Dienstag, 21. September 2010

Daten-DLRG

Auf die Frage "Kannst Du meine gelöschten Daten wieder herstellen?" lautet die Standardantwort eines echten Admins selbstverständlich: "Keine Schwierigkeit, wo hast Du Dein Backup?" Auf diese Antwort folgt in der Regel ein etwas gereizter Dialog, der sich im Wesentlichen darum dreht, ob der Admin die Frage des Nutzers richtig verstanden hat, worauf der Admin erklärt, das habe er sehr wohl, und die einzige wirklich sinnvolle Maßnahme gegen gelöschte Daten laute nun einmal Datensicherung, worauf der Nutzer antwortet, das wisse er sehr gut, aber jetzt sei das Kind nun einmal in den Brunnen gefallen, und er wolle sich nicht darüber unterhalten, was man hätte unternehmen können, er wolle wissen, wie man aus dieser konkreten Situation kommen könne, worauf der Admin sagt, er hoffe, dies werde dem Nutzer eine Lehre sein, worauf der Nutzer entgegnet, der Admin solle seine sexuelle Unterversorgung nicht an ihm, sondern woanders auslassen.

Wir sehen also, das bringt uns nicht so recht voran. Als ich also vor ein paar Tagen einen Anruf bekam, der sich um einen USB-Stick, einen abgestürzten Rechner und knapp 1 GB Datenverlust drehte, sah ich dies als eine Gelegenheit, meine Kenntnisse auf diesem Gebiet etwas zu erweitern willigte ein, mein Glück zu versuchen.

Am Start stehen: Ein 2-GB-USB-Stick, der an einem Windows-Recher eingebunden war, der offenbar in einem äußerst ungünstigen Moment unter Mitnahme der Dateisystemkonsistenz abstürzte. Danach ließ sich der Stick anfangs gar nicht mehr, nach einigem Herumgefummel wenigstens rudimentär wieder einbinden, zeigte aber keine Daten mehr an. Die in Forensik etwas Erfahrenen werden jetzt die Stirn kräuseln, bedeuten solche Versuche doch in der Regel, dass man vielleicht einen Schritt voran kommt, aber mindestens vier Schritte nach hinten rennt, indem man beim verzweifelten Versuch, dem Dateisystem wenigstens irgendein Lebenszeichen zu entlocken, so wild auf dem Datenträger herumschmiert, dass viel von dem, was man retten wollte, verloren geht. Sie kennen die Szene wahrscheinlich aus diversen Krimis: Die Spurensicherung rückt am Tatort an, wo die übereifrige Haushaltshilfe, weil sie sich wegen der Unordnung schämte, erst einmal tüchtig aufgeräumt hat. Genau das passiert, wenn Sie Ihren Datenträger retten wollen und dabei direkt mit ihm arbeiten.

Am Start stehen also besagter, von ersten Rettungsversuchen gebeutelter USB-Stick, ein Linux- und ein Windowssystem sowie eine Reihe frei erhältlicher Werkzeuge:
    Bevor der eigentliche Spaß beginnt, ist er für den Stick auch schon fast wieder vorbei. Mit

    dd if=/dev/sdb1 of=USBimage.iso

    greift man ein letztes Mal, und dann auch nur lesend auf den Orginialdatenträger zu. Alle weiteren Versuche finden entweder direkt auf der Imagedatei oder auf dem mit

    mount -o ro,loop USBimage.iso /mnt/test

    eingebundenen Image statt.

    Zumindest stimmt diese Aussage in einer idealen Welt. In der schnöden Realität hat man mitunter keine Möglichkeit, seine 400-GB-Platte mal so eben als Image irgendwohin zu kopieren. Im von mir beschriebenen Fall ist die Situation aber zum Glück erheblich einfacher. Zwei Gigabyte für das Image eines USB-Sticks kann man bei handelsüblichen Platten in der Regel erübrigen.

    Windows XP kann mit Bordmitteln keine ISO-Images als Laufwerke einbinden. Für die Tests benutzte ich eine Testversion der Daemon Tools.

    Daemon Tools

    Bei einem derart beliebten und verbreiteten Werkzeug hätte ich erwartet, dass selbst nicht ganz einwandfreie ISO-Images zumindest ansatzweise gelesen werden können. Tatsächlich wurde die Imagedatei auch eingebunden, aber es wurden keine Dateien angezeigt.


    PC Inspector File Recovery

    Der nächste Versuch bestand darin, Daten von der Imagedatei auf ein Rettungsmedium zu überspielen. PC Inspector File Recovery quittierte leider den Versuch, das eingebundene Image zu scannen mit einer Fehlermeldung und fand nichts.

    Recuva

    Möglicherweise greifen die Rettungsprogramme auch tiefer in die Hardware des Speichermediums ein, so dass eine Imagedatei einfach einen Abstraktionsgrad zu weit geht. Da ich eine Sicherungskopie des Sticks besaß, beschloss ich beim nächsten Test, direkt auf dem defekten Medium zu arbeiten. Tatsächlich fand Recuva auch prompt einige Excel-Dateien, was aber längst nicht alles war, was ich auf dem Stick zu retten hoffte.

    Magicrescue

    Die Zeit schien reif, Linux ins Spiel zu bringen. Wegen der Erfolgsaussichten hatte ich einige Zweifel. Zwar konnte ich mir vorstellen, dass man im Prinzip jedes Bit auf dem Datenträger finden und untersuchen konnte, aber ich hätte erwartet, dass kommerzielle Software unter Windows allein deswegen schon bessere Chancen besitzt, weil man erstens mehr in eine schicke Benutzerführung investieren kann und man zweitens auf einem Dateisystem operiert, das unter Windows einfach weiter verbreitet ist als unter Linux. Um den korrekten Befehl zusammenzustellen, musste ich auch in der Tat ein wenig Anleitungen lesen und herumprobieren, aber nachdem ich

    magicrescue -d rescued_files -r magicrescue-1.1.9/recipes usb_stick.iso

    abgesetzt hatte, brauchte ich nur 50 Minuten Geduld und bekam danach 1632 Dateien präsentiert  - abzüglich Doubletten 1370.

    Von der Anzahl Dateien darf man sich natürlich nicht blenden lassen. Viele davon sind nur Trümmer. Man muss also schon fleißig herumprobieren, ob sich die gesuchten Daten irgendwo befinden. Ein erster Überblick aber zeigte schon: Es sah sehr gut aus.



    Foremost

    Um ganz sicher zu gehen, auch den wirklich letzten noch verwertbaren Trümmer zu finden, probierte ich noch Foremost aus. Die Befehlssyntax war etwas einfacher als bei magicrescue

    foremost -o rescued_files -i usb_stick.iso

    und lieferte nach einigen Minuten Suche dieses Ergebnis:

    Processing: usb_stick.iso
    |**foundat=_rels/.rels �� (�
    foundat=xl/_rels/workbook.xml.rels � (�
    **WMV err num_header_objs=-1442784858 headerSize=1283357180869879345
    WMV err num_header_objs=-1442784858 headerSize=1283357180869879345
    *WMV err num_header_objs=-1442784858 headerSize=1283357180869879345
    foundat=cntimage.gif

    ****************|


    Die Ausbeute waren stolze 6170 Dateien, abzüglich Doubletten 5181.


    Meine abschließenden Spielereien mit dem Sleuth Kit waren zugegebenermaßen nicht mehr besonders sorgfältig. Diese Werkzeugsammlung genießt offenbar völlig zu recht einen ausgezeichneten Ruf, eignet sich aber eher für die forensische Analyse als für automatisierte Datenrettung. Man möge mich korrigieren, aber eine einfache Möglichkeit einen Datenträger zu durchsuchen und alles, was irgendwie nach verwertbarer Datei aussieht, in ein Rettungsverzeichnis zu schreiben, habe ich auf Anhieb nicht gefunden.

    Deutsche Riten Teil 1: Unglücksmissbrauch

    Allein schon die reine Wahrscheinlichkeitslehre sagt uns, dass - eine hinreichend große Beobachtungsmenge vorausgesetzt - immer wieder unerwünschte Ereignisse eintreten. Auf die menschliche Gesellschaft übertragen heißt dies: Irgendwo geht immer etwas schief. Es wird immer wieder zu Massenkarambolagen, Kraftwerksexplosionen, Anschlägen, Überfällen, Entführungen und anderen durch den Menschen verursachten Unglücken kommen - Amokläufe inbegriffen. Das ist schlimm.

    Verständlicherweise wollen wir solche Ereignisse eindämmen, weswegen es gut ist, darüber nachzudenken, wie man vorbeugend handeln kann. Über eine Sache muss man sich aber im Klaren sein: Es ist relativ leicht möglich, in der Anfangsphase mit geringem Aufwand große Erfolge zu erzielen. Drück den Leuten ein Stück Seife in die Hand, und schlagartig sind geschätzte drei Viertel aller Infektionskrankheiten kein Thema mehr. Der ganze Aufwand, den wir als moderne Industrienationen mit Hygienemaßnahmen betreiben, dient dem Versuch, das restliche Viertel zu bändigen.

    Ähnlich ist es mit Gewaltausbrüchen. Eine Maßnahme, die praktisch kein Geld kostet, sich aber als immens effektiv erweist, ist gesellschaftliche Ächtung von Gewalt. Eine andere besteht darin, den Leuten wenigstens die gefährlichsten Waffen abzunehmen. Beides zusammen führt dazu, dass zumindest in Deutschland die allermeisten Auseinandersetzungen glimpflich verlaufen.

    Was nicht heißt, dass es nicht gelegentlich zu katastrophalen Zwischenfällen kommt. Einige Male pro Jahr dreht irgendwo in der Republik jemand vollkommen durch, sei es ein frustrierter Teenager, ein überforderter Familienvater oder, wie jetzt in Lörrach, eine 41-jährige Rechtsanwältin. Das ist, wie schon gesagt, schlimm, weil es immer schlimm ist, wenn Menschen vorzeitig und gegen ihren Willen sterben müssen. Aber - und das wird vielen nicht gefallen - daran lässt sich nichts ändern.
    http://www.stern.de/panorama/nach-amoklauf-in-loerrach-das-web-spottet-1605548.html
    Was soll das heißen? Keine hastig ins Mikrofon erbrochenen Forderungen nach neuen Verboten, schärferen Gesetzen, härteren Strafen, verbesserter Überwachung? Kein schnell in die Tastatur geklimperter Betroffenheitsartikel? Keine Instrumentalisierung der Trauer? Keine Auflagensteigerung durch breitgewalztes menschliches Leid? Kein billiger Populismus auf Kosten der Toten? Wie sollen wir sonst unsere Beißreflexe ausleben?

    Erwies der Täter, wie beispielsweise in Winnenden, der CDU den Gefallen, vorher am Computer gesessen oder Filme gesehen zu haben, stürzen deren Apologeten des Analogzeitalters sofort in die nächste Zeitungsredaktion, um den dort anwesenden Journalisten brühwarm zu erzählen, diesem Gemetzel könne man nur mit umfassenden Verboten von Killerspielen, Gewaltvideos und bösen Internetseiten entgegen wirken. War die Tatwaffe unerhörterweise offiziell registriert, passt dies perfekt ins grüne Feindbild: Schützenvereine, Brutstätten der Reaktion, Kaderschulen des Konservativismus. Nun mag es wahrhaft intellektuell weniger beklagenswerte Anblicke geben als den Zenit des Lebens deutlich überschritten habende Träger grüner Jägertrachten, mit Schützenabzeichen übersät wie weiland sowjetische Generalsuniformen, aber in diesem Land hat jeder das verbürgte Recht, sich selbst immer und überall zum kompletten Idioten zu deklassieren, und  so lange mich niemand zwingt, diese Zurschaustellung geistiger Ausbaufähigkeit in irgendeiner Weise gut zu finden, sind doch alle Beteiligten glücklich. Ich möchte lieber nicht wissen, was Außenstehende von langhaarigen Computerautisten mit schwarzen T-Shirts halten.

    Was wollen denn die grünen FriedensfreundInnen, wenn sie den erlaubten Waffenbesitz verbieten wollen? Dass die Leute mit unerlaubten Waffen erschossen werden? Genau das wird nämlich passieren, wenn man echten Waffennarren ihre Spielzeuge wegnimmt: Sie besorgen sich das Zeug auf dem Schwarzmarkt, und dann gibt es keine staatliche Kontrolle mehr, die den schlimmsten Blödsinn verhindert, keine spießigen Schützenvereine, deren Mitglieder aus klassischer Linksperspektive gesehen vielleicht völlig indiskutabel sind, aber in der Regel äußerst allergisch auf Möchtegern-Rambos in ihren Reihen reagieren. Halten Sie von Schützenvereinen, was sie wollen, aber den idealen Nährboden für Amokläufer bilden sie nicht.

    Was immer die Profischwätzer dieses Landes behaupten: Es wird immer wieder zu Amokläufen kommen. Gründe, warum Menschen durchdrehen, gibt es viele, und alle im Rahmen eines demokratischen Rechtsstaats möglichen Maßnahmen werden vielleicht an den Details des Ablaufs etwas ändern, nicht jedoch den Ausbruch an sich verhindern. Es gibt nicht die zwei, drei alles entscheidenden Stellschrauben, an denen man nur kräftig genug drehen muss, um dieses Land in ein Paradies zu verwandeln. Stellen Sie sich dieses Land eher wie den Kölner Dom vor: Sie müssen ständig herumwerkeln, um ihn in Schuss zu halten, aber wenn Sie am einen Ende fertig sind, können Sie gleich am anderen wieder anfangen. Dennoch kommt keiner auf die Idee, den ganzen Bau durch etwas zu ersetzen, was man leichter pflegen kann, und vor allem fordert niemand, den Regen zu verbieten, damit es nicht mehr reinregnet.

    Samstag, 11. September 2010

    Nächstenliebe und Bücherverbrennung

    Anja ist Atheistin und hat zum Thema Religion eine klare Meinung. Als sie im Fernsehen die Meldung zur angekündigten Koranverbrennung sieht, ist sie hellauf begeistert: "Großartige Idee. Ich lade den Kerl ein. Nach New York, zum Ground Zero, direkt an die Baugrube. Da werfen wir den Koran rein und verbrennen ihn  - und hinterdrein auch gleich den ganzen anderen Kram: die Bibel, die Torah, den Talmud, das Buch Mormon, die Scientology-Bücher von Ron Hubbard und was es sonst noch so gibt. Das ist doch mal gelebte Ökumene." Anja weiß, wie man sich unbeliebt macht.

    Aus Sicht einer Atheistin ist ihre Haltung aber nachvollziehbar. Sei es die Landnahme durch das Volk Israel, seien es die Kreuzzüge, sei es der Dschihad - immer wieder muss eine höhere Macht herhalten, um die zutiefst irdischen Bedürfnisse ihrer selbsternannten Anhänger zu rechtfertigen. Auf Twitter schrieb vor wenigen Tagen jemand: "G'tt kann sich seine Gläubigen nicht aussuchen."

    Es sind aber nicht Bücher, die andere Leute totstechen, aufhängen, verbrennen, köpfen, steinigen, erschießen oder in die Luft sprengen, es sind die Leute, welche diese Bücher lesen, genauer: Leute, die aus diesen Büchern das herauslesen, was ihnen gerade in den Kram passt. Dafür können aber die Bücher nichts.

    Die Apologeten der heiligen Schriften großer Weltreligionen neigen meist zu sehr einseitigen Darstellungen des darin Geschriebenen. Je nach persönlicher Vorliebe geraten die Texte zu blutrünstigen Werken der Kriegstreiberei, zu schwülstiger Kuschelliteratur oder zu beeindruckenden Werken tiefster Weisheit. Tatsache ist: All dies ist in diesen Büchern enthalten, und Aspekte hiervon auszublenden heißt, diese Bücher nicht verstanden zu haben, schlimmer noch: nicht verstehen zu wollen. Man kann bestimmte Aspekte einer Religion ablehnen, aber man darf nicht leugnen, dass es sie gibt.

    Bücher können nichts dafür, wenn denkresistente Menschen sie lesen, weswegen es geradezu absurd anmutet, wenn andere denkresistente Menschen sie am Lesen hindern möchten, indem sie die Bücher verbrennen und damit auch dem Rest der Welt die Gelegenheit nehmen, sich mit diesen Büchern zu beschäftigen.

    Insgesamt ist Religion ein Thema, bei dem viele Menschen das Denken gern auf die Stammhirn-Basisfunktionen einschränken. Da regte sich in den vergangenen Wochen beispielsweise vehementer Protest gegen ein muslimisches Zentrum, das einige Straßenzüge vom Ground Zero entfernt errichtet werden soll - von differenzierungsunwilligen Journalisten gern zu einer "Moschee am Ground Zero" verkürzt. Ich frage mich, wie das Weltbild derer aussieht, die so wütend gegen dieses Vorhaben angehen. Unbestritten ist, dass die Attentäter des 11. September 2001 Muslime waren. An Dämlichkeit kaum noch zu überbieten ist aber die offensichtlich in einigen Köpfen herrschende Vorstellung, deswegen seien auch alle Muslime Attentäter. Ist Ground Zero etwa heiliger Boden - einschließlich einer Bannmeile -, auf dem nur Nichtmuslime Religionsfreiheit genießen?

    Damit wäre das Stichwort gefallen, mit dem ich es mir zuverlässig auch mit dem letzten Gläubigen verscherze: Religionsfreiheit bedeutet eben nur, dass man seinen Glauben frei leben darf, nicht etwa, dass die eigene Weltanschauung weltweit und für alle zwingend Gültigkeit hat. Konkret heißt das: Nur weil meine Religion ein Bilderverbot kennt, darf ich Andersgläubigen nicht vorschreiben, ob und wie sie meine Propheten darstellen. Noch mehr: sie haben sogar das Recht dazu, sich in dummer Weise darüber zu äußern, und ich darf ihnen deswegen nicht nach dem Leben trachten. Da ich diese Frage bei solchen Gelegenheiten immer wieder gestellt bekomme: Nein, ich habe keine Schwierigkeiten damit, wenn sich jemand über Jesus lustig macht. Mein Glaube hält das aus und Jesus - davon bin ich überzeugt - auch.

    Wenn der 11. September zu einem Tag wird, an dem sich die Anhänger der verschiedenen Religionen zuverlässig in völlig überflüssige Scharmützel verstricken, haben die Dreckskerle von den Anschlägen im Jahr 2001 erreicht, was sie wollten.

    Sonntag, 5. September 2010

    Eva H. die Zweite

    Es muss in diesem Land doch noch erlaubt sein, sagen zu dürfen, wie gewaltig es einem auf die Nerven geht, wenn größtenteils nur noch Säue durch Dorf getrieben werden  und man kaum noch Meldungen mit einer Relevanz von mehr als zwei Wochen liest.

    Da will beispielsweise ein Mann, Bankier und SPD-Mitglied, ein von ihm geschriebenes Buch verhökern. Das ist sein gutes Recht. Peinlich, wenngleich auch sein gutes Recht, sind die Methoden, mit denen er den Verkauf anzukurbeln gedenkt. Weil die Journalisten dieses Landes zuverlässig auf alles anspringen, was einen gewissen Bräunungsgrad erreicht hat, weiß dieser Buchautor, dass er nur die eine oder andere zugespitzte Parole absondern muss, um zu erreichen, dass sich Deutschlands Berufsbabbler an ihm abarbeiten, Dutzende Schlagzeilen und traumhafte Verkaufszahlen produzierend. Das System funktioniert, zuletzt erlebt bei einer drittklassigen Fernsehmoderatorin, die wenige Monate zuvor erfolgreich die Verkaufszahlen ihres Buchs in die Höhe trieb, indem sie wohldosiert Aufregerthemen streute. Die Republik schrie auf und kaufte brav ein ansonsten vollkommen irrelevantes Druckwerk, die Einen, um sich darüber zu echauffieren, die Anderen, weil "es endlich einmal jemand klar ausspricht, was wir alle denken."

    Das Verb "denken" mag angesichts der Schlichtheit des Geäußerten etwas überraschen, aber die Nächstenliebe gebietet mir, die Sprecher solcher Sätze in ihrer Illusion zu lassen. Alles Andere führt nämlich unweigerlich zu Ausbrüchen, die mit "Man wird in diesem Land ja wohl noch einmal sagen dürfen, dass" beginnen und damit unterstellen, in Deutschland herrsche keine Meinungsfreiheit. Natürlich gibt es Leute, die unter "Meinungsfreiheit" allein die Freiheit verstehen, die Meinung zu äußern, die diesen Leuten in den Kram passt, insgesamt aber darf man in Deutschland aber schon arg viel Unsinn äußern. Man muss nur bereit sein, dafür die Konsequenzen zu tragen.

    Das ist nämlich die andere Seite der Meinungsfreiheit. Das gleiche Recht, das ich in Anspruch nehme, um meine geistige Leere in die Welt zu posaunen, steht Anderen zu, um mir zu sagen, dass sie meine Meinung für ausgemachten Unfug halten. Ich muss auch damit leben können, dass bestimmte Verbände, denen ich angehöre, mit mir wegen des von mir Gesagten nichts mehr zu tun haben wollen.

    Doch es geht ja, wie schon gesagt, nicht um Meinungsfreiheit oder darum, irgendetwas ändern zu wollen, es geht darum, Bücher zu verkaufen. Hätte jemand ernsthaftes politisches Interesse an der gerade laufenden Debatte, wäre er schon längst vor die Mikrofone getreten, um zu erklären, dass das Internet an allem Schuld ist, und es gäbe längst ein hastig zusammengekliertes Gesetz, das Ausländerkinder nach drei Fünfen in Serie des Landes verweist. Dass wir noch nicht einmal den obligatorischen in Gesetzesform geronnenen Verfassungsbruch vorliegen haben, belegt, dass alle froh sind, sich auf irgendeinem Nebenkriegsschauplatz austoben zu können, anstatt sich um wichtige Dinge kümmern zu müssen.

    Bei einer anständigen Dadadebatte darf natürlich ein wenig Zahlenmaterial nicht fehlen, und das kommt diesmal in Form einer von Deutschlands seriösesten Nachrichtenrechercheueren RTL und Stern in Auftrag gegebenen Studie, die  besagt, dass eine vom aktuellen Aufreger angeführte Protestpartei mit 18 Prozent Wählerstimmen rechnen könnte. Noch besser stünde es um eine Partei, die von Friedrich Merz geleitet wird: 20 Prozent. Der Abräumer schlechthin wäre der gescheiterte Bundespräsidentenkandidat Gauck: 25 Prozent. Nun betreiben wir mit Rücksicht auf das deutsche Wahlgesetz, das es nur erlaubt, maximal einer Partei seine Zweitstimme zu geben, ein wenig Kopfrechnen und erhalten die fantastische Zahl von 73 Prozent Stimmanteil, die zusammenkämen, träten diese drei Parteien tatsächlich gleichzeitig zur Wahl an. Spätestens hier sollte selbst dem gutgläubigsten Leser der eine oder andere Zweifel an der Seriösität der Meldung, den Antworten der Befragten oder der Studie selbst kommen. Dass eine Protestpartei aus dem Stand heraus den Sprung in ein Parlament schafft, mag ja noch angehen, dass aber CDU, SPD, GrünInnen, FDP und Linke sich um die verbliebenen 27 Prozent balgen, erscheint mir in einem Land, dessen Wähler sechzig Jahre lang nur sehr träge ihr Verhalten änderten, äußerst unwahrscheinlich. Die äußerste Form der Anarchie, die sich der Deutsche vorstellen kann, besteht darin, eine Parkuhr 30 Minuten zu überziehen, und wenn er es politisch mal so richtig krachen lassen will, geht er ganz mutig nicht zur Wahl. Das Einzige, was diese Studie wieder einmal belegt, ist die deutsche Eigenart, eine furchtbar dicke Lippe zu riskieren, im Ernstfall aber einzuknicken.

    Zum Abschluss gibt es drei Weisheiten, die ich den Kollegen der Medien, die im Gegensatz zu diesem Blog von jemandem gelesen werden, gerne mitgeben möchte:
    1. Es besteht keine Pflicht, jeden Unsinn, der von irgendwem irgendwo abgesondert wird, jedesmal abzudrucken.
    2. Wenn jemand ein Buch verkaufen will, soll er gefälligst selbst dafür sorgen und nicht tagelang die Nachrichtenkanäle ernst zu nehmender Medien blockieren.
    3. Wer wirklich politisch etwas ändern will, sollte sich nicht in Umfragen austoben, sondern die Hufe schwingen und sich engagieren.

    Donnerstag, 2. September 2010

    Twittagessen bei O'Reilly

    Zu Werbung habe ich offen gesagt ein zwiespältiges Verhältnis. Auf der einen Seite muss Werbung offenbar sein, um Produkte zu bewerben, auf der anderen Seite kann Werbung ungeheuer nerven. Es gibt allerdings auch noch die dritte Möglichkeit: perfekt auf die Zielgruppe ausgerichtete Werbung. Hier sind beide Seiten glücklich: Die Werber vermitteln ihre Botschaft, die Beworbenen fühlen sich informiert. Als schönes Beispiel, wie so etwas aussehen kann, beschreibe ich hier das "Twittagessen" des O'Reilly-Verlags.

    Für alle, die entweder nur sporadisch mit Computern zu tun oder es als IT-Profis unbegreiflicherweise geschafft haben, die letzten 15 Jahre ohne Bücher zu verbringen: O'Reilly ist nicht ein Fachbuchverlag der Computerbranche, es ist der Fachbuchverlag. Es mag vielleicht noch einen oder zwei Verlage geben, die derart viele Standardwerke herausgebracht haben und so lange im Geschäft sind, aber O'Reilly hat es geschafft, dass unsereins beim Wort "Perl" an Kamele und bei "Sendmail" an Fledermäuse denkt. Die meisten von uns können mit einer Anekdote aufwarten, in der es darum ging, ohne nennenswertes Vorwissen
    einen Server aufzusetzen oder eine Programmieraufgabe zu lösen. Die Geschichte verläuft dabei immer ähnlich: Am Anfang hat man nicht viel mehr als keine Ahnung, einen sportlich gesetzten Abgabetermin und das O'Reilly-Standardwerk zum Thema auf dem Schreibtisch, am Ende den fertig aufgesetzten Server und das dankbare Gefühl, dass dieses Buch einem das Leben gerettet hat. Manch ein EDV-Fossil denkt an die alten Tage des Data-Becker-Verlags zurück, als man dort vor allem nüchtern gestaltete und bezahlbare Bücher herausgab, bei deren Lektüre man sich dachte: "Gut, dass jemand das alles einmal vernünftig zusammengeschrieben hat."

    Manchmal ist weniger mehr, und bei O'Reilly hat man diese Binsenweisheit sehr gut begriffen. Das fängt an bei den größtenteils einfach und doch elegant gestalteten Büchern, geht weiter über die in einer ehemaligen Lagerhalle untergebrachten Verlagsräume, die den Pioniercharme des IT-Booms Ende der Neunziger bewahrt haben, bis hin zum Twittagessen, bei dem man eben keinen Massenauflauf veranstaltet, sondern per Los 15 Gäste einlädt, kein übertriebenes Buffet auffährt, sondern vom Pizzadienst leckre Pizza liefern lässt und auch keine protzigen Präsentationen an die Wand projiziert, sondern die am Buch Beteiligten ein paar Worte erzählen lässt und ansonsten Wert auf ein zwangloses Schwätzchen legt. Ein Höhepunkt für echte Fans ist dabei der Besuch im Besprechungsraum, in dessen Wandregalen ein Belegexemplar jeder Auflage jedes jemals bei O'Reilly erschienenen Titels steht. Das sieht nicht nur gut aus, verdeutlicht vor allem, worüber dieser Verlag schon geschrieben hat und was mal alles wissen könnte, wenn man die Zeit dazu fände.

    Zweck der Veranstaltung war es, das "Social Media Marketing Buch" zu bewerben - zugegebenermaßen der wahrscheinlich letzte Titel, den ich mir jemals gekauft hätte, weil mich als Techniker das Thema "Marketing" nur am Rande interessiert und weil ich mir kaum vorstellen kann, was man über Xing, Facebook und Irgendwas-VZ großartig schreiben will. Nachdem ich aber zum Abschied ein kostenloses Exemplar überreicht bekommen habe, werde ich es natürlich lesen und auch ein paar Zeilen darüber schreiben.

    Nebenher gab es auch einige interessante Details zu hören. So hatte die Übersetzerin des Social-Media-Marketing-Buchs mit der Schwierigkeit zu kämpfen, dass es auf dem US-amerikanischen Markt Portale gibt, die in Deutschland kaum jemand kennt, weswegen sie ganze Passagen für den deutschen Markt neu recherchieren und neu schreiben musste. Lustig ist auch, was sich die Umschlaggestalterin des Buchs über sed und awk bei der Auswahl des obligatorischen Wappentiers gedacht hat, nämlich: nichts. Sie hatte nicht verstanden, worum es in dem Buch ging und wollte allenfalls ihre Verwirrung ausdrücken.

    Zurückhaltend, effizient, symphatisch und professionell - schön, dass Werbung auch so sein kann. Buchbesprechung folgt.

    Alles nur Fassade

    Wenn mir vor zehn Jahren jemand gesagt hätte, ein Sommer könnte so ereignisarm werden, dass sich die gesamte journalistische Zunft der Frage widmet, ob die Zukunft unserer Zivilisation durch Fotos von Hauswänden bedroht ist, hätte ich ihn für verrückt erklärt.

    Sieht man etwas genauer hin, ist der Sommer auch gar nicht so ereignisarm: In Pakistan sterben die Menschen, die ihre nackte Existenz vor der Überschwemmung retten konnten, an Hunger oder Krankheit, während sich die westliche Kultur ziert, zur Rettung ein paar Münzen zu entbehren - immerhin handelt es sich ja um muslimische Terroristen und keine echten Menschen. Damit wir uns einmal über die Dimensionen klar werden: Die vermeintich riesigen Summen, die gerade als Flutopferhilfe für das zweitgrößte Land der Erde investiert werden, reichen bei so mancher europäischen Großbank gerade einmal aus, um die Boni der Manageretage zu bezahlen. Bei jedem Bundesligaspiel laufen auf dem Rasen größere Ablösesummen herum, als wir für Pakistan auszugeben bereit sind. Natürlich werden unsere kostbaren Steuergelder dafür kaum angerührt. Die braucht man für so hehre Aufgaben wie das Durchfüttern sich verzockender Börsenspekulanten.

    Ilse Aigner ist schon einmal ein guter Indikator, wann ein Thema ins Sinnlose abgleitet, und spätestens, wenn sich die bayerische (!) CSU(!)-Justiz(!)-Ministerin über Versäumnisse beim Datenschutz echauffiert, sollte dem naivsten Beobachter dämmern, dass Datenschutz das garantiert letzte Thema ist, um das es hier geht. Man muss kein Anhänger von Verschwörungstheorien sein, um sich zu fragen, wovon man hier gerade ablenken will.

    Themen gäbe es reichlich: Auf Anhieb fallen mir ein: Der neue Personalausweis, die Volkszählung 2011, die wieder auflebenden Forderungen nach Internetzensur, die anstehende Neuregelung der Vorratsdatenspeicherung, ELENA, der elektronische Krankenschein, SWIFT, Fluggastdatenabkommen, der Datenstriptease von Hartz-IV-Antragsstellern (und deren generelle Behandlung), INDECT sowie die ungelösten Fragen bei De-Mail und E-Post. Ich will es einmal etwas überspitzt formulieren: Wer über die vermeintliche Verletzung seiner Intimsphäre schwadroniert, während er an der Kaufhofkasse seine Paybackkarte zückt, hat für mich auf Jahre den Anspruch verwirkt, ernst genommen zu werden.

    Natürlich sollte es mich freuen, dass die Leute endlich auf irgendein Datenschutzthema anspringen. Ich befürchte allerdings, dass sie genauso schnell, wie sie jetzt auf Google herumreiten, sich der Lächerlichkeit ihrer Bilderstürmerei bewusst werden und dann uns Datenschützer für ihre eigene Hysterie zur Verantwortung ziehen wollen.

    Damit kein Missverständnis auftaucht: Google Streetview ist aus Datenschutzsicht bedenklich, aber das sind andere Dinge in viel höherem Maß. Wer sich mit Datenschutz etwas beschäftigt hat, weiß: Es gibt keine harmlosen Daten. Die Brisanz entsteht allerdings nicht durch den einzelnen Datensatz, sondern durch die Verknüpfung mit anderen Daten. Dass irgendwo Fotos von Häuserwänden lagern, ist kaum der Rede wert. Dass sie elektronisch durchsuchbar sind, dass man automatisiert innerhalb kürzester Zeit aus den frei im Netz verfügbaren Telefonbüchern und den Streetview-Daten eine soziale Landkarte erstellen kann - darin besteht die eigentliche Gefahr. Früher musste man sich in der Stadt auskennen oder einen Ortskundigen fragen, um zu erfahren, ob eine bestimmte Adresse eher von Armut oder von Reichtum zeugt. Heute reicht ein Aufruf bei Google.

    Diese Differenziertheit erreicht die Debatte jedoch kaum. Vielmehr scheint es so, als sei ein paar unterbeschäftigten Journalisten jede Nachricht recht, um der Tristesse zwischen Ende der Fußballweltmeisterschaft und Beginn der Sitzungsperiode im Bundestag zu entkommen. Also betreibt man etwas Google-Bashing. Google kennt jeder, Google ist groß und ab einer bestimmten Größe ist alles suspekt.

    Wenn Sie Google untersagen wollen, eine Momentaufnahme Ihrer Hauswand im Internet zu zeigen, haben Sie das Recht dazu, aber bitte bilden Sie sich nicht ein, dadurch großartig etwas zum Schutz Ihrer Privatsphäre beigetragen zu haben. Das nämlich tut weh. Sie müssten Ihr Facebook-, Xing- und Irgendwas-VZ-Profil löschen, Sie müssten Ihre Payback- oder sonstwie benamte Rabattkarte zerstören, und Sie sollten Ihre Gratis-Mailadressen löschen, oder glauben Sie etwa, nur weil sie es nicht ausdrücklich sagen, betrieben die anderen Freemailer außer Google keine Analyse Ihrer Mails? Die Wahrheit mag schmerzlich für Sie sein, aber wir leben im Kapitalismus. Hier hat niemand etwas zu verschenken. Sie bekommen eine Mailadresse und geben als Gegenleistung Ihre Daten.

    Sofern Datenschutz für Sie mehr ist als ein Thema, mit dem man sich über langweilige Sommernachmittage rettet, finden Sie hier ein paar Themen, die Sie interessieren könnten. Die meisten davon bereiten mir deutlich mehr Sorgen als fotografierte Häuserfassaden.



    Nachtrag: Inzwischen sind die ersten deutschen Städte in Google-Streetview zu bestaunen, und wie zu erwarten, bricht prompt zu einem Zeitpunkt eine neue Unsinnsdebatte los, als der Steuerzahler mit Billionenbeträgen seine armen Banken am Leben halten soll, die Regierung wieder einmal meint, die ungeklärten Fragen der Atommüllbeseitigung am besten dadurch zu lösen, dass man noch fleißig ein paar Jahrzehnte weiter das Zeug produziert und in einer niedersächsischen Lagerhalle unterstellt sowie Überwachungsfanatiker verschiedener Parteien diffuse Terrorhysterie schüren, um mit ihrer Hilfe ein paar neue Verfassungsbrüche auf den Weg zu bringen. Statt sich in die Selbstherrlichkeiten der Regierungen einzumischen, starrt das Volk auf die Bildschirme und zeigt mit zitternden Fingern auf ein paar verwaschene Flächen: "Da, guck mal, so ein , hat der doch glatt sein Haus verpixeln lassen. Mann, ist der [piep]. So ein [piep]. Ich könnte dem [piep] glatt mal kräftig den [piep] in den [piep]."

    Der Volkssturm ist empört. Welches Schwein hat es gewagt, seine durch die Verfassung garantierten Rechte wahrzunehmen? Na warte, denen wollen wir's doch mal zeigen, und da wir nicht den Mumm haben, diesen Leuten persönlich die Meinung ins Gesicht zu sagen, beschmeißen wir deren Häuser ganz mutig mit Eiern. Schade, dass die Forderung nach Entanonymisierung auch bei diesen Leuten dann aufhört, wenn sie zu ihrer eigenen Meinung stehen müssten.

    Damit auch hier kein Missverständnis aufkommt: Ich halte die Verpixelung von Häusern für kontraproduktiv, weil sie zum Persönlichkeitsschutz kaum etwas beiträgt, beim Verpixler aber das wohlig-faule Gefühl hinterlässt, jetzt mal so richtig was für den Datenschutz getan zu haben und die Leute, die sich mit dem Thema etwas länger beschäftigt haben, als es dauert, das Widerspruchsformular an Google loszuschicken, wie die letzten Trottel dastehen lässt. Ich rede mir seit Jahren den Mund fusselig, nur um mein mühsam errichtetes Kartenhaus beim Satz "Ach, gehörst du auch zu den Schwachköpfen, die ihre Häuser pixeln?" einstürzen zu sehen. Danke, werte Mitstreiter, für dieses grandios geschossene Eigentor.

    Sehen wir es aber auch einmal anders herum: Welcher Schaden entsteht Ihnen, wenn Sie die Hauswand Ihrer Bude nicht bei Streetview ansehen können? Was fehlt Ihnen dann in Ihrem Leben? Stirbt dann Ihre Katze? Wird Ihre Frau Sie verlassen, weil sie es nicht ertragen kann, mit einem Versager ein Leben zu teilen, der in einem bei Google nicht sichtbaren Haus wohnt?

    Diese Schmach ist natürlich für den deutschen Spießergeist nicht tragbar, und so greifen jetzt die unfreiwillig Gepixelten zur Gegenwehr, indem sie ihren Nachbarn Zettel wie diese in den Briefkasten stecken: "Liebe Mitbewohner, da mindestens eine/r von Ihnen ihre/seine Privatsphäre durch Google-Streetview bedroht sieht, möchte ich alles zum Schutze Ihrer Privatsphäre tun und werde demnächst keine Pakete mehr für Sie entgegennehmen. Ich kämpfe für Ihre Privatsphäre (außerdem habe ich Angst, dass Sie Pakete aus dem Jemen bekommen könnten)! Mit freundlichen Grüßen … (zu unserer aller Sicherheit habe ich meine Unterschrift verpixelt)"

    Huuh, war das mutig. Anonym Eier schmeißen und Pakete nicht annehmen, das ist es also, was klägliche Blockwarte unter politischem Diskurs verstehen. Ich schreibe gerade an einem Artikel, in dem ich Post-Privacy als mögliche Alternative zum klassischen Datenschutz diskutiere. Möglicherweise haben die klugen Gedanken Christian Hellers und Michael Seemanns mehr Potenzial als das bisherige Löschen und Verstecken. Wenn ich aber Zettel wie den obigen und die Hasstiraden auf Twitter lese, frage ich mich, ob Post-Privacy nicht etwas voraussetzt, was offenbar vielen fehlt: Horizont. Haben Sie sich jemals gefragt, wie es kommt, dass wir von intellektuellen Drittligisten regiert werden? Lesen Sie sich den Zettel noch einmal durch, atmen sie den Mief kleinstbürgerlicher Rechthaberei, spüren Sie die bedrückende Enge eines "Wie-du-mir-so-ich-dir"-Weltbilds versuchen Sie sich in die Welt eines Ordnungsfanatikers zu versetzen, der Zeit seines Lebens nie wirklich etwas zu melden hatte und jetzt seine Chance gekommen sieht, es den Leuten mal so richtig zu zeigen - schön versteckt natürlich, der Andere könnte ja zurückhauen, und das könnte aua machen. Wenn Ihnen bis in die letzte Pore das Gefühl uneingestandenen Versagens gezogen ist, dann stellen Sie sich bitte einen Wahlzettel vor und überlegen, wohin sie Ihr Kreuzchen setzen.

    Wenn Sie mit der Übung fertig sind, stehen Sie bitte auf und kümmern sich um die wirklich wichtigen Dinge des Lebens.