"Was wäre wohl passiert, hätten die Nazis schon Computer besessen?"
Wir schreiben die finstersten Achtziger. Helmut Kohl regiert das Land mit der Provinzialität, die entsteht, wenn man Oggersheim und Bonn zusammenlegt. Der politische Gegenentwurf ist ein Mix aus Pazifismus, Ökologie und Antikapitalismus. In diese Zeit hinein bricht eine technische Revolution: Computer werden erstmals so billig, dass sie für Schülerinnen erschwinglich sind. Auf einmal sind sie überall: In Armbanduhren, Kinderzimmern, immer mehr auch auf Schreibtischen und ganz allgemein im Berufsleben. Das ist vielen unheimlich. Eine passenderweise für das Jahr 1984 geplante Volkszählung wird mit einer Verfassungsklage abgewendet. Das Gericht erkennt ein Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. All das verdichtet sich zur Grundhaltung: Wer oppositionell ist, engagiert sich gegen den Atomkrieg, für die Umwelt und eben auch gegen Computer, weil sie nicht nur Arbeitsplätze vernichten, sondern auch dem Überwachungsstaat den Weg bereiten. Passend zum Kalenderjahr erlebt Orwells "1984" neue Popularität. Wirklich gelesen hat es natürlich kaum jemand, dafür ist es gerade in seiner zweiten Hälfte zu zäh, zu düster. Das hindert natürlich niemanden daran, darüber irgendwelches Halbwissen in die Welt zu posaunen, was nicht weiter auffällt, da wirklich niemand es ganz gelesen hat.
Wichtig ist auf jeden Fall: Computer sind böse. Steht doch schon bei Orwell. Und um gänzlich klarzustellen, wie böse Computer sind, zuppeln wir uns den selbstgestrickten Pulli zurecht, stellen den Jasmintee beiseite und verkünden mit wissendem Lächeln den bereits oben zitierten Satz: "Was wäre wohl passiert, hätten die Nazis schon Computer besessen?"
Nichts wäre passiert, hört ihr? Nichts. Die Geschichte wäre exakt so verlaufen, wie sie verlaufen ist. Warum ich das weiß, warum die ganze Menschheit außer den Müslikauern das weiß? Weil. Die. Nazis. Computer. Hatten.
Die Maschinen stammten von Hollerith, im Deutschen Reich in Lizenz betrieben von der DEHOMAG, einer Tochter des US-Unternehmens IBM. Wer es im Detail nachlesen will: IBM und der Holocaust. Ich will mich nicht auf die Aussage versteigen, der Völkermord an den europäischen Juden wäre ohne den Computer nicht möglich gewesen, aber er wurde durch ihn zumindest stark erleichtert.
Die Frage was-wäre-wenn stellt sich also nicht, es sei denn, man stellt sie etwas genauer, so wie Andreas Eschbach in seinem Buch "NSA - Nationales Sicherheits-Amt". Er fragt sich: Was wäre passiert, hätten die Nazis nicht nur Computer besessen, sondern auch Mobiltelefone, Internet und die damit verbundenen Überwachungsmöglichkeiten? Um die heutige Technolgie in die Vierzigerjahre zu bekommen, muss Eschbach etwas wacklig annehmen, Charles Babbage hätte die Analytical Engine tatsächlich bauen können, woran sich ein Entwicklungsschub anschloss, der unsere heutige Welt in eine Art Steampunk-Version vorweggenommen hätte. Datenkabel wären noch klobige Schläuche, Computer hätten Bakelit-Tastaturen und wären noch kleiderschrankgroß, Smartphones hätten ungefähr heutige Ausmaße, was dadurch ermöglicht wäre, dass es sich bei ihnen nur um dumme Terminals handelt und alle leistungshungrigen Operationen auf Zentralrechnern stattfinden. Integrierte Schaltkreise im Allgemeinen und Mikrochips im Besonderen scheint es noch nicht zu geben, und das verlangt der technisch interessierten Leserin zumindest am Anfang einige Geduld ab, gilt es doch zum Beispiel zu akzeptieren, dass es offenbar leistungsfähige und vor allem kleine Akkus gibt, mit denen sich Smartphones betreiben lassen, aber die Erklärung, wie ohne Chiptechnologie der Energieverbrauch und gleichzeitig die Leistungsfähigkeit dieser Geräte so weit gesteigert werden konnte, dass sie mit heutiger Funkzellentechnik arbeiten, fällt arg dürftig aus.
Das alles lässt sich als literarische Freiheit verkraften, immerhin ist der Schwerpunkt des Buches ein anderer. Dass Eschbach ordentlich recherchiert hat, belegt er nicht zuletzt mit seinen deutschsprachigen SQL-Befehlen, und irgendwann zuckt der innere Nerd mit den Schultern und sagt sich: OK, genug genörgelt, weiterlesen.
Die Geschichte spielt während des zweiten Weltkriegs in einer Weimarer Behörde, die versucht, ihrer Vereinnahmung durch das Reichssicherheitshauptamt durch besonders gute Arbeit zu entgehen. Im Zentrum stehen der Analyst Eugen Lettke, der zusammen mit der Progammiererin Helene Bodenkamp versucht, die Suchalgorithmen ihrer Behörde zu optimieren. Beide haben ihre persönlichen Geheimnisse. Während Bodenkamp eine Liebesaffähre mit einem Deserteur hat, der sich auf einem nahe gelegenen Bauernhof versteckt, nötigt Lettke Frauen zu sexuellen Handlungen, indem er droht, unangenehme Dinge, die er über sie herausgefunden hat, zu veröffentlichen. Im weiteren Verlauf der Geschichte fangen beide auch an, die Rechner zu manipulieren - Lettke, um immer raffinierter an düstere Geheimnisse von Frauen zu gelangen, Bodenkamp, um zu verhindern, dass Suchfunktionen ihren Geliebten aufspüren.
Suchfunktionen sind es auch, die im Buch breiten Raum einnehmen. Um Himmler zu demonstrieren, wie gut das NSA arbeitet, finden die Mitarbeiter innerhalb weniger Minuten alle Haushalte in den besetzten Niederlanden, die wahrscheinlich Juden bei sich versteckt halten - allein anhand von Abnormaliäten beim Pro-Kopf-Kalorienverbrauch. Doch das ist nur der Anfang. Später werden die Abfragen immer raffinierter, und mit Bodenkamps Hilfe kommen sogar KI und neuronale Netze zum Einsatz. Die junge Programmiererin kommt dabei immer weiter in Konflikte. Einerseits ist sie offensichtlich gut in ihrem Beruf, an dem sie auch Gefallen hat, andererseits sieht sie auch, wie ihr Wissen zum Aufbau eines Überwachungs- und Mordapparats eingesetzt wird.
Eschbach schreibt nicht nur routiniert, er schreibt auch raffiniert und wartet immer wieder mit überraschenden Wendungen auf. Das Buch enthält anzügliche Passagen, aber es sind keine billigen Versuche, damit die Auflage zu steigern, sodern erfüllen innerhalb der Geschichte eine wichtige Funktion. Insgesamt fällt auf, wie glaubwürdig die Figuren entwickelt sind. Es gibt keine Deus-ex-machina-Momente, in denen man das Gefühl hat, der Autor wisse sich nur noch mit irgendwelchen wilden Konstrukten zu helfen. Im Gegenteil: Eschbach entwickelt eine bis zum Ende glaubwürdige Geschichte.
Na gut, eine ganz am Ende eingeführte Technologie finde ich selbst für heutige Verhältnisse etwas gewagt, aber anders wäre die Schlussszene schwer möglich gewesen, in der Eschbach eine Verbeugung vor dem dystopischen Klassiker "1984" vollführt.
"NSA" ist keine beschwingte Unterhaltungsliteratur. Es ist auch kein packender Thriller, den man nicht mehr aus der Hand legen kann. Es ist aber anders als Robert Harris' "Vaterland" nicht nur eine Überlegung, wie Geschichte hätte anders verlaufen können. Es ist eine aktuelle Mahnung, dass harmlose Daten zur tödlichen Gefahr werden können, wenn sie in die falschen Hände geraten. Gerade in dieser Zeit, in der Demokratien Überwachungsapparate errichten und kurz darauf in den Totalitarismus kippen, ist es gut, wenn Leute wie Eschbach zeigen, wo so etwas enden kann.
Andreas Eschbach
NSA – Nationales Sicherheits-Amt
Roman
Verlag Lübbe, Köln.
€ 22,90
Hardcover, 800 Seiten
ISBN 978-3-7857-2625-9
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