Samstag, 27. Juni 2015

Körperfetisch und Opfermythos

OK, erst der Pöbelteil und dann die Passage zum Abkühlen:

An meine Schulzeit denke ich ohnehin ungern zurück. Ein Großteil meiner Lehrerinnen waren selbstherrliche Idioten, die man auf alles hätte loslassen dürfen, nur nicht auf Kinder. Der Unterricht war, konservativ geschätzt, zur Hälfte verschwendete Lebenszeit, die mir niemand zurückgeben kann, ohne jede auch nur ansatzweise herstellbare Relevanz für mein heutiges Leben, die von vielen rückblickend verklärte Klassenkameradschaft ein jahrzehntelanges Mobbing. Den Gipfel diesen Namen nicht verdienender "Bildungspolitik" stellte für mich regelmäßig Sport dar. Anfangs fand ich das Herumgetolle ja noch ganz nett, aber da es in diesem Fach nicht um Spaß haben sondern um Leistung und so sinnvolle Betätigungen wie das Durch-die-Gegend-Werfen von Eisenkugeln und Aufschwung am Reck ging, gehörte ich schnell zu denen, die man halt mitschleift und nur dann in seine Mannschaft aufnimmt, wenn sonst niemand mehr da ist.

Da es jedoch den deutschen Recken seit jeher gelüstete, seinen im Kampf gestählten Arierleib im edlen Wettstreit mit anderen zu messen, reichte es natürlich nicht aus, die wöchentliche Lektion Frustrationstoleranz auf den regulären Unterricht zu beschränken, nein, da muss unbedingt etwas wie die Bundesjugendspiele her, mit verpflichtender Teilnahme für alle. Natürlich gab es zu meiner Zeit bereits ein paar Reformpädagogen, die, wenn man schon ganze Jahrgänge zu diesem Blödsinn verdonnert, irgendeine Anerkennung für alle jene wollten, die zumindest den Versuch ernsthafter Beteiligung erkennen ließen. Dafür gab es eine - wie hieß der Kram doch gleich? Siegerurkunde? Ehrenurkunde? Egal, jedenfalls ein Zettelchen, dessen Erlangungskriterien so lax gefasst waren, dass eigentlich jeder Depp so ein Ding bekommen konnte, der nicht nur einfach dumm herumstand.

Und jetzt raten Sie mal, wer in den ganzen Jahren nie auch nur die Teilnahmeurkunde bekam, trotz ernsthafter Versuche? Wissen Sie, wie es sich anfühlt, wenn man außer dem Typen, der die ganze Veranstaltung aus Prinzip boykottiert, die Einzige ist, die ohne Zettel ausgeht? "Teilnahme ist wichtiger als Sieg" lautete das Olympische Motto, und selbst das bekam ich nicht zugestanden. Da wäre es ehrlicher, Urkunden denen vorzubehalten, die auch wirklich Überdurchschnittliches leisten und den Rest als das zu behandeln, was sie faktisch sind: Füllmaterial, Zaungäste.

Ob ich die Bundesjugendspiele abschaffen möchte? Natürlich. Ich hätte dieses Relikt aus einer Zeit, in der man blöd wie Achsenfett sein konnte, so lang man hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder und flink wie Windhunde war, unmittelbar mit Gründung des Bundesrepublik auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen, aber mit dieser Meinung war ich immer in der Minderheit. Ob ich die gerade laufende Petition bei change.org unterschreiben werde? Himmel, nein. Warum? Weil die Begründung so ziemlich das Dämlichste ist, was ich seit langem gelesen habe.

"Mein Sohn hat geweint, als er nur eine Teilnehmerurkunde bekam." Dieser Satz fasst alles zusammen, was neoaufklärerische Winselkultur auszeichnet. Erstens: Wir haben ein Opfer, in diesem Fall ein kleines, unschuldiges Kind. Wenn es jetzt noch homosexuell wäre, eine kleine Behinderung oder wenigstens Migrationshintergrund hätte, wäre das Glück perfekt, aber so reicht es ja auch schon. Zweitens: Diesem zarten, reinen Geschöpf wird Gewalt angetan. Naja, also nicht wirklich Gewalt, aber seht her, es weint.

Eltern, jetzt müsst ihr ganz tapfer sein: Eure Kinder weinen. Das ist nun einmal ihre Default-Reaktion, wenn sie nicht weiter wissen. Sie haben geweint, als sie ihren ersten Atemzug taten, sie haben unzählige Male geweint, als ihre Hosen voll waren, als sie Hunger hatten oder wegen irgendeiner anderen Kleinigkeit in der Nacht wach wurden. Sie haben geweint, als ihnen im Sandkasten die Schaufel weggenommen wurde, sie haben geweint, als sie sich beim Skaten die Knie aufschlugen, sie haben geweint, als sie ihre erste 5 in einer Klassenarbeit bekamen, sie werden weinen, wenn sich ihre große Liebe als das letzte Dreckstück entpuppt. Natürlich ist das nicht schön, und natürlich möchte man ihnen unnötiges Leid ersparen, aber so hart es auch sein mag: Niederlagen, auch bittere Niederlagen gehören zum Leben dazu, und wenn man im Leben eine wichtige Lektion lernen muss, dann ist es die, wie man mit Verlusten und Niederlagen umgeht. Kindern diese Erfahrung zu verweigern, diese der Kuschelpädagogik der Achtziger entsprungene Idee, man könne Kindern eine Welt ohne Verlierer vorgaukeln - das, Eltern, ist wirkliche Gewalt, die ihr euren Kindern angedeihen lasst. Die Welt da draußen kennt nun einmal Gewinner und Verlierer. Sie kennt sie seit Anbeginn der Evolution, und kein noch so aufgeregtes Esogequatsche wird daran etwas ändern. Ihr habt in den Grundschulen die Zensuren abgeschafft, weil dieses zugegebenermaßen sehr starre Schema keine differenzierte Beschreibung des Leistungsstands eines Kindes zulässt. Aber damit nicht genug: Um den zarten Kinderseelen jedes Leid zu ersparen, habt ihr die Unsitte der Arbeitswelt übernommen, dass in Zeugnissen nur positive Aussagen zu stehen haben. Statt also zu schreiben, dass der kleine Lukas-Maximilian ein unausstehlicher Drecksbalg mit dem IQ eines Feldwegs ist, der dringendst seinen faulen Hintern in Bewegung setzen muss, wenn er in seinem Leben mal mehr werden will als Briefbeschwerer oder Türstopper, steht in den Zeugnissen irgendein Geschwurbel von "beim Addieren von Zahlen musst du dich noch ein wenig mehr bemühen und vielleicht noch seltener deine Klassenkameraden vom Lernen abhalten". Ihr habt die Rechtschreibung abgeschafd wail ez di Grehatiwited pehinterrt wänn Mann dole Seze schraipd unnt ter Lerä turch klainkahrihrtäs kohrrigihrän tehn gansn Schpahz ferrtirpd. Ja, ihr schiebt damit den Moment der ersten Niederlage erfolgreich um ein paar Jahre hinaus, aber zum Ausgleich wird der erste große Schlag eure Kinder umso härter und umso schlechter vorbereitet treffen. Wenn eure Tochter schon bei den Bundesjugendspielen weint, wie soll es ihr erst ergehen, wenn etwas von wirklicher Relevanz passiert? Wie schon gesagt: Schafft diese idiotischen Zwangssportwettbewerbe als Relikt vergangener Epochen ab, aber nicht mit der Begründung, Kinder verkrafteten es seelisch nicht, auch mal zu verlieren.

Jetzt zum stilistisch etwas gesetzteren Teil. Warum wettere ich so vehement gegen Sport und nicht gegen Physik, Deutsch oder Mathe? Platt gesagt: Weil es da bei mir immer wenigstens für befriedigende Zensuren gelangt hat. Das heißt nicht, dass ich statt der Bundesjugendspiele die Leute zwangsweise zur Matheolympiade anmelden möchte, das heißt nur, dass ich von der anderen Hälfte der von mir eingangs genannten Schulfächer wenigstens grob einsehe, wozu man sie brauchen kann. Selbst bei Latein, einem Fach, das ich gehasst habe und in dem ich miserabel war, kann ich verstehen, dass die dort vermittelten Vokabeln und Grammatikkenntnisse irgendeinen Nutzen haben. Ob man den gleichen Effekt nicht auch mit einer anderen Sprache und weniger militärischem Drill erzielen kann, lasse ich offen, aber ich merke bis heute, wie ich immer wieder auf dieses Wissen zurückgreife.

Das geht mir so. Andere mögen es komplett anders sehen. Deren Leben kommt wahrscheinlich komplett ohne Physik und Mathe, dafür aber mit Erdkunde, Kunst und vielleicht auch Sport aus. Das Dumme an allgemeinbildenen  Schulen ist nun einmal, dass sie unterschiedslos alle Leute in den gleichen Kanon zwingen, egal, wo nun ihre wirklichen Talente liegen, und es ist nur zu natürlich, dass ein Mathegenie in Geschichte völlig untergeht. Trotzdem ist es sinnvoll, beide Fächer besucht zu haben, allein schon, um allen wirtschaftlichen Anforderungen zum Trotz Spezialisierung und Fachidiotentum nicht schon zu früh zu fördern. Für eine Programmiererin reicht es eigentlich aus, Mathe, Deutsch und Englisch zu können, aber genug Geschichtskenntnisse, um zu wissen, dass mit Hilfe von Hollerithmaschinen ein Völkermord in Europa durchgeführt wurde, wären in meinen Augen sinnvoll. Technik hat eben immer Konsequenzen, und "ich habe von all dem nichts gewusst und nur Befehle befolgt" wird als Ausrede nicht mehr anerkannt.

Es kann also nicht schaden, in jedes Fachgebiet einmal hineingeschnuppert zu haben. Selbst Sport ergibt so betrachtet noch irgendeinen Sinn. Statt Reck, Barren und diesen komischen Holzkästen hätte ich mir zwar viel lieber irgendetwas angetan, was auch nur ansatzweise Spaß bringt, aber das ärgert mich weniger. Es ärgert mich, dass man wegen Sport sitzen bleiben kann. Es ärgert mich, dass unser Schulsystem nicht mit der Tatsache klar kommt, dass es in bestimmten Fächern einfach hoffnungslose Fälle gibt. Natürlich muss ein möglichst breites Wissen oberstes Ziel bleiben, aber wenn sich herausstellt, dass jemand beispielsweise einen naturwissenschaftlichen Schwerpunkt hat und dafür in den Sprachen nie über Gestammel hinaus kommt, muss es doch möglich sein, sie unter der Bedingung, dass sie sich Sprachen wenigstens grob weiterhin anguckt, um nicht gänzlich den Anschluss zu verlieren, als Ausgleich in den Naturwissenschaften ordentlich zu fördern. Nein, das geht nicht. Wir schleifen die Leute lieber jahrelang mit, lassen sie mangelhafte und ungenügende Zensuren kassieren und möglicherweise sogar deswegen Klassen wiederholen, obwohl völlig klar ist, dass sie in ihren guten Fächern brillieren und es in ihren Schwachpunkten nie zu etwas bringen werden. Noch einmal: Zu frühe Spezialisierung sollte man vermeiden, aber wenn sie sich abzeichnet, sollte man die Augen davor nicht verschließen.

Und wenn ihr es dann noch hinbekommt, Sport endlich einmal interessant und nicht als verstaubte Militärübung zu gestalten, dürft ihr auch eure bekloppten Bundesjugendspiele behalten.

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