Sonntag, 24. September 2017

Gewählte Ratlosigkeit

Natürlich muss man extrem vorsichtig sein, was Nazivergleiche angeht, aber wahrscheinlich bin nicht nur ich es, die sich fragt: Hat es sich 1933 ähnlich angefühlt?

Die Umstände lassen sich freilich nur bedingt vergleichen, zu stark sind die Unterschiede, aber trotzdem treibt mich die Frage um: Haben die Leute damals es auch kommen sehen und die Gefahr nicht ernst genommen? Haben sie sich auch gedacht: OK, nicht schön, eine Horde hirnloser Großmäuler, aber letztlich harmlos, weil sie außer Motzen keinen Plan haben? Haben auch sie es tief im Innern gar nicht einmal so schlecht gefunden, dass die eingeschlafene Demokratie einen ordentlichen Warnschuss bekommt, dass es so nicht weiter geht (und in der Tat ging es ja auch so nicht weiter)?

Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Um es klar zu sagen: Wir haben nicht Weimar. Die Weimarer Republik war eine junge Demokratie, noch im Tarierungsprozess, gebeutelt vom verlorenen Weltkrieg und einer Wirtschaftskrise, zerrissen von sozialen Spannungen, gegen die selbst schlimmste Hartz-IV-Verhältnisse wie purer Luxus wirken. Heute hingegen leben wir in einem Land, das vor wirtschaftlicher Stärke nur so strotzt. Wohlstand ist mehr als reichlich da, er kommt nur nicht überall an. Das parlamentarische System hat in fast sieben Jahrzehnten zahlreiche Mechanismen gefunden, mit Gefahren umzugehen. Wir haben die NPD überstanden, wir haben die Republikaner überstanden, die Statt-Partei, die DVU und was die rechte Bierplautzeria noch hervorgebracht hat. Sie alle sind spätestens in den Parlamenten kollabiert, als sie vor lauter Pöstchen- und Karrieregier kaum noch aus den Augen gucken konnten, aber zu blöde waren, irgendetwas auf die Reihe zu bekommen. Die Frage ist allerdings: Was passiert, wenn jemand die Sache etwas cleverer angeht, einen Plan hat und ihn im Auge behält? Kann sich Geschichte wiederholen?

Demokratien sind längst nicht so stabil, wie wir immer vermutet haben. Die Türkei mutierte innerhalb weniger Monate zur Dikatur. Nun kann man sagen: OK, das war ohnehin nie das Musterland für funktionierenden Parlamentarismus. Doch spätestens wenn wir uns ansehen, was Trump mit den USA anrichtet, einem Land dessen Gründungsmythos in der Errichtung einer repräsentativen Demokratie besteht, die von Trump gerade Stück für Stück zerlegt wird, wird klar, wie schnell man die Verfassung aushebeln kann, wenn man nur will. Noch gibt es Gerichte, die den Rechtsstaat verteidigen, doch deren Neubesetzung steht an, und danach kann es eng werden. Die einzige Hoffnung besteht derzeit darin, dass die Republikaner sich untereinander dermaßen uneins sind, dass sie sich selbst gegenseitig blockieren, aber ehrlich gesagt ist das nichts, worauf ich wetten möchte, und vor allem sind das nicht die Selbstverteidigungsmechanismen, die ich gern gesehen hätte.

Frankreich, praktisch eines der Mutterländer moderner Demokratie, ist bei der letzten Wahl haarscharf an der Katastrophe vorbeigeschrammt. Auch hier hat man nicht den Eindruck, da hätte ein stabiles System souverän einen Angriff abgewehrt. Es haben sich schlicht die letzten Demokraten noch einmal zusammengerissen und das kleinere Übel gewählt.

Die gute Nachricht des Bundestagswahlsonntags ist: Die SPD zeigt erstmals seit langer Zeit so etwas wie Haltung und kündigt an, in die Opposition zu gehen. Ich hoffe zu ihrem eigenen Gunsten, dass sie das auch wirklich durchhält und nicht am Ende wieder den Verlockungen flauschiger Regierungssessel erliegt. Sollte Jamaika nicht zustande kommen und die SPD sich in einem Anfall staatstragender Selbstüberschätzung wieder zu einer Koalition hinreißen lassen, die das Attribut "groß" nun wirklich nicht mehr verdient, kann sie gelassen dem Abstieg ins Zehn-Prozent-Ghetto entgegen sehen. Vielleicht wird dann die AfD sogar zweitstärkste Kraft.

Eine "Volkspartei" kann sich der Zwanzig-Prozent-Mickerhaufen schon lange nicht mehr nennen. Schlimmer noch: Wer sich die Wählerwanderungen ansieht, erkennt, dass auch die Zeiten vorbei sind, in denen sich die SPD als Partei der Arbeiter und sozial Schwachen aufführen konnte (und noch wollte). Die sind inwzwischen bei der AfD. Die Opposition bietet für die SPD die Chance, sich neu zu ordnen, ein paar ihrer übergewichtigen, alten Macker loszuwerden und Leute nach vorne zu lassen, die das Internet nicht übers Faxgerät ausdrucken. Vielleicht wird sie sogar wieder sozialdemokratisch. Das kann zwei Legislaturperioden oder mehr dauern, aber eins sollte allen Beteiligten klar sein:

Es gibt keine Wahlergebnisse mehr, auf denen man sich ausruhen kann. Als Schröder Kanzler wurde, war die CDU am Boden. Früher wäre es das gewesen. Inzwischen aber sind Verluste und Gewinne im Bereich von 8 Prozent nichts Ungewöhnliches mehr. Merkel hatte zwei Legislaturperioden gebraucht, um die CDU wieder aus dem Keller zu holen, bei dieser Wahl gab es kräftig Prügel, aber das kann in vier Jahren schon wieder ganz anders sein. Auf die FDP hätte vor vier Jahren niemand auch nur einen Pfifferling gewettet, und jetzt punktet sie mit einem Wahlkampf, der mit einem Posterboy und seinem Thermomix geführt wurde. Die AfD wurde von enorm unzufriedenen Leuten in die Parlamente gespült, und wenn sie die nicht zufriedenstellt (was ich vermute), wandern sie zur nächsten Partei, die ihren Unmut bündelt. Das heißt aber auch: Mit einer vernünftigen Sozialpolitik bekommt man AfD-Wähler wieder in die Reihen der Demokraten. Wir haben nicht etwa 13 Prozent Leute im Land, die jeden Abend eine Flüchtlingsunterkunft niederbrennen, während die Linke davor steht und "Es heißt Geflüchtetend*innen!" schreit, sondern da sind jede Menge Leute, die sich verschaukelt vorkommen, wenn ihre vielleicht nicht besonders eloquent vorgetragene Meinung mit der Begründung, das sei jetzt irgendein -ismus und deswegen furchtbar böse, abgebürstet wird. Es sind Leute, die sich fragen, wie eine Partei einen Mitgliederentscheid als demokratisch verkaufen kann, bei dem die einzige weibliche Kandidatin von vornherein wegen der Quote gewählt ist. Sie verstehen nicht, warum sie nach jahrelanger Arbeit in ihrem Betrieb mit Hartz IV vor die Tür gesetzt werden, während diejenigen, die den Betrieb mit Schmackes gegen die Wand gesetzt haben, zum Trost ein paar Millionen Euro Tantiemen einstreichen und zum nächsten Betrieb wechseln, um dort weiter Unfug zu bauen. Klar, man kann mit der Feststellung, das sei alles gar nicht wahr, überspitzt ausgedrückt und die Leute sowieso alle Nazis, ja schlimmer noch: privilegierte weiße Männer, die Sache als erledigt ansehen, oder man kann sich fragen, woher diese verqueren Ansichten kommen und versuchen, die dahinter stehenden Gefühle zu verstehen. Dabei hilft einem kein Magister in Politologie, sondern Interesse an Menschen. Wenn die SPD das aufbringt, dann kann sie auch bald wieder regieren.

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