schachzug vor dir, damals, vor einem Jahr als ungeliebter Parteichef beiseitezutreten, den bis dahin nahezu unbekannten Martin Schulz aufs Podest zu heben und sich zum Ruhestand ins Außenministerium zu verabschieden, einem Posten, auf dem selbst Klaus Kinkel nicht komplett inkompetent rüberkam. Schön hattest du es dir ausgemalt, denn so lange die SPD nicht ganz aus der Regierung fliegt, wird dein Nachfolger ja wohl kaum so undankbar sein, dich von diesem Posten wegzukicken.

Doch, ist er. Was überrascht dich daran? Du solltest deine Partei doch besser kennen, die SPD, deren oberste Würdenträger keine Überzeugung kennen, die sie noch nicht verraten haben. Wie viele Stunden hat es Heiko Maas gekostet, um vom großmäuligen Gegner der Vorratsdatenspeicherung zu deren glühenden Verfechter zu werden? Wer hat dafür gesorgt, mit der Agenda 2010 den Sozialstaat zu demontieren und damit die eigene Stammwählerschaft in die Armut zu treiben? Wer - ach egal, die Liste ist lang, und jetzt auf einmal jammerst du herum, dein Politclub, der sich den Wortbruch praktisch auf die Parteifahne gestickt hat, hielte seine Versprechen dir gegenüber nicht ein. Merkst du jetzt, wie sich das anfühlt? Dann weißt du, wie die Millionen Wähler fühlen, die euch inzwischen den Rücken gekehrt haben.

Auf Twitter werden in den kommenden Wochen noch die politischen Zaungäste herumtönen und den Eindruck erwecken, beim anstehenden Mitgliederentscheid sei die Entscheidung nicht schon längst gefallen. Leute, diese Befragung ist ungefähr so aufregend wie die Einkaufszone von Wanne-Eickel. Die Basis war immer schon für die "große" Koalition, und sie wird nicht so dumm sein, das erzielte Verhandlungsergebnis noch zu kippen. Sie feiern noch einmal die große Party am Vorabend der möglichen Katastrophe. Im Moment können sie nur verlieren. In vier Jahren (oder wie lange die Koalition hält) kann vieles passieren, und bei dieser Postenverteilung hat die SPD sogar eine wirkliche Chance, zu zeigen, dass sie mehr wert ist als 20,5 Prozent. Sollte der Versuch schiefgehen, dann zögert sich das Ende wenigstens um ein paar Jahre hinaus. Ich tippe auf mindestens 70 Prozent Zustimmung beim Mitgliederentscheid. Daran ändern die 24.000 Neueintritte auch nicht viel.

Wie vor vier Jahren häufen sich auch jetzt wieder Stimmen, die es für ein Unding halten, dass 463.723 Parteimitglieder die Geschicke des Landes bestimmen dürfen. Das sei verfassungswidrig. Freiheit des Mandats, Sie verstehen?

Ehrlich gesagt, nein. Wir brauchen uns nicht darüber zu streiten, dass der Mitgliederentscheid wieder eine Farce ist, weil die Parteiführung wider einmal mit Rücktritt droht, sollte das Parteivolk nicht nach ihrer Pfeife tanzen. Aber wenigstens gibt es überhaupt eine Möglichkeit, als Basis seine Meinung zu sagen. Ich finde es zwar auch befremdlich, dass Führungsgremien immer dann ihre Liebe zum Plebiszit entdecken, wenn sie keine Lust haben, eine Entscheidung zwischen mehreren gleichermaßen schlechten Optionen zu treffen und die Verantwortung dafür lieber dem Fußvolk in die Schuhe schieben, aber der Koalitionspartner kam ja nicht einmal auf eine derartige Idee. Da entscheidet irgendein Führungskader, und das soll demokratischer sein, oder wie sehe ich das?

Wenn ihr schon in die Verfassung guckt, dann lest bitte auch die Stelle über die Parteien. Die sind da nämlich ebenfalls erwähnt. Was ihr also theatralisch in 5 Verfassungsbeschwerden anprangert, ist ein Dilemma, das unserer Verfassung seit Staatsgründung innewohnt: Die Abgeordneten sind in ihrer Entscheidung frei, aber im Zweifelsfall lassen sie sich von der Fraktion oder der Partei vorschreiben, wie sie zu denken haben. Toll finde ich das auch nicht, aber wer sich mit Politik etwas mehr beschäftigt, als wichtigtuerisch im Grundgesetz zu blättern, merkt schnell: Für dieses Verhalten sprechen mehrere pragmatische Gründe. Nur ein Beispiel: Keine Abgeordnete hat auch nur die Chance, sich in alle Themen einzuarbeiten, über die sie im Plenum entscheidet. Sie hat ihre Spezialgebiete, beim Rest bleibt ihr gar nichts Anderes übrig, als darauf zu vertrauen, dass die anderen Spezialisten in der Fraktion über die anderen Themen Bescheid wissen. Natürlich ist das nicht ideal, aber setzt euch auch nur für eine Legislaturperiode in ein Parlament, dann wollen wir sehen, ob ihr euch immer noch so aufplustert.

Was mich viel mehr interessiert: Wie lang geht die Party? Bei allem Respekt vor dem, was die SPD herausschlagen konnte - der Erfolg ist riskant. Die CDU weiß, dass sie von einer Splitterpartei über den Tisch gezogen wurde, und diese Unzufriedenheit wird sich durch die kommenden Jahre hindurchziehen. Darüber hinaus wimmelt der Koalitionsvertrag nur so vor Wischi-Waschi-Bekundungen. Das ist einerseits gut, weil damit jetzt nicht einfach ein Vier-Jahres-Plan verabschiedet wurde, bei dem man nur noch ergeben ein Thema nach dem nächsten abhakt, auf der anderen Seite gibt es reichlich Konfliktstoff, wenn es irgendwann zum Schwur kommt und sich die Koalitionsparteien darüber einigen müssen, was sie da eigentlich vereinbart haben. Einfach Nasebohren und Aussitzen wird diesmal nicht funktionieren, denn im Parlament sitzen mindestens zwei populistische Parteien, die keine Gelegenheit auslassen werden, die tatenlose Regierung vorzuführen. Es werden also Entscheidungen verlangt, und was dabei herauskommt, wenn man schnell noch auf den letzten Drücker irgendein Gesetz durchpeitscht, haben wir zuletzt beim NetzDG gesehen.


Samstag, 3. Februar 2018

Wand und AStA und Farbe und wieder ein paar Prozent mehr für die AfD

Jetzt ist es amtlich. Die Alice-Solomon-Hochschule wird ein Gedicht von der Außenwand eines ihrer Gebäude entfernen lassen und durch ein anderes ersetzen - eines, bei dem der AStA noch nicht weiß, was daran verwerflich sein könnte. Über Monate zog sich der Streit hin, weit über hundert Artikel und Radiobeiträge sind dazu verfasst worden. Wir lernen: Kunst hat gefälligst kantenlos zu sein, gefällig, weichgespült, und sie hat sich allen unterzuordnen, die mit abenteuerlichsten Argumentationen sich theatralisch als Opfer, als potenzielle Opfer, als potenziell gefährdete Opfer, inszenieren. Nein, das hat natürlich nichts mit Zensur gemein, das erinnert überhaupt nicht an Totalitarismus. Wir hatten nicht im vergangenen Jahrhundert zwei Diktaturen, in denen festgelegt war, welche Kunst der Staatsideologie dienlich und welche "entartet" ist und sollten daraus vielleicht die eine oder andere Lehre gezogen haben.

Die Uni ist kein Bällebad

"Pffkrrz. Achtung, der kleine AStA will gern aus dem Kinderparadies abgeholt werden." Ich weiß nicht, was es diesmal war. Vielleicht waren die Bälle zu grell bemalt, oder Lisa-Marie hatte wieder den Joghurt gegessen, von dem doch alle wissen, dass er nicht vom Demeter-Bauern ist, und damit kommt der kleine AStA gar nicht klar.

Es mag für unsere hoffnungsvollen Nachwuchsakademikerinnen hart sein, aber Hochschulen sind als Orte, an denen unser Land die höchsten Bildungsweihen vergibt, die es hat, nicht als angenehm konzipiert. "Studere", lateinisch für "sich bemühen, abmühen" deutet es bereits an. Idealerweise stellt das Lernen an einer Hochschule jeden Tag aufs Neue die eigenen Überzeugungen infrage. Nichts Anderes ist nämlich Forschung: Hypothesen aufstellen, Experimente zur Überprüfung ersinnen, sie durchführen, und erst, wenn die Hypothesen erfolgreich alle Angriffe überstanden haben, sie ganz vorsichtig in den Rang einer Wahrheit erheben - immer bereit, sie erneut zur Debatte zu stellen.

Da muss man auch einmal damit leben können, an einer Wand vorbeigehen zu müssen, auf der etwas steht, was einem nicht ganz in den Kram passt. Zumal an dieser Wand keine Hakenkreuzschmierereien oder das Horst-Wessel-Lied standen, sondern einfach nur ein Gedicht. Nicht das beste, aber ich habe auch schon sehr viel schlechtere gelesen.

Das sieht der AStA anders. In seiner Weltsicht hat eine Hochschule eine Art Disneyland zu sein. Schon von weitem sieht man Cinderellas Märchenschloss, und je näher man herankommt, desto quietschbunter wird es. Micky, Goofy, Donald und alle ihre Freunde winken schon von fern und wollen mit einem spielen.

Der AStA hat gesprochen

Doch sehen wir uns die Erklärung des AStA genauer an. Es ist ein Dokument fraktaler Dummheit. Egal, wie nah man heranzoomt, es kommt nur Blödsinn dabei heraus:
Dieses Gedicht reproduziert nicht nur eine klassische patriarchale Kunsttradition, in der Frauen* ausschließlich die schönen Musen sind, die männliche Künstler zu kreativen Taten inspirieren, es erinnert zudem unangenehm an sexuelle Belästigung, der Frauen* alltäglich ausgesetzt sind. 
Für diejenigen, an denen die Schuljahre so spurlos vorübergezogen sind, dass elementare Lesekenntnisse nicht zu den erworbenen Kulturtraditionen gehören: Im Gedicht steht nicht "notgeiler Spanner, der alles vergewaltigt, was ihm vors Gemächte kommt", sondern "Bewunderer". Stellen wir uns die Szene noch einmal vor: Da ist eine Allee mit Bäumen, die Sonne scheint wahrscheinlich, es ist ein angenehmer Frühlingstag, nicht zu kalt, nicht zu warm, die Allee entlang gehen ein paar offenbar nicht ganz unattraktive Frauen, und irgendwo abseits steht (oder sitzt vielleicht auf einer Parkbank) ein stummer Bewunderer. Er rennt nicht auf die Frauen zu, quatscht sie an oder betatscht sie, er steht (oder sitzt) einfach nur da und denkt sich: "Meine Güte, was sehen die toll aus." Mehr nicht. Vielleicht ist er viel zu schüchtern, vielleicht lässt er auch jeden weitergehenden Gedanken gar nicht erst zu. Wir wissen es nicht, das Gedicht geht mit Details nicht gerade üppig um. Für den AStA ist das aber alles eine große Suppe. Bewundern, Vergewaltigen - das unterscheidet sich doch allenfalls graduell:
Zwar beschreibt Gomringer in seinem Gedicht keineswegs Übergriffe oder sexualisierte Kommentare und doch erinnert es unangenehm daran, dass wir uns als Frauen* nicht in die Öffentlichkeit begeben können, ohne für unser körperliches „Frau*-Sein“ bewundert zu werden.
OK, fangen wir mit der Art und Weise an, wie sich der AStA menschliche Erstbegegnungen offenbar vorstellt: Wenn ein Mensch eine Frau sieht, muss er oder sie sofort jeden optischen Eindruck von ihr aus dem Gedächtnis bannen, damit nicht die Gefahr einer darauf basierenden Sym- oder Antipathie besteht. Dann geht Mensch - ganz wichtig, mit abgewendetem Gesicht, bloß nicht ansehen - auf die Frau zu, überreicht ihr ein Klemmbrett mit einem IQ-Test und einem auszufüllenden Charakterprofil und fordert sie in möglichst teilnahmslosen Ton auf, die Unterlagen durchzugehen und wieder zurückzugeben. Nachdem Mensch auf diese Weise sich einen Eindruck der nicht-äußerlichen Merkmale der Frau verschafft hat, hinterlässt Mensch seine Kontaktdaten bei einer Vermittlungsbehörde, damit die Frau sich auf keinen Fall gegen ihren Willen angesprochen fühlt. Sollte es in der Zukunft zu einem schriftlichen oder - G'tt bewahre! - gar mündlichen Informationsaustausch kommen (was dazu führen könnte, dass die Frau aufgrund des Klangs ihrer Stimme irgendwelche von ihren inneren Werten ablenkenden Daten hinterlassen könnte), ist natürlich streng darauf zu achten, dass Mensch die Frau niemals zu sehen bekommt, denn das sind ja Äußerlichkeiten, und die könnte man ja bewundern.

Ich will ja nicht dem Islam das Wort sprechen, aber der hat sich für genau solche Fälle die Ganzköprerverschleierung einfallen lassen. Das ist in unserer technologisierten Welt natürlich nicht mehr zeitgemäß. Vor allem kann man es Frauen nicht zumuten, sich äußerlich so zu geben, dass an ihnen nichts Bewundernswertes zu sehen ist. Das wäre nämlich Victim Blaming. Wahrscheinlich wäre es eine gute Idee, alle trügen Augmented-Reality-Brillen, die automatisch alle Menschen mit schwarzen Rechtecken überblenden und nur den Blick auf diejenigen freigeben, die in einer Datenbank als sich eindeutig männlich Identifizierende hinterlegt wurden. Die anzusehen und für ihr Äußeres zu bewundern, ist aus Sicht des AStA OK.
Die U-Bahn-Station Hellersdorf und der Alice-Salomon-Platz sind vor allem zu späterer Stunde sehr männlich dominierte Orte, an denen Frauen* sich nicht immer wohl fühlen können. Dieses Gedicht dabei anzuschauen wirkt wie eine Farce und eine Erinnerung daran, dass objektivierende und potentiell übergriffige und sexualisierende Blicke überall sein können. 
Und daran hat dieses Gedicht - nochmal welchen Anteil? Ah, da steht's:
Eine Entfernung oder Ersetzung des Gedichtes wird an unserem Sicherheitsgefühl nichts ändern. Dennoch wäre es ein Fortschritt in die Richtung, dass es unsere Degradierung zu bewunderungswürdigen Objekten im öffentlichen Raum, die uns Angst macht, nicht auch noch in exakt solchen Momenten poetisch würdigen würde. 
Bei weiteren Fragen oder konkreten Vorschlägen für alternative Gedichte, stehen wir gerne zur Verfügung  
Oder, ehrlicher formuliert: Das nächste Gedicht hat gefälligst in Zusammenarbeit mit uns ausgewählt zu werden, sonst treten wir noch einmal so eine Welle los.

Verteidigungsversuche

Es hagelte Kritik, aber es gab auch einige - personell wenig überraschende - Versuche, das Gedichteüberpinseln moralisch zu rechtfertigen. Leider fielen sie argumentativ reichlich dünn aus:

"Die Nazis sind auch gegen das Wändestreichen." Ich gebe zu, es verwirrt mich auch, dass gerade die AfD sich auf einmal für Kunstfreiheit einsetzt, zumal sie andernorts ein etwas gespannteres Verhältnis zu den Musen hat, aber auf der anderen Seite: Ist eine Meinung deswegen automatisch falsch, weil ein Nazi sie hat? Wenn die AfD - einfach, um euch zu ärgern - im Bundestag einen Antrag zur Erleichterung des Familiennachzugs einbrächte, wärt ihr dann auf einmal dagegen? Kann man euch wirklich so leicht vor sich hertreiben?

"Es ist doch schön, wenn sich junge Leute politisch engagieren." Ja, das ist es in der Tat. Es ist auch das Recht, vielleicht sogar die Pflicht der jüngeren Generation, überspitzte Positionen zu vertreten. Kompromisse schließt man schon früh genug ab. Und genau weil es zum politischen Diskurs gehört, für eine schlechte Argumentation für einen idiotischen Standpunkt öffentlich die Rechnung zu kassieren, dürfen sie auch diese Lektion lernen. Früher beim Krippenspiel im Kindergarten war es noch niedlich, wenn Josef den Text vermasselte. Gut eineinhalb Jahrzehnte später gelten andere Qualitätsmaßstäbe, insbesondere für Studierend_innen einer staatlichen Hochschule.

"Und was ist mit Dieter Wedel?" Say what? Ernsthaft? Ist das euer Argument? Für genau diese Rhetorik, vom eigentlichen Diskussionspunkt abzulenken und auf ein völlig anderes Thema abzulenken, habt ihr doch eigens einen Kampfbegriff erfunden: Whataboutism. Es ist doch genau eure Taktik, dass Dinge total böse sind, wenn ihr sie mit eurem Pseudofachvokabular runterputzen könnt. Genau dafür und für nichts Anderes habt ihr sie doch alle erfunden, die ganzen Zauberworte wie Mansplaining, Ableism, Derailing oder Lookism. Wenn andere außer Euch so etwas benutzen, dann ist die Aufregung groß, aber wenn ihr selbst euch dieser Mittel bedient, dann ist das auf einmal in Ordnung? Könnten wir uns vielleicht entweder darauf einigen, dass keine Seite diese Verhaltensweisen einsetzt oder, was ich persönlich bevorzuge, dass wir einander tief in die Augen schauen, einsehen, dass diese Kampfvokabeln kompletter Schwachsinn sind und sie dann ganz schnell in einem ganz tiefen Loch entsorgen?

"Haben wir wirklich nichts Wichtigers, um das wir uns streiten?" Stimmt, haben wir, und genau hier setzt meine grundsätzliche Kritik an. Ihr behauptet, für eine bessere Welt zu kämpfen, und an einigen Stellen habt ihr sogar Erfolg, Im Großen und Ganzen aber begeht ihr die gleichen Fehler wie vor einem halben Jahrhundert die 68er: Die große Revolution blieb aus, abgesehen von ein paar kleinen Verbesserungen blieb hierzulande vieles gleich, und weil keiner das zugeben wollte, fingt die 68er auf einmal an, sich für Lateinamerika zu interessieren - ganz gewiss kein unwichtiges Thema, aber doch ganz klar eine Ausweichreaktion, weil es im eigenen Land nicht voran ging. Genau der gleiche Quatsch passiert gerade noch einmal. Wieder einmal stellt die "Linke" beleidigt fest, dass ein 80-Millionen-Land nicht über ihr Stöckchen hüpfen möchte, ja schlimmer noch: dass eine Gegenbewegung einsetzt, gefährlich, aggressiv und bisweilen sogar brutal. Keiner hat eine wirklich gute Idee, was man der erstarkenden Ultrarechten entgegensetzen kann. Es gibt viele Analysen, einige Ideen, aber es sieht so aus, als müssten wir uns zumindest mittelfristig darauf einstellen, dass ein Sechstel der hier lebenden Menschen offen rechtsreaktionär auftritt. Auch das linke Spektrum hat das begriffen, und weil es sein Versagen nicht eingestehen mag, wendet es sich gegen die eigenen Leute. Hier lassen sich wenigstens noch Erfolge erzielen, denn Gegner in den eigenen Reihen wehren sich natürlich nicht ernsthaft. Für den Moment mögen die auf solche Weise gewonnenen internen Scharmützel über die verlorenen echten Schlachten hinwegtäuschen, aber der Preis ist hoch: Immer weniger Leute haben für die zunehmend abgefahrenen Argumentationen (so steht zum Beispiel  "Person of Color" inzwischen nicht mehr für Menschen nicht-weißer Hautfarbe, sondern für "Menschen, die von Rassismus betroffen sind", also auch Polen, die durch das Vorurteil, Diebe zu sein, in Deutschland diskriminiert werden) noch Verständnis und lassen sich vom diffusen Versprechen der Ultrarechten ködern, mit diesem Unsinn aufräumen zu wollen. Ich weiß nicht, wie Sie das sehen, aber mir wird dabei mulmig.

Sie werden es nicht begreifen. Bis zuletzt.

Wenn eines Tages die AfD mit in der Regierung sitzt, wenn wieder unter abenteuerlichen Anschuldigungen Oppositionelle verfhaftet und in fragwürdigen Verfahren verurteilt werden. Wenn - nicht nur in Sachsen, sondern bundesweit - der Mob das erledigt, was der zu diesem Zeitpunkt schon arg gebeutelte Rechtsstaat sich nicht zu erledigen traut, werden die "Linken" ungäubig auf die Wahlergebnisse starren und sich beleidigt fragen, warum das Volk sich von ihnen abgewendet hat, statt ihnen dankbar zuzujubeln.

Samstag, 27. Januar 2018

Putschkonzepte aus der Mottenkiste

Die SPD hat sich entschieden, knapp aber immerhin. Einen Tag lang haben ihre Funktionäre in Bonn debattiert, und nach allem, was man mitbekommen hat, war von der Basta-Rhetorik vergangener Jahre diesmal wenig zu spüren. Dafür spricht auch das für Parteitage ungewöhnlich ausgewogene Ergebnis. Üblicherweise gilt der Marschbefehl, die Parteioberen mit möglichst klarem Votum versehen zurück an die Arbeit zu schicken, damit sie dort gestärkt auftreten können. Ich hatte zwar nicht ernsthaft damit gerechnet, dass sich der Parteitag zu einem Nein zu Koalitionsverhandlungen durchringen könnte, aber "klar" kann man das Votum nicht gerade nennen eher: "Geht hin und verhandelt, aber seid euch darüber im Klaren, dass wir ganz genau hinsehen, wie ihr euch anstellt."

Wie auch immer: Ein Ergebnis ist ein Ergebnis. Man mag - so wie ich - von der Großen Koalition und ihrer Neuauflage nichts halten, aber unter Demokraten sollte es zum guten Ton gehören, eine Niederlage zu akzeptieren.

Umso bizarrer erscheint mir der Versuch, den die sich bisher tapfer schlagenden Jusos auf einmal unternehmen: Sie werben massenhaft für Neueintritte, damit die so gewonnenen Mitglieder beim jetzt bald anstehenden Basisentscheid mit "Nein" stimmen und so die Große Koalition verhindern können. Ich frage mich, wie tief man sinken muss, um auf solche Ideen zu kommen.

That's not how it works


Punkt eins: Die Idee ist nicht neu. Im Gegenteil, zu alter Intrigantentradition der Spezialdemokraten gehört es seit Jahrzehnten, zu wichtigen Abstimmungen die Karteileichen zu aktivieren, damit sie das eine Mal zur Mitgliederversammlung gehen und brav für etwas stimmen, was man ihnen vorher als erstrebenswert eingetrichtert hat. Ich habe Kandidatenaufstellungen für Landtagswahlen erlebt, bei denen gut betuchte Bewerber ein paar Busse gemietet hatten, deren Insassen am Abend noch schnell die Beitrittsformulare ausfüllten, für ihren Sponsor stimmten und dann auf Nimmerwiedersehen verschwanden.

Punkt zwei: Die Parteibasis ist nicht so wie die Funktionärsriege gestrickt. Innerhalb gewisser Grenzen lassen die gerne die Muskeln spielen, die Basis hingegen ist disziplinierter. Die hält traditionell zur Parteiführung, und ihrem Martin wird sie meiner Einschätzung nach kaum die Schmach bereiten, nach monatelangem Hin und Her am Ende eine Absage zu kassieren. Ja, die SPD hat Lust an der Selbstzerfleischung, aber wenn es zum Schwur kommt, steht sie treu zur Spitzenriege.

Punkt drei: Die Parteispitze ist nicht dumm. Im Zweifelsfall setzt sie als Stichtag für die Stimmberechtigung den 20.1.2018 an, also den Tag vor dem Bonner Parteitag, und dann dürfen die ganzen frischgebackenen Genossen stauned den alten Hasen beim Abstimmen zugucken.

Punkt vier: Die SPD ist zwar in den vergangenen Jahren stark geschrumpft, aber 440.000 Mitglieder sind schon eine nicht zu verachtende Zahl. Um hier durch Masseneintritte Mehrheiten zu kippen, braucht man schon etwas mehr als ein paar schmollende Jusos. Selbst bei der FDP, bei der es in der Vergangenheit ähnliche Versuche gab, gelang es nicht, sie auf diese Weise ernsthaft zu ändern.

Frischzellenkur


Das einzige mir noch halbwegs einleuchtende Argument ist das einer dringend nötigen "Verjüngungskur", wobei "jung" hier nicht wörtlich zu nehmen, sondern im Sinne von "Erneuerung" zu verstehen ist. Seit der Ära Kohl weiß die SPD nicht so recht, wo sie hinwill. Schröder kopierte Ende der 90er Tony Blairs neoliberalen Kurs und nannte es "neue Mitte" Das schien damals keine  schlechte Idee und die Frage zu beantworten, wo eine Arbeiterpartei, der aufgrund wirtschaftlicher Umstrukturierung die Arbeiter abhanden kommen, künftig Wähler finden will. Allerdings hieß dies auch, dass die SPD ihr Herz verlor. Sascha Lobo bezeichnete sie sehr treffend als "Technologiebewältigungspartei", eine Partei also, die unvermeidliche Änderungen im Arbeitsleben sozialverträglich mitgvollzog. Deswegen hielt sie noch während des Zechensterbens an der Steinkohle fest, deswegen ist sie noch mitten in der Klimakatastrophe Verfechterin der Braunkohle. Selbst Schröder konnte während seiner Regentschaft daran nichts ändern, zerstöre lieber die gesetzliche Krankenkasse und sorgte dafür, dass Arbeitslosigkeit endlich wieder existenzgefährdend ist. Heraus kam eine Partei, die für Grüne zu industriefreundlich, für Ökonomen zu unwirtschaftlich und für sozial denkende Arbeitnehmer schlicht unwählbar geworden ist. Hinzu kommt die völlig konfuse Art der innerparteilichen Auseinandersetzung.

Zwischen Kuscheln und Peitsche


Auf der einen Seite liebt die Partei den Streit. Sie hatte das kindische Gefetze schon Jahrzehnte vor der Zeit drauf, in der die Piraten sich auf diese Weise komplett demontierten. Im Gegensatz zu den Piraten kennt die SPD aber auch ein Gegenmittel: Den Basta-Macker. Typen wie Schröder, Steinmeier oder Gabriel, die demokratische Prozesse nur so lange respektieren, wie sie ihre eigene Position stützen und in allen anderen Fällen so lange herumschreien, bis sie ihren Willen durchgesetzt bekommen haben. "Führungsstärke" nennt die Basis das und fühlt sich davon angemacht wie Besucher eines SM-Studios. Ab und zu hat sie dann aber auch wieder die Nase voll, und sie setzt sich eher Kuscheltypen vor die Nase wie einst Scharping und jetzt Schulz. Denen tanzt sie eine Weile auf der Nase herum, bis ein neuer Zuchtmeister den Laden zur Räson bringt.

Kurz: Die SPD hat ein Autoritätsproblem. In beiden möglichen Ausprägungen. Die Frage ist, ob eine solche Struktur ein guter Nährboden für durch Neumitglieder initiierte Änderungen ist. Ich schließe es nicht gänzlich aus, habe aber meine Zweifel. Die Probleme der SPD sind über Jahrzehnte gewachsen. Die bricht man nicht mal eben so auf, zumal längst nicht alle Mitglieder Grund zur Veränderung sehen. "Hey, wir sind, von einem kurzen schwarz-gelben Intermezzo abgesehen, seit 1998 in der Regierung. Alles läuft super. OK, die Wahlergebnisse sehen nicht so toll aus, aber das wird schon wieder." Es ist eine Binsenweisheit unter Therapeuten, dass Paradigmenwechsel nicht ohne Zwang entstehen. Suchtkranke müssen erst einmal kräftig gestürzt sein, um zu verstehen, dass sie etwas ändern müssen. So schlecht die SPD auch gerade dastehen mag - um sich von ein oaar Neueintritten aus dem Konzept bringen zu lassen, geht es ihr noch zu gut. Selbst, wenn sie jetzt auf eine Regierungsbeteiligung verzichtete, wüsste sie, dass sie sich jederzeit wieder in eine Große Koalition flüchten kann. Ich fürchte, um sich wirklich verändern zu können, muss die SPD in die Größenordnung der AfD oder FDP schrumpfen, und dann haben wir noch ein ganz anderes Problem.

Sonntag, 14. Januar 2018

34C3: schreiwat

Es regnet in Leipzig, die Temperatur schwankt irgendwo zwischen Frost und Klimakatastrophe. Für knapp eine Woche hat mich das nicht weiter gekümmert. Das ganze Konzept dieses "draußen" war mir egal, weil ich mich sowieso nur aus dem Messegebäude begab, um ins Hotel zu gehen, und das war kurz genug, um Dinge wie Wetter ignorieren zu können. Kurz: Ich war auf dem Congress.

Der Congress materialisiert sich seit 34 Jahren in der letzten Dezemberwoche immer wieder an anderen Orten und zieht inzwischen 15.000 Menschen an, die wenigstens für ein paar Tage endlich wieder normale Leute treffen wollen. Wer sich in einer Unterhaltung auf einen spezifischen Zeitpunkt beziehen möchte, bedient sich auf die Nummerierung, in diesem Jahr beispielsweise 34C3, wer es genauer braucht, auf die Tagesnummer innerhalb des Veranstaltungszeitraums. Niemand spräche vom 28.12.2017, sondern vom 34C3, Tag 2. Ansonsten ist es einfach kurz "der Congress".

Wachstumsschmerzen

Im Laufe der Jahre hat sich der Congress immer wieder vergrößert. Das gemütliche Hackertreffen mit wenigen hundert Teilnehmern ist inzwischen zu einer Großveranstalung mit 15.000 Menschen gewachsen, und es könnten noch viel mehr sein, wenn man sie denn ließe. Der Kampf um Tickets und freie Hotelzimmer nimmt immer absurdere Züge an. Seit sich herumgesprochen hat, dass die freiwilligen Helfer ab einer bestimmten Stundenzahl nicht nur ein Gratis-T-Shirt, sondern auf Vorkaufsrechte auf die nächsten Congresstickets bekommen, melden sich tausende als "Engel" an und prügeln sich förmlich um die freien Schichten. Einige tragen sich ein, tauchen aber nie auf, so dass scheinbar gut besetzte Teams nicht arbeiten können, weil zu wenig Leute da sind. Andere hingegen wollen arbeiten, können es aber wegen des vollen Besetzungsplans nicht und bleiben unterhalb des absurd hohen Stundenlimits. Der ansonsten so nichtkapitalistische Congress mutet an dieser Stelle an wie im frühindustrieellen Zeitalter, in dem wenige Fabrikbesitzer ihren Arbeitern praktisch alles zumuten konnten, weil sie am längeren Hebel saßen.

Wachstumsfreuden


Das sind unschöne Auswüchse, und ich bin sicher, der Club wird wieder einmal eine Lösung finden. Insgesamt nämlich kommt der Congress mit seinem Wachstum gut klar. Vor dem Umzug nach Leipzig gab es viele Bedenken: Wie ist es, in Messehallen Vortragssäle aufzubauen? Kann ein Hackcenter in solchen riesigen Räumen seine Gemütlichkeit behalten? Wenig überraschend können mobile Tribünen niemals den Komfort der perfekt ausgestatteten Säle 1 und 2 des CCH erreichen. Auf der anderen Seite haben ich auch schon sehr viel schlechtere Aufbauten erlebt. Was schon etwas mehr nervte, waren die langen Schlangen, die sich vor den Sälen bildeten und der Tatsache geschuldet waren, dass eine Messehalle einfach nicht dafür ausgelegt ist, auf einen Schlag 3.000 Menschen hinauszulassen, während gleichzeitig die gleiche Zahl hinein möchte. Ich fürchte, hiermit werden wir einfach zu leben lernen müssen. Was wirklich phantastisch funktionierte, war das Hackcenter. Wenn man nach oben viel Platz hat, baut man eben auch höher, und das nutzten gleich mehrere Assemblies.

Wie jedes Mal, wenn der Congress in ein wenigstens für den Moment noch zu großes Veranstaltungszentrum umzog, ergaben sich lange Laufwege, und einige Räume lagen etwas ab vom Schuss. Das galt insbesondere für den Raum "Freedom & Rights", den man leicht übersehen konnte. Auch das sehe ich nur als temporären Effekt. Sollte der Congress weiter wachsen, wird es auch auf den Gängen mehr Stände geben, so dass man beim Herumstreunen automatisch überall einmal vorbeikommen wird.

Auf die langen Wege reagierten die Hacker auf gewohnt verspielte Weise. Angefangen bei Hoverboards über die verschiedensten Tretrollermodelle bis hin zu, tja, Dingen mit Rädern, die sich irgendwie bewegten, gab es zahlreiche Fortbewegungsmittel, die beim Bewältigen der großen Distanzen halfen. Das funktionierte in der Auf- und Abbauphase hervorragend, während des Getümmels der eigentlichen Congresstage zumindest so gut, dass man vielleicht nicht unbedingt schnell, aber wenigstens mit Spaß vorankam. Im nächsten Jahr, vermute ich, wird es noch mehr Roller geben.

Angriff der Profilneurotiker


Der Congress wächst und hat zwischenzeitlich eine Größe erreicht, die neben den Hardcode-Nerds auch die Gruppe der ganz schlicht Bescheuerten erreicht, die schon immer einmal ihre Profilneurose auf Kosten Anderer ausleben wollten. Wir hatten diese Typen in der Piratenpartei erlebt, und nachdem sie die schön kaputt gekriegt haben, ist jetzt der CCC dran. Auf dem 29C3 hatten wir schon die ersten Anzeichen gesehen, als eine Horde Schreihälse mit Creeper-Cards um sich warf und ihre Artikulationsunfähigkeit dem Congress anlasteten, der ihrer Überzeugung nach unbedingt einen Code of Conduct haben müsste. Das funktionierte nur mäßig. Es ging um abstrakte Vorwürfe, es sei zwar nichts passiert, aber sollte dann doch einmal etwas passieren, gebe es keine angemessenen Möglichkeiten, dem zu begegnen.

Hin und Her beim Hausverbot


Diesmal war die Lage anders. Es gab ein Opfer, wenngleich auch nicht klar war, wer es war, es gab einen Täter, wenngleich auch nicht klar war, wer es war und es gab einen tätlichen Angriff, wenngleich auch nicht klar war, was genau passiert war. Statt dessen gab es eine wahre Flut von Tweets, die dem Medium geschuldet relativ diffus blieben. Was genau passiert war, stellte sich erst in den folgenden Tagen heraus, und streng genommen gibt es bis jetzt vielleicht einen Bericht, der sich wenigstens um Objektivität bemüht.

Die Kurzfassung: Vor einigen Monaten wurde eine Frau tätlich angegriffen, die danach ärztlich behandelt werden musste und gegen den mutmaßlichen Täter Anzeige erstattete. Als sie erfuhr, dass der mutmaßliche Täter zum Congress kommen wollte, bat sie die Veranstalter, ihm Hausverbot zu erteilen. Nach einigem Hin und Her, bei dem erst der Mann, dann die Frau, dann beide und schließlich niemand ausgeladen wurden, entschied sich die Frau, trotz aller Bedenken den Congress zu besuchen und begleitete ihre Entscheidung mit der eingangs geschilderten Twitter-Litanei.

Die Schreihals-Fraktion war entzückt. Endlich hatte sie den Beweis, dass eine überwiegend von weißen Männern besuchte Veranstaltung nichts Anderes sein kann, als eine Rund-um-die-Uhr-Vergewaltigunsorgie. Eifrig wurden weitere Beweise gesammelt: Nur knapp ein Viertel der Vorträge wurde von Personen mit weiblichem Vornamen gehalten. Sexismus! Alle Vortragseinreichungen, die sich mit sexualisierter Gewalt beschäftigten, waren abgelehnt worden. Sexismus! Und, Skandal über Skandal, auf der Unisex-Toilette waren Männer gesichtet worden, die bei offener Klotür gepinkelt haben.

Tja, wie soll ich's sagen: Ich habe ohnehin nicht verstanden, was Leute so erstrebenswert daran finden, dass Männer, Frauen und wasweißich gemeinsam ein Klo benutzen. Dass Männer auf Toiletten bisweilen zivilisatorische Defizite aufweisen, ist jetzt nichts wahnsinnig Neues. Toll ist das nicht, aber wer sich daran stört, hat zumindest als Frau eine relativ leichte Möglichkeit, dem zu begegnen: einfach eine Frauentoilette benutzen.

Was die angeblich wegen ihres Themas abgelehnten Vorträge angeht: Ich habe die Einreichungen nicht gesehen, aber vielleicht waren die einfach Mist. Das Programmteam entscheidet nach Qualität und nicht nach Empörungsfaktor.

Was den geringen Anteil mutmaßlicher Frauen unter den Vortragenden angeht: Eine Quote, ist es das, was ihr wollt? Wollt Ihr Verhältnisse wie bei den Grünen, bei denen Katrin Göring-Eckardt allein deshalb gewählt war, weil die Quote gar kein anderes Ergebnis zuließ? Wollt ihr, dass ein Vortrag nicht mehr deswegen angenommen wird, weil er etwas taugt, sondern weil die Referentin bei der Einreichung das von euch als gewünscht angeordnete Geschlecht angegeben hat?

Mangelhaftes Krisenmanagement


Was den eigentlichen Vorwurf angeht, sieht man deutlich, dass hier das Krisenmanagement des CCC nicht funktioniert hat. Man hätte wissen können, dass Medien nach nichts mehr lechzen als nach Skandalen, und was eignet sich besser als die bisher makellos dastehenden Hacker vom CCC? Hinter der in buntem LED-Licht blinkenden Fassade muss doch irgendwo ein finsterer Abgrund gähnen, und siehe da: Endlich haben sie was gefunden. Ebenso hätte klar sein müssen, dass die Schreihals-Fraktion seit 5 Jahren nach einer Möglichkeit sucht, in der Hackerwelt nicht nur einfach Gast zu sein, sondern Macht ausüben zu können. Der Sexismusvorwurf an den Club ist nicht neu, und genau aus diesem Grund hätte man hier schnell und konsistent reagieren müssen. Hier fehlten offenbar klare Entscheidungsprozesse und Kommunikationskanäle - bei einer dezentralen, komplett auf Ehrenamtlichen basierenden Organisation ist das auch kein Wunder. Als Ergebnis stand der CCC tagelang unter medialem Dauerfeuer, und außer einigen Zeitungsinterviews, in denen auf die Vorwürfe reagiert wurde, gab es bislang nichts. Keine Presseerklärung. Keinen Artikel auf den CCC-Seiten, der den Vorgang aus Sicht des Clubs schildert. Natürlich kann man so etwas nach bester Kohl-Manier aussitzen, aber ein aktiverer Umgang hätte den CCC aus einer in meinen Augen unnötigen Verteidigungsposition gebracht.

Auf jeden Fall haben die Schreihälse das erreicht, was sie erreichen wollten: Der Code of Conduct ist wieder auf der Tagesordnung, und ich vermute, es kommt dabei ein ähnlich wirres Konvolut aus Weltverbesserungsideologie und Regulierungswahn heraus wie bei den Cryptoparty-Leuten.

Wenn man überall Nazis sehen will, sieht man überall Nazis

Die Nerdszene hat seit jeher einen gewissen Anteil an aufmerksamkeitssüchtigen Wichtigtuern. Das stört so lange nicht, wie der realtive Anteil nicht eine absolute Schwelle überschreitet und man sie einfach nicht mehr ignorieren kann. Genau das passiert seit einigen Jahren auf dem Congress. Die Einen wittern hinter jeder Stellwand Vergewaltiger, die Anderen Nazis. Und darüber muss natürlich die Welt informiert werden. Laut.

Schon am ersten Tag kursierten Fotos von Aufklebern der Identitären Bewegung, die an verschiedenen Stellen des Geländes auftauchten. Damit war natürlich der Beweis erbracht: Nazis haben den Congress unterwandert! Alarm! Leistet Widerstand! Keinen Fußbreit den braunen Hord*innen!

Für diejenigen, denen der Begriff des Trolls offenbar unbekannt ist: Genau so funktioniert das Spiel. Ich suche mir ein Stöckchen, von dem ich weiß, dass meine Zielgruppe unter Garantie darüber springt, halte es hin und - schaue amüsiert zu, wie zuverlässig sich einige Leute triggern lassen. Oder, deutlicher: Ein Nazi-Aufkleber ist noch kein Nazi. Ich brauche nur ein paar Minuten, um an einigen zentralen Stellen Aufkleber abzuladen, die ich mir in der Woche vorher beim AfD-Stand abgeholt habe, und schon gibt sich die Aufregeria der Lächerlichkeit preis.

Besonders absurde Züge nahm der Verfolgungswahn an, als Aufkleber auftauchten, die gelbe Schneeflocken zeigten. Gelbe Schneeflocken haben mit Nazis jetzt genau wie viel gemein? Nichts? Für nüchterne Betrachter ja, nicht aber für die Aufmerksamkeitsjunkies, die in den seit Jahrzehnten verwendeten Ziersternen prompt die Judensterne des Nationalsozialismus erblickten. Klar. Sind ja gelb. Und haben sechs Zacken. Voll Nazi. Damit markieren die nämlich die Linken, die sie auf dem Congress getroffen haben.

Leute, wenn ihr anfangt, ernsthaft solche Konstrukte zu glauben: Es gibt Ärzte, sehr gute Ärzte. Gebt euch nicht auf. Bescheuertheit kann man heilen. Zugegeben, bei euch könnte es etwas schwieriger werden, aber ihr müsst es versuchen. Was bitte soll an euch so interessant sein, dass irgendein Nazi Interesse daran hat, euch zu markieren? Was soll so eine Markierung bringen? Ist es nicht viel wahrscheinlicher, dass irgendjemand es lustig fand, in der Nachweihnachtszeit etwas Dekomaterial zu verkleben? Es mag schwer für euer Ego sein, aber ihr seid ganz bestimmt nicht so wichtig, dass es irgendeinen Sinn ergäbe, euch zu markieren.

Ach ja, und wenn jemand die auf den Toiletten aufgehängten, laminierten Schilder mit einem Edding bekritzelt, sympathisiert er damit noch lange nicht mit Vergewaltigern. Kommt mal wieder runter.

Fotophobie


Doch die Sucht, sich öffentlichkeitswirksam zum Opfer zu stilisieren, ist mächtig und auch unter Congressbesuchern verbreitet. Wenn gerade keine Nazis zu finden sind, gegen deren Angriffe man sich heldenhaft zur Wehr setzt, dann greift man eben zum Mittel, das seit drei Jahrzehnten gut funktioniert: die Fotopolicy.

Vereinfacht gesprochen herrscht seit jeher auf dem Congress die Regel, dass keine Fotos von Menschen angefertigt werden dürfen, es sei denn, alle Abgebildeten haben dem ausdrücklich zugestimmt. In der Anfangszeit im Eidelstedter Bürgerhaus mag das auch noch bei einer Handvoll Besuchern umsetzbar gewesen sein, aber im Jahr 2017 bei 15.000 Besuchern, von denen jeder eine Kamera im Laptop, eine weitere im Smartphone und vielleicht noch eine dritte im Tablet hat, wird diese Regel immer mehr zum frommen Wunsch. Ja, es gibt wunderschöne Beispielfotos, auf denen nur Nahaufnahmen einzelner Ausstellungsstücke zu sehen sind, aber was ist, wenn ich eine Totale des Hackcenters aufnehmen möchte, mit allen bunten Lichtern darin? Natürlich ist es unmöglich, die vielen hundert, ja vielleicht tausend Menschen, die dort zu sehen sind, um Erlaubnis zu fragen, aber mit Verlaub, ist das überhaupt nötig? Die meisten Gesichter sind nur verschwommene Flecken. Sollte wider Erwarten doch noch eines erkennbar sein, kann ich zur Not mit meiner Bildbearbeitung daran etwas ändern. Jetzt kommen die ganz Schlauen an und argumentieren, nicht nur das Gesicht, sondern auch die Kleidung oder die Aufkleberkombination auf dem Notebookdeckel eigne sich zur Identifizierung, weswegen es sich selbstverständlich verböte, in den Vortragsräumen zu fotografieren und sei es auch nur von hinten Richtung Bühne, so dass vom Publikum nur die Hinterköpfe sichtbar sind. Da könne immer noch ein auffälliges Tatoo auftauchen oder jemand, der zufällig gerade den Kopf gedreht hat. Entsprechend groß war dann auch das Geschrei, als auf Twitter zwei in den Vortragssälen angefertigte Fotos auftauchten, auf denen der Empöreria zufolge vielhundertfach das Recht auf Bild verletzt wurde. Unterhalb der Forderung nach Hausverboten wurde da gar nicht erst angefangen. Wenn man schon nicht den Mumm hätte, Vergewaltiger vor die Tür zu setzen, dann doch wenigstens Fotografen.

Get. A. Life.

Laut Wikipedia befindet ihr euch auf einem der größten Hackevents der Welt, vergleichbar mit der DEFCON. Es mag für einige bedauerlich sein, aber der Congress ist nicht mehr der kuschlige Nerdtreff, der er vor dreißig Jahren noch war. Ihr könnt nicht auf der einen Seite Relevanz und gesellschaftliche Beachtung einfordern und euch auf der anderen Seite wie auf einem Verschwörertreff verschanzen. Wir haben jahrzehntelang gekämpft, um nicht mehr als durchgeknallte Terrororganisation wahrgenommen zu werden, sondern als eine Strömung, welche die Welt technisch und sozial voranbringt. Der Preis dafür ist nun einmal, dass die Welt uns auch besuchen kommt. Wenn ihr es lieber heimelig und gemütlich mögt, geht zum Easterhegg, dem Hackover, der MRMCD oder irgendeiner der vielen schon fast familiären Veranstaltungen der Chaosfamilie. Und vor allem: Wenn ihr euch auf einem irgendwo im Netz veröffentlichten Foto ungewollt wiederfindet, dann postet den Link. Nicht. Auf. Twitter. Schreibt den Rechteinhaber direkt an. Freundlich. Zeigt Verständnis dafür, dass er möglicherweise die Regeln ungewollt gebrochen hat. Kann ja passieren. Aber einem weltweiten Publikum mit theatralischer Geste genau das Bild zu präsentieren, dessen Verbreitung man unter allen Umständen unterbunden wissen möchte, ist - bei wohlwollender Auslegung - unfassbar dumm. Bei weniger wohlwollender Auslegung schleichen sich ernsthafte Zweifel ein, ob es der betroffenen Person wirklich darum geht, das Foto zu entfernen oder sie nicht vielmehr in die Welt hinausschreien möchte: "Schaut her, wie berühmt und wichtig ich bin! Ich war auf dem Congress und wurde fotografiert. Ich. Voll 1337 H4><0r einself.="" p="">

Vorwärts immer, rückwärts vielleicht auch

Mit einem gewissen Anteil an Idioten wird der Congress wohl leben müssen. Das wird seiner Beliebtheit aber wohl nicht schaden. Die Tickets waren auch dieses Mal wieder in Rekordzeit ausverkauft, und es wäre wohl keine Schwierigkeit, statt 15.000 auch 20.000 Tickets zu verkaufen, wahrscheinlich auch mehr. Warum erhöht die Congress-Organsiation also nicht einfach die Zahl? Laut Wikipedia passen bis zu 30.000 Menschen ins Gebäude. OK, zieht man eine Halle als Materiallager und eine als Schlafsaal ab, bleibt eigentlich nur noch die Glashalle, in der noch jede Menge Platz herrscht, aber das heißt auf jeden Fall, dass die Kapazität des Geländes noch lange nicht ausgereizt ist. Was also hindert den Congress am Expandieren?

Angeblich ist es ein Mitgliederbeschluss, der besagt, dass der Club nach Ende der Umbaumaßnahmen wieder zurück ins CCH will, und da ist eigentlich schon bei 12.000 Leuten Schluss. Nach dem Umbau wird die Grenze vielleicht etwas höher liegen, aber sie ist jedenfalls deutlich unterhalb des herrschenden Bedarfs.

Ehrlich gesagt halte ich den angeblichen Beschluss für vorgeschoben. Erstens hat mir noch niemand sagen können, wann dieser Beschluss gefällt wurde und zweitens werden solche Beschlüsse nicht für die Ewigkeit gefällt. Es ist bereits jetzt sichtbar, dass selbst die Leipziger Messe dem Congress bei seiner jetzigen Wachstumsgeschwindigkeit bald zu klein ist. Eine Rückkehr ins CCH ist ähnlich absurd wie eine Rückkehr ins BCC am Alexanderplatz. Für mich klingen solche Forderungen vor allem nach dem Traum des erlesenen Treffs der absoluten Hackerelite, an dem nur die Besten der Besten der Besten SIR! mit Auszeichnung! teilnehmen und sich vom Rest der Welt bewundern lassen dürfen, was für tolle Hechte sie doch sind. Ich beobachte solche Klügeleien im Club schon seit langer Zeit und finde, dass ihnen schon genug Platz eingeräumt wird. Der Congress als die eine Veranstaltung im Jahr, in dem der CCC sich einmal weltweit einem Massenpublikum öffnet, sollte nicht zur Selbstbeweihräucherungsmesse einer Mauschelrunde verkommen. Wenn der Congress wachsen will, soll er es. Wenn er dabei seinen Charakter ändert, kann man vielleicht versuchen, es in gewisse Bahnen zu lenken, aber wirklich kontrollieren kann man es nicht. Ich jedenfalls verfolge das Wachstum mit Interesse und bin gespannt, wohin die Reise geht.