Donnerstag, 2. September 2010

Alles nur Fassade

Wenn mir vor zehn Jahren jemand gesagt hätte, ein Sommer könnte so ereignisarm werden, dass sich die gesamte journalistische Zunft der Frage widmet, ob die Zukunft unserer Zivilisation durch Fotos von Hauswänden bedroht ist, hätte ich ihn für verrückt erklärt.

Sieht man etwas genauer hin, ist der Sommer auch gar nicht so ereignisarm: In Pakistan sterben die Menschen, die ihre nackte Existenz vor der Überschwemmung retten konnten, an Hunger oder Krankheit, während sich die westliche Kultur ziert, zur Rettung ein paar Münzen zu entbehren - immerhin handelt es sich ja um muslimische Terroristen und keine echten Menschen. Damit wir uns einmal über die Dimensionen klar werden: Die vermeintich riesigen Summen, die gerade als Flutopferhilfe für das zweitgrößte Land der Erde investiert werden, reichen bei so mancher europäischen Großbank gerade einmal aus, um die Boni der Manageretage zu bezahlen. Bei jedem Bundesligaspiel laufen auf dem Rasen größere Ablösesummen herum, als wir für Pakistan auszugeben bereit sind. Natürlich werden unsere kostbaren Steuergelder dafür kaum angerührt. Die braucht man für so hehre Aufgaben wie das Durchfüttern sich verzockender Börsenspekulanten.

Ilse Aigner ist schon einmal ein guter Indikator, wann ein Thema ins Sinnlose abgleitet, und spätestens, wenn sich die bayerische (!) CSU(!)-Justiz(!)-Ministerin über Versäumnisse beim Datenschutz echauffiert, sollte dem naivsten Beobachter dämmern, dass Datenschutz das garantiert letzte Thema ist, um das es hier geht. Man muss kein Anhänger von Verschwörungstheorien sein, um sich zu fragen, wovon man hier gerade ablenken will.

Themen gäbe es reichlich: Auf Anhieb fallen mir ein: Der neue Personalausweis, die Volkszählung 2011, die wieder auflebenden Forderungen nach Internetzensur, die anstehende Neuregelung der Vorratsdatenspeicherung, ELENA, der elektronische Krankenschein, SWIFT, Fluggastdatenabkommen, der Datenstriptease von Hartz-IV-Antragsstellern (und deren generelle Behandlung), INDECT sowie die ungelösten Fragen bei De-Mail und E-Post. Ich will es einmal etwas überspitzt formulieren: Wer über die vermeintliche Verletzung seiner Intimsphäre schwadroniert, während er an der Kaufhofkasse seine Paybackkarte zückt, hat für mich auf Jahre den Anspruch verwirkt, ernst genommen zu werden.

Natürlich sollte es mich freuen, dass die Leute endlich auf irgendein Datenschutzthema anspringen. Ich befürchte allerdings, dass sie genauso schnell, wie sie jetzt auf Google herumreiten, sich der Lächerlichkeit ihrer Bilderstürmerei bewusst werden und dann uns Datenschützer für ihre eigene Hysterie zur Verantwortung ziehen wollen.

Damit kein Missverständnis auftaucht: Google Streetview ist aus Datenschutzsicht bedenklich, aber das sind andere Dinge in viel höherem Maß. Wer sich mit Datenschutz etwas beschäftigt hat, weiß: Es gibt keine harmlosen Daten. Die Brisanz entsteht allerdings nicht durch den einzelnen Datensatz, sondern durch die Verknüpfung mit anderen Daten. Dass irgendwo Fotos von Häuserwänden lagern, ist kaum der Rede wert. Dass sie elektronisch durchsuchbar sind, dass man automatisiert innerhalb kürzester Zeit aus den frei im Netz verfügbaren Telefonbüchern und den Streetview-Daten eine soziale Landkarte erstellen kann - darin besteht die eigentliche Gefahr. Früher musste man sich in der Stadt auskennen oder einen Ortskundigen fragen, um zu erfahren, ob eine bestimmte Adresse eher von Armut oder von Reichtum zeugt. Heute reicht ein Aufruf bei Google.

Diese Differenziertheit erreicht die Debatte jedoch kaum. Vielmehr scheint es so, als sei ein paar unterbeschäftigten Journalisten jede Nachricht recht, um der Tristesse zwischen Ende der Fußballweltmeisterschaft und Beginn der Sitzungsperiode im Bundestag zu entkommen. Also betreibt man etwas Google-Bashing. Google kennt jeder, Google ist groß und ab einer bestimmten Größe ist alles suspekt.

Wenn Sie Google untersagen wollen, eine Momentaufnahme Ihrer Hauswand im Internet zu zeigen, haben Sie das Recht dazu, aber bitte bilden Sie sich nicht ein, dadurch großartig etwas zum Schutz Ihrer Privatsphäre beigetragen zu haben. Das nämlich tut weh. Sie müssten Ihr Facebook-, Xing- und Irgendwas-VZ-Profil löschen, Sie müssten Ihre Payback- oder sonstwie benamte Rabattkarte zerstören, und Sie sollten Ihre Gratis-Mailadressen löschen, oder glauben Sie etwa, nur weil sie es nicht ausdrücklich sagen, betrieben die anderen Freemailer außer Google keine Analyse Ihrer Mails? Die Wahrheit mag schmerzlich für Sie sein, aber wir leben im Kapitalismus. Hier hat niemand etwas zu verschenken. Sie bekommen eine Mailadresse und geben als Gegenleistung Ihre Daten.

Sofern Datenschutz für Sie mehr ist als ein Thema, mit dem man sich über langweilige Sommernachmittage rettet, finden Sie hier ein paar Themen, die Sie interessieren könnten. Die meisten davon bereiten mir deutlich mehr Sorgen als fotografierte Häuserfassaden.



Nachtrag: Inzwischen sind die ersten deutschen Städte in Google-Streetview zu bestaunen, und wie zu erwarten, bricht prompt zu einem Zeitpunkt eine neue Unsinnsdebatte los, als der Steuerzahler mit Billionenbeträgen seine armen Banken am Leben halten soll, die Regierung wieder einmal meint, die ungeklärten Fragen der Atommüllbeseitigung am besten dadurch zu lösen, dass man noch fleißig ein paar Jahrzehnte weiter das Zeug produziert und in einer niedersächsischen Lagerhalle unterstellt sowie Überwachungsfanatiker verschiedener Parteien diffuse Terrorhysterie schüren, um mit ihrer Hilfe ein paar neue Verfassungsbrüche auf den Weg zu bringen. Statt sich in die Selbstherrlichkeiten der Regierungen einzumischen, starrt das Volk auf die Bildschirme und zeigt mit zitternden Fingern auf ein paar verwaschene Flächen: "Da, guck mal, so ein , hat der doch glatt sein Haus verpixeln lassen. Mann, ist der [piep]. So ein [piep]. Ich könnte dem [piep] glatt mal kräftig den [piep] in den [piep]."

Der Volkssturm ist empört. Welches Schwein hat es gewagt, seine durch die Verfassung garantierten Rechte wahrzunehmen? Na warte, denen wollen wir's doch mal zeigen, und da wir nicht den Mumm haben, diesen Leuten persönlich die Meinung ins Gesicht zu sagen, beschmeißen wir deren Häuser ganz mutig mit Eiern. Schade, dass die Forderung nach Entanonymisierung auch bei diesen Leuten dann aufhört, wenn sie zu ihrer eigenen Meinung stehen müssten.

Damit auch hier kein Missverständnis aufkommt: Ich halte die Verpixelung von Häusern für kontraproduktiv, weil sie zum Persönlichkeitsschutz kaum etwas beiträgt, beim Verpixler aber das wohlig-faule Gefühl hinterlässt, jetzt mal so richtig was für den Datenschutz getan zu haben und die Leute, die sich mit dem Thema etwas länger beschäftigt haben, als es dauert, das Widerspruchsformular an Google loszuschicken, wie die letzten Trottel dastehen lässt. Ich rede mir seit Jahren den Mund fusselig, nur um mein mühsam errichtetes Kartenhaus beim Satz "Ach, gehörst du auch zu den Schwachköpfen, die ihre Häuser pixeln?" einstürzen zu sehen. Danke, werte Mitstreiter, für dieses grandios geschossene Eigentor.

Sehen wir es aber auch einmal anders herum: Welcher Schaden entsteht Ihnen, wenn Sie die Hauswand Ihrer Bude nicht bei Streetview ansehen können? Was fehlt Ihnen dann in Ihrem Leben? Stirbt dann Ihre Katze? Wird Ihre Frau Sie verlassen, weil sie es nicht ertragen kann, mit einem Versager ein Leben zu teilen, der in einem bei Google nicht sichtbaren Haus wohnt?

Diese Schmach ist natürlich für den deutschen Spießergeist nicht tragbar, und so greifen jetzt die unfreiwillig Gepixelten zur Gegenwehr, indem sie ihren Nachbarn Zettel wie diese in den Briefkasten stecken: "Liebe Mitbewohner, da mindestens eine/r von Ihnen ihre/seine Privatsphäre durch Google-Streetview bedroht sieht, möchte ich alles zum Schutze Ihrer Privatsphäre tun und werde demnächst keine Pakete mehr für Sie entgegennehmen. Ich kämpfe für Ihre Privatsphäre (außerdem habe ich Angst, dass Sie Pakete aus dem Jemen bekommen könnten)! Mit freundlichen Grüßen … (zu unserer aller Sicherheit habe ich meine Unterschrift verpixelt)"

Huuh, war das mutig. Anonym Eier schmeißen und Pakete nicht annehmen, das ist es also, was klägliche Blockwarte unter politischem Diskurs verstehen. Ich schreibe gerade an einem Artikel, in dem ich Post-Privacy als mögliche Alternative zum klassischen Datenschutz diskutiere. Möglicherweise haben die klugen Gedanken Christian Hellers und Michael Seemanns mehr Potenzial als das bisherige Löschen und Verstecken. Wenn ich aber Zettel wie den obigen und die Hasstiraden auf Twitter lese, frage ich mich, ob Post-Privacy nicht etwas voraussetzt, was offenbar vielen fehlt: Horizont. Haben Sie sich jemals gefragt, wie es kommt, dass wir von intellektuellen Drittligisten regiert werden? Lesen Sie sich den Zettel noch einmal durch, atmen sie den Mief kleinstbürgerlicher Rechthaberei, spüren Sie die bedrückende Enge eines "Wie-du-mir-so-ich-dir"-Weltbilds versuchen Sie sich in die Welt eines Ordnungsfanatikers zu versetzen, der Zeit seines Lebens nie wirklich etwas zu melden hatte und jetzt seine Chance gekommen sieht, es den Leuten mal so richtig zu zeigen - schön versteckt natürlich, der Andere könnte ja zurückhauen, und das könnte aua machen. Wenn Ihnen bis in die letzte Pore das Gefühl uneingestandenen Versagens gezogen ist, dann stellen Sie sich bitte einen Wahlzettel vor und überlegen, wohin sie Ihr Kreuzchen setzen.

Wenn Sie mit der Übung fertig sind, stehen Sie bitte auf und kümmern sich um die wirklich wichtigen Dinge des Lebens.

2 Kommentare:

Unknown hat gesagt…

Schade, dass Du die Streetview Hysterie erkennst, bei der ePerso Hysterie aber einsteigst.

Publikumsbeschimpfung hat gesagt…

Danke für die Kritik. Ich vermute, Du spielst auf die Tweets an, die zwischen mir und @mrtopf hin und her gingen. Twitter ist offenbar dafür nicht das beste Medium, weil man dort sehr verdichtet schreiben muss. Ich halte das Missbrauchspotenzial beim neuen Personalausweis für erheblich höher als bei Google Streetview (das ich übrigens auch nicht für harmlos halte, sondern nur die Diskussion darum für falsch geführt). Ich werde mich wohl an einen Blogartikel zum neuen Personalausweis setzen müssen, der meine Ansicht etwas differenzierter darstellt als meine Tweets.