Sonntag, 16. April 2017

Deutsche Riten Teil 3: Das Grundrecht zum Zappeln

Wer in diesem Land lebt, muss eine gewisse Vorliebe für Wiederholungen haben, wenn er nicht verzweifeln will.

Nein, es geht nicht ums Fernsehprogramm, sondern um die Tendenz der hier lebenden Menschen, regelmäßig einen unglaublichen Tanz darum zu veranstalten, dass Dinge immer noch so sind wie vorher.

Womit wir beim Thema wären: Tanzen. Man sollte meinen, wir seien ein Volk von Musikliebhabern. Vor allem am Karfreitag, da haben wir ja alle frei, da machen wir mal so richtig einen drau - ach nein, geht ja nicht, ist verboten, und jedes Mal veranstalten die Leute ein Theater, als sei das Tanzverbot gestern erst beschlossen worden. Seit Jahren.

Damit wir uns richtig verstehen: Ich halte das Tanzverbot für eine der idiotischsten Ideen, mit der die Kirchen ihren Machtanspruch behaupten. Rücksichtsnahme kann man nur leben, man kann sie nicht verordnen. Vor allem liefert man mit dieser sauertöpfischen Reglementierungswut den Kirchengegnern eine Steilvorlage, die damit alle Vorurteile bestätigt sehen. Trotzdem finde ich es lächerlich, wie sich die Leute über dieses Verbot aufregen. Die Grundfesten der freiheitlich-demokratischen Grundordnung sehen sie gefährdet, wenn sie einen Tag lang nicht in der Disco herumtoben dürfen. Vergleiche mit den Taliban sind noch das Sachlichste, was durch die Kommentarspalten geht. Die Kirche, der große, totalitäre Gedankenkontrolleur.

Spannend finde ich, dass der Schrei nach dem Ende des Gesinnungsterrors ausgerechnet von denen stammt, die sonst keine Schwierigkeiten damit haben, Minderheiten mit dem Argument der Rücksichtnahme den Vortritt zu lassen. So ist es bei vielen Veranstaltungen des alternativen Spektrums vollkommen normal, dass dort vegetarisch oder sogar vegan gegessen wird, obwohl die Mehrheit der Anwesenden normalerweise Fleisch ist. Warum auch nicht? So lange das Essen schmeckt, ist mir offen gesagt egal, woraus es besteht.

Ich kenne von der Kirche betriebene Jugendzentren, die während der täglichen Verköstigung kein Schweinefleisch servieren, weil dort ab und zu auch Muslime vorbei kommen. Während des Ramadan gibt es auch für die Nichtmuslime nichts zu essen, um die fastenden muslimischen Kinder nicht unnötig zu belasten. Noch einmal: Betreiber ist die Kirche.

Wir finden den Anblick frierender Gestalten vor Kneipen völlig normal, weil drinnen nicht mehr geraucht werden darf. Busspuren, auf denen zweimal pro Stunde Busse fahren, Frauen- oder Behindertenparkplätze, die mitunter tagelang nicht genutzt werden - ja, selbst die CDU hat inzwischen eine Quote. Das sind lauter Beispiele, in denen wir persönliche Einschränkungen in Kauf nehmen, weil wir es gerecht finden, weil wir Rücksicht nehmen wollen.

Ich wohne in einer Gegend, in der es als Ausdruck der Lebensfreude gilt, sich die letzten Reste eines IQs mit Hilfe von Alkohol unter die Wahrnehmbarkeitsgrenze zu drücken, wo man, wenn man nachts um drei nach hause kommt, gern mal die Party mit voll aufgedrehter Anlage weiter gehen lässt, in der es vollkommen normal ist, sturzbetrunken nachts durch die Straßen zu marodieren und die Anwohnerinnen mit mehr herausgeschrieenen als gesungenen Karnevalsschlagern zu unterhalten, eine Gegend, in der man ganze Wochenenden hindurch damit leben muss, bei Freiluftveranstaltungen angefangen vom Soundcheck um 7 Uhr morgens bis hin zum fröhlichen Ausklang gegen 23 Uhr mit Ballermanmucke versorgt zu werden. Da ist es natürlich ein unzumutbarer Eingriff in die Menschenrechte, wenn man an einem Tag im Jahr die verbriefte Garantie hat, Andy Borg nicht hören zu müssen.

Letztlich sind mir die Argumente pro und contra aber auch egal. Ich habe sie gehört. Seit Jahrzehnten. Immer wieder. Die gleichen. Es hat sich nichts geändert. In den sozialen Medien werden dem Anschein nach einfach die Tweets des Vorjahrs ausgegraben und erneut abgeschickt, und jeder kommt sich dabei wahnsinnig witzig und originell vor. Hui, was bin ich mutig, ich lege mich mit der ach so mächtigen Kirche an, schaut her.

Jou, das ist ungefähr so tapfer wie bei der Schulhofprügelei die ganze Zeit daneben zu stehen und am Ende bei dem am Boden Liegenden noch einmal kräftig nachzutreten. Sich mit der Kirche anzulegen, mag in bayerischen Bergdörfern tatsächlich noch so etwas wie Mumm erfordern, im zivilisierten Rest der Republik ist es einfach nur peinlich.

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