Montag, 13. April 2020

NIchts wird mehr so sein wie es nicht gewesen war

Es gibt Ereignisse, über die sich die Leute aufregen. Richtig aufregen. Mehr aufregen als über das, worüber sie sich üblicherweise aufregen, wenn ihr Adrenalinspiegel unter den Schwellenwert zu sinken beginnt, ab dem rationale Hirntätigkeit einsetzen könnte - bei den Meisten kein erfreulicher Anblick.



Was jedoch das normale Herumposaunen und was wirklich ein Thema ist, was uns für die nächsten Jahre dauerhaft beschäftigen wird, lässt sich mitten während der Aufregephase schwer sagen. Mitunter ist die Sache schon gegessen, nachdem die Chefaufreger einmal durch jede Sonntagabendschwafelschau geschleift wurden und Sascha Lobo eine Kolummne darüber geschrieben hat. Ob und in welcher Form die Coronakrise den öffentlichen Diskurs in einem Jahr bestimmen wird, lässt sich schwer sagen, auch wenn wir im Moment davon ausgehen, dass dies ganz bestimmt der Fall sein wird. Doch sehen wir uns im Vergleich andere einschneidende Ereignisse an:

Beim Fall des Eisernen Vorhangs im Allgemeinen und der deutschen Wiedervereinigung im Besonderen waren wir der Meinung, hier fänden zwei Systeme zueinander, jetzt käme es zur längst überfälligen gesellschaftlichen Umwälzung auch im Westen. Heute sehen wir: Die Welt ist keineswegs friedlicher geworden. Wir führen weiterhin unsere Kriege, nur der Gegner heißt heute anders. In Deutschland setzte sich die Erkenntnis durch, dass sich der Kauf der DDR teurer als erwartet herausgestellt hat, aber zumindest die Bewohner des Westteils mussten sich kaum umgewöhnen.

Nach dem 11. September 2001 verharrte die Welt einen Moment in Schockstarre, so unerhört schien damals das Ereignis. Tatsächlich haben wir vor allem gelernt, dass dass mehr als 100 ml Flüssigkeit im Handgepäck als terroristischer Akt anzusehen sind. Ach ja, und wir führen zu wenig Kriege. Während der Finanzkrise 2008 glaubten viele, dieser gewaltige Zusammenbruch müsse zu einem Umdenken führen. Statt dessen darf die Menschheit weiterhin von der Schulreife bis zu Rente für ein System arbeiten, das einer Handvoll Milliardäre ein traumhaftes Leben beschert, während das Proletariat von Glück reden kann, wenn es die nächste Monatsmiete zusammenbekommt.

An einem ähnlichen Punkt sind wir jetzt auch. Überall tönen Leute herum, sie wüssten ganz genau, was jetzt kommt. Das ist fast immer gelogen. Niemand weiß, was kommen wird, zumindest keiner von denen, die jetzt das ganz große Ding kommen sehen. Was sie verkünden, ist nicht das, was kommen wird, sondern das, was sie eintreten sehen wollen, damit sie ihre eigene Agenda durchziehen können. Im Prinzip unterscheiden sie sich nicht von Science-Fiction-Autoren, die in ihren Geschichten aus der Zukunft eigentlich nur die Gegenwart beschreiben und daraus ihre Botschaft ableiten.

"Es kann kein 'weiter so' geben." Doch, das kann es. Das geht sogar ganz phantastisch, weil die direkten Kosten des Durchwurschtelns immer niedriger als längerfristige Investitionen sind. Genau das steckt nämlich hinter Parolen wie "Flatten the curve". Übersetzt heißt das: Wir werden in den nächsten eineinhalb Jahren keinen Impfstoff haben, also setzen wir auf Durchseuchung. Wir sind 80 Millionen Menschen, Herdenimmunität tritt bei 70 Prozent, also 56 Millionen ein. Jetzt kalkulieren wir optimistisch ein Prozent Tote, also 560.000, also einmal Bremen oder Leipzig. Damit die beim Verrecken nicht den Anderen die Intensivbetten wegnehmen, spielen wir auf Zeit. Letztlich müssen wir die Reste unseres Gesundheitssystems einfach weiter im roten Bereich fahren und nur dafür sorgen, dass es nicht völlig kollabiert. Das merken die Leute. Wenn wir sie aber jetzt wieder zur Arbeit schicken, damit es den Großaktionären von VW wieder gut geht, können wir die Toten in unserer normalen Statistik verstecken, und niemand regt sich auf. Damit keiner behaupten kann, wir täten nichts, sagen wir, sie sollen sich Tücher vors Gesicht binden und irgendeine App installieren. UND JETZT BITTE EINEN FETTEN APPLAUS FÜR DAS PERSONAL UNSERER KRANKENHÄUSER.

Natürlich merken wir gerade, dass Pflegekräfte oder Lehrerinnen vielleicht doch etwas mehr leisten, als uns bisher klar war. Möglicherweise haben wir auch ein schlechtes Gewissen, weil wir sie schlecht bezahlen. Wissen Sie, wie lange dieses schlechte Gewissen anhält? Bis zu dem Tag, an dem Sie ihre beiden Monatsmieten nachzahlen müssen, die sie während des Lockdowns ausgesetzt haben. Bis zu dem Tag, an dem Sie Hartz IV beantragen, weil Sie mit 50 arbeitslos geworden sind und kein Mensch Sie mehr einstellen möchte. Bis zu dem Tag, an dem Ihre Kinder wieder regulär zur Schule gehen und Sie ganz schnell wieder in die alte Gewohnheit verfallen, dem faulen Lehrerpack die Erziehung zu überlassen - wofür zahlen Sie bitte Steuern?

Nein, ich weiß genauso wenig wie alle Anderen, was in den nächsten Wochen passieren wird. Vielleicht kommt das Klinikpersonal ähnlich wie die Lokführer auf die Idee, einmal das System gegen die Wand rasseln zu lassen und erst nach einer satten Lohnerhöhung wieder anzufangen. Ich glaube das zwar nicht, weil die ethischen Ansprüche dieser Leute viel zu hoch sind, als dass sie ernsthaft streiken und dabei Menschenleben riskieren könnten. Wir haben ihre erfolglosen Arbeitskämpfe der letzten Jahre gesehen. Auf der anderen Seite: Irgendwann ist bei allen die Belastungsgrenze erreicht.

Nein, ich weiß nicht, was passieren wird, aber ich verstehe ehrlich gesagt auch nicht, warum während eines Shutdowns auch nur eine Kneipe, eine Selbständige, eine Künstlerin in die Insolvenz muss. Klar, sie haben laufende Kosten, aber im Wesentlichen ist das Miete. Nun haben auch die Vermieter laufende Kosten, müssen eventuell noch einen Kredit bei der Bank bedienen, aber warum stundet die Bank den Kredit nicht? Warum nimm die EZB Negativzinsen, während die Banken auch während des wirtschaftlichen Stillstands darauf bestehen, dass Kredite bedient werden? Wenn wir schon gerade das Bild des Shutdowns oder genauer, der Hibernates bedienen: Wenn mein Computer im Ruhemodus ist, rechnet er nicht, er verbraucht nur minimal Strom, um den Speicherzustand nicht zu verlieren. Wenn ich den Rechner wieder hochfahre, verhält er sich so, als sei zwischendurch nichts passiert. Mir ist klar, dass ich vereinfache, aber warum haken wir nicht einfach die fünf Wochen Umverteilung von unten nach oben ab und setzen unsere Arbeit da fort, wo wir am 13. März aufgehört haben? Wenn wir zur Sommerzeit die Uhren um eine Stunde vorstellen, kommt ja auch niemand auf die Idee, für die nicht stattgefundene Stunde Geld zu verlangen. Natürlich hat der vergangene Monat im Gegensatz zur Zeitumstellung sehr real stattgefunden, und wir müssen uns über die Kompensation der in diesem Monat real angefallenen Kosten unterhalten, aber Einnahmeausfälle, weil irgendwo ein Haus herumsteht oder eine Bank Geld verliehen hat, von dem sie froh ist, es nicht zu haben - falls sie es jemals besessen hat - halte ich für schwer verargumentierbar.

Wir haben - wieder einmal - die Möglichkeit, über unser Wirtschaftssystem nachzudenken, darüber, ob wir gerechte Löhne zahlen, inwieweit starr an Arbeit gekoppelte Löhne in Zeiten steigender Arbeitslosigkeit überhaupt noch sinnvoll sind. Wir können uns darüber unterhalten, warum praktisch alle, denen es ohnehin schon finanziell nicht besonders gut geht, bei dieser Krise draufzahlen, während diejenigen, deren einziger gesellschaftlicher Verdienst darin bestand, an der Börse auf den Zusammenbruch der Wirtschaft zu wetten, als die Gewinner aus ihr hervorgehen und sich dafür auch noch feiern lassen.

Naja, oder wir posten ab Ende April wieder empörte Bilder über rosafarbene Ü-Eier.

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