Samstag, 27. Juni 2015

Körperfetisch und Opfermythos

OK, erst der Pöbelteil und dann die Passage zum Abkühlen:

An meine Schulzeit denke ich ohnehin ungern zurück. Ein Großteil meiner Lehrerinnen waren selbstherrliche Idioten, die man auf alles hätte loslassen dürfen, nur nicht auf Kinder. Der Unterricht war, konservativ geschätzt, zur Hälfte verschwendete Lebenszeit, die mir niemand zurückgeben kann, ohne jede auch nur ansatzweise herstellbare Relevanz für mein heutiges Leben, die von vielen rückblickend verklärte Klassenkameradschaft ein jahrzehntelanges Mobbing. Den Gipfel diesen Namen nicht verdienender "Bildungspolitik" stellte für mich regelmäßig Sport dar. Anfangs fand ich das Herumgetolle ja noch ganz nett, aber da es in diesem Fach nicht um Spaß haben sondern um Leistung und so sinnvolle Betätigungen wie das Durch-die-Gegend-Werfen von Eisenkugeln und Aufschwung am Reck ging, gehörte ich schnell zu denen, die man halt mitschleift und nur dann in seine Mannschaft aufnimmt, wenn sonst niemand mehr da ist.

Da es jedoch den deutschen Recken seit jeher gelüstete, seinen im Kampf gestählten Arierleib im edlen Wettstreit mit anderen zu messen, reichte es natürlich nicht aus, die wöchentliche Lektion Frustrationstoleranz auf den regulären Unterricht zu beschränken, nein, da muss unbedingt etwas wie die Bundesjugendspiele her, mit verpflichtender Teilnahme für alle. Natürlich gab es zu meiner Zeit bereits ein paar Reformpädagogen, die, wenn man schon ganze Jahrgänge zu diesem Blödsinn verdonnert, irgendeine Anerkennung für alle jene wollten, die zumindest den Versuch ernsthafter Beteiligung erkennen ließen. Dafür gab es eine - wie hieß der Kram doch gleich? Siegerurkunde? Ehrenurkunde? Egal, jedenfalls ein Zettelchen, dessen Erlangungskriterien so lax gefasst waren, dass eigentlich jeder Depp so ein Ding bekommen konnte, der nicht nur einfach dumm herumstand.

Und jetzt raten Sie mal, wer in den ganzen Jahren nie auch nur die Teilnahmeurkunde bekam, trotz ernsthafter Versuche? Wissen Sie, wie es sich anfühlt, wenn man außer dem Typen, der die ganze Veranstaltung aus Prinzip boykottiert, die Einzige ist, die ohne Zettel ausgeht? "Teilnahme ist wichtiger als Sieg" lautete das Olympische Motto, und selbst das bekam ich nicht zugestanden. Da wäre es ehrlicher, Urkunden denen vorzubehalten, die auch wirklich Überdurchschnittliches leisten und den Rest als das zu behandeln, was sie faktisch sind: Füllmaterial, Zaungäste.

Ob ich die Bundesjugendspiele abschaffen möchte? Natürlich. Ich hätte dieses Relikt aus einer Zeit, in der man blöd wie Achsenfett sein konnte, so lang man hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder und flink wie Windhunde war, unmittelbar mit Gründung des Bundesrepublik auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen, aber mit dieser Meinung war ich immer in der Minderheit. Ob ich die gerade laufende Petition bei change.org unterschreiben werde? Himmel, nein. Warum? Weil die Begründung so ziemlich das Dämlichste ist, was ich seit langem gelesen habe.

"Mein Sohn hat geweint, als er nur eine Teilnehmerurkunde bekam." Dieser Satz fasst alles zusammen, was neoaufklärerische Winselkultur auszeichnet. Erstens: Wir haben ein Opfer, in diesem Fall ein kleines, unschuldiges Kind. Wenn es jetzt noch homosexuell wäre, eine kleine Behinderung oder wenigstens Migrationshintergrund hätte, wäre das Glück perfekt, aber so reicht es ja auch schon. Zweitens: Diesem zarten, reinen Geschöpf wird Gewalt angetan. Naja, also nicht wirklich Gewalt, aber seht her, es weint.

Eltern, jetzt müsst ihr ganz tapfer sein: Eure Kinder weinen. Das ist nun einmal ihre Default-Reaktion, wenn sie nicht weiter wissen. Sie haben geweint, als sie ihren ersten Atemzug taten, sie haben unzählige Male geweint, als ihre Hosen voll waren, als sie Hunger hatten oder wegen irgendeiner anderen Kleinigkeit in der Nacht wach wurden. Sie haben geweint, als ihnen im Sandkasten die Schaufel weggenommen wurde, sie haben geweint, als sie sich beim Skaten die Knie aufschlugen, sie haben geweint, als sie ihre erste 5 in einer Klassenarbeit bekamen, sie werden weinen, wenn sich ihre große Liebe als das letzte Dreckstück entpuppt. Natürlich ist das nicht schön, und natürlich möchte man ihnen unnötiges Leid ersparen, aber so hart es auch sein mag: Niederlagen, auch bittere Niederlagen gehören zum Leben dazu, und wenn man im Leben eine wichtige Lektion lernen muss, dann ist es die, wie man mit Verlusten und Niederlagen umgeht. Kindern diese Erfahrung zu verweigern, diese der Kuschelpädagogik der Achtziger entsprungene Idee, man könne Kindern eine Welt ohne Verlierer vorgaukeln - das, Eltern, ist wirkliche Gewalt, die ihr euren Kindern angedeihen lasst. Die Welt da draußen kennt nun einmal Gewinner und Verlierer. Sie kennt sie seit Anbeginn der Evolution, und kein noch so aufgeregtes Esogequatsche wird daran etwas ändern. Ihr habt in den Grundschulen die Zensuren abgeschafft, weil dieses zugegebenermaßen sehr starre Schema keine differenzierte Beschreibung des Leistungsstands eines Kindes zulässt. Aber damit nicht genug: Um den zarten Kinderseelen jedes Leid zu ersparen, habt ihr die Unsitte der Arbeitswelt übernommen, dass in Zeugnissen nur positive Aussagen zu stehen haben. Statt also zu schreiben, dass der kleine Lukas-Maximilian ein unausstehlicher Drecksbalg mit dem IQ eines Feldwegs ist, der dringendst seinen faulen Hintern in Bewegung setzen muss, wenn er in seinem Leben mal mehr werden will als Briefbeschwerer oder Türstopper, steht in den Zeugnissen irgendein Geschwurbel von "beim Addieren von Zahlen musst du dich noch ein wenig mehr bemühen und vielleicht noch seltener deine Klassenkameraden vom Lernen abhalten". Ihr habt die Rechtschreibung abgeschafd wail ez di Grehatiwited pehinterrt wänn Mann dole Seze schraipd unnt ter Lerä turch klainkahrihrtäs kohrrigihrän tehn gansn Schpahz ferrtirpd. Ja, ihr schiebt damit den Moment der ersten Niederlage erfolgreich um ein paar Jahre hinaus, aber zum Ausgleich wird der erste große Schlag eure Kinder umso härter und umso schlechter vorbereitet treffen. Wenn eure Tochter schon bei den Bundesjugendspielen weint, wie soll es ihr erst ergehen, wenn etwas von wirklicher Relevanz passiert? Wie schon gesagt: Schafft diese idiotischen Zwangssportwettbewerbe als Relikt vergangener Epochen ab, aber nicht mit der Begründung, Kinder verkrafteten es seelisch nicht, auch mal zu verlieren.

Jetzt zum stilistisch etwas gesetzteren Teil. Warum wettere ich so vehement gegen Sport und nicht gegen Physik, Deutsch oder Mathe? Platt gesagt: Weil es da bei mir immer wenigstens für befriedigende Zensuren gelangt hat. Das heißt nicht, dass ich statt der Bundesjugendspiele die Leute zwangsweise zur Matheolympiade anmelden möchte, das heißt nur, dass ich von der anderen Hälfte der von mir eingangs genannten Schulfächer wenigstens grob einsehe, wozu man sie brauchen kann. Selbst bei Latein, einem Fach, das ich gehasst habe und in dem ich miserabel war, kann ich verstehen, dass die dort vermittelten Vokabeln und Grammatikkenntnisse irgendeinen Nutzen haben. Ob man den gleichen Effekt nicht auch mit einer anderen Sprache und weniger militärischem Drill erzielen kann, lasse ich offen, aber ich merke bis heute, wie ich immer wieder auf dieses Wissen zurückgreife.

Das geht mir so. Andere mögen es komplett anders sehen. Deren Leben kommt wahrscheinlich komplett ohne Physik und Mathe, dafür aber mit Erdkunde, Kunst und vielleicht auch Sport aus. Das Dumme an allgemeinbildenen  Schulen ist nun einmal, dass sie unterschiedslos alle Leute in den gleichen Kanon zwingen, egal, wo nun ihre wirklichen Talente liegen, und es ist nur zu natürlich, dass ein Mathegenie in Geschichte völlig untergeht. Trotzdem ist es sinnvoll, beide Fächer besucht zu haben, allein schon, um allen wirtschaftlichen Anforderungen zum Trotz Spezialisierung und Fachidiotentum nicht schon zu früh zu fördern. Für eine Programmiererin reicht es eigentlich aus, Mathe, Deutsch und Englisch zu können, aber genug Geschichtskenntnisse, um zu wissen, dass mit Hilfe von Hollerithmaschinen ein Völkermord in Europa durchgeführt wurde, wären in meinen Augen sinnvoll. Technik hat eben immer Konsequenzen, und "ich habe von all dem nichts gewusst und nur Befehle befolgt" wird als Ausrede nicht mehr anerkannt.

Es kann also nicht schaden, in jedes Fachgebiet einmal hineingeschnuppert zu haben. Selbst Sport ergibt so betrachtet noch irgendeinen Sinn. Statt Reck, Barren und diesen komischen Holzkästen hätte ich mir zwar viel lieber irgendetwas angetan, was auch nur ansatzweise Spaß bringt, aber das ärgert mich weniger. Es ärgert mich, dass man wegen Sport sitzen bleiben kann. Es ärgert mich, dass unser Schulsystem nicht mit der Tatsache klar kommt, dass es in bestimmten Fächern einfach hoffnungslose Fälle gibt. Natürlich muss ein möglichst breites Wissen oberstes Ziel bleiben, aber wenn sich herausstellt, dass jemand beispielsweise einen naturwissenschaftlichen Schwerpunkt hat und dafür in den Sprachen nie über Gestammel hinaus kommt, muss es doch möglich sein, sie unter der Bedingung, dass sie sich Sprachen wenigstens grob weiterhin anguckt, um nicht gänzlich den Anschluss zu verlieren, als Ausgleich in den Naturwissenschaften ordentlich zu fördern. Nein, das geht nicht. Wir schleifen die Leute lieber jahrelang mit, lassen sie mangelhafte und ungenügende Zensuren kassieren und möglicherweise sogar deswegen Klassen wiederholen, obwohl völlig klar ist, dass sie in ihren guten Fächern brillieren und es in ihren Schwachpunkten nie zu etwas bringen werden. Noch einmal: Zu frühe Spezialisierung sollte man vermeiden, aber wenn sie sich abzeichnet, sollte man die Augen davor nicht verschließen.

Und wenn ihr es dann noch hinbekommt, Sport endlich einmal interessant und nicht als verstaubte Militärübung zu gestalten, dürft ihr auch eure bekloppten Bundesjugendspiele behalten.

Sonntag, 14. Juni 2015

Demokratie als Quengelware

Die parlamentarische Sommerpause naht, die Zeit also, in der die Doofsten - und die Konkurrenz ist hart - die Chance ergreifen, sich in mangels echter Themen in ihre Richtung gereckte Journalistenmikrofone zu erbrechen. Normalerweise werden solche Leute von der Fraktionsführung schamhaft im Keller versteckt, aber auch die ist einmal im Urlaub, und dann kommen sie hervor, um die Schlagzeilen zu bevölkern. Selten geht es dabei um wirklich drängende Themen - natürlich nicht, es ist ja Sommerpause - aber dafür sind es traditionell Dinge, zu denen jeder, aber auch wirklich jeder eine Meinung hat, egal wie qualifiziert sie ist. So wie sich jeder für einen Bildungsexperten hält, weil er irgendwann einmal zur Schule gegangen ist, jeder "Voraussetzung" fälschlicherweise mit doppeltem "r" schreibt, aber über die Rechtschreibreform schwadroniert und sowieso weiß, wie die deutsche Nationalelf endlich einmal ordentlichen Fußball spielen könnte, hat auch jeder was zur niedrigen Wahlbeteiligung zu sagen, meist etwas der Art: "Sind doch eh alles die gleichen Idioten,"

Genau damit soll nun Schluss sein, zumindest wenn es nach dem Willen der Generalsekretärinnen der CDU, CSU, SPD, Grünen, Linkspartei und FDP geht. Sinkende Wahlbeteiligungen sind zwar nicht gerade ein neues Phänomen, genau genommen gibt es sie schon seit 43 Jahren, aber irgendwann muss man ja wohl einmal anfangen, warum also nicht jetzt?

Ein wenig verwunderlich ist es dennoch, dass nun plötzlich die etablierten Parteien Handlungsbedarf erkennen, zumal ihnen auf den ersten Blick egal sein kann, wie viele Leute wählen gehen. Das Wahlgesetz sieht keine Mindestbeteiligung vor, ab der eine Wahl erst gültig ist. Im Prinzip reicht es, wenn auch nur eine einzige gültige Stimme abgegeben wird, und das sollte sich wohl noch irgendwie arrangieren lassen. Die einzige Erklärung für das überraschende Interesse könnte vielleicht die Tatsache sein, dass mit niedriger Wahlbeteiligung auch die absolute Stimmenzahl sinkt, die nötig ist, um einen Sitz ins Parlament zu erringen. Das bescherte vor einigen Jahren den Piraten den Einzug in diverse Stadträte und Landtage und lässt heute die AfD Erfolge erzielen. Zwar haben sich die Piraten mit seifenopernhafter Theatralik selbst zerlegt, und auch die AfD scheint derzeit alles daran zu setzen, sich mit möglichst großem Trara ins politische Nichts zu verabschieden, aber die nächste Protestpartei bildet sich bestimmt gerade in irgendeinem Hinterzimmer. Das wiederum deutet darauf hin, dass der Wille, zur Wahl zu gehen, schon da ist. Man will nur nicht das Vorhandene wählen.

Umso bizarrer wirken die Ideen, die der Initiative gegen Wahlmüdigkeit einfallen: Erst- und Zweitstimme sollten in Kandidaten- und Parteistimme umbenannt werden. Klar, so stelle ich mir die Welt auch vor. Die Leute gehen ins Wahllokal, schauen auf den Stimmzettel, sagen: "Nee, also Erstimme, Zweitstimme klingt doof, da gehe ich lieber gar nicht erst wählen" und gehen unverrichteter Dinge wieder heim. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich wüsste nicht einmal, ob auf einem Stimmzettel überhaupt diese beiden Worte stehen.

Ebenfalls immer wieder gern in solchen Situationen hervorgezaubert wird die Forderung nach elektronischen Wahlen. Was ich vor über 6 Jahren schon schrieb, gilt auch heute noch: Frei, geheim, gleich und prüfbar lassen sich gleichzeitig nur sehr schwer - ich behaupte: gar nicht - elektronisch umsetzen.

Das Wählen für Deutsche im Ausland vereinfachen - sind inzwischen so viele geflohen, dass durch deren Stimmabgabe die Wahlbeteiligung schwindelerregende Höhen erreicht? Das Wahlrecht sei zu kompliziert - aber gleichzeitig rumjammern, mit einem einzigen Kreuzchen ließe sich der Wählerwille nicht vernünftig erfassen. Besonders krude: Stimmabgabe im Supermarkt, wahrscheinlich direkt neben der anderen Quengelware an der Kasse. Zwei Tüten Milch, ein Kilo Mehl, zehn Eier, ach ja, und einmal CDU, dafür reicht das Geld noch.

Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Man kann Bellos Hundehaufen nicht dadurch den Leuten als Mousse au Chocolat andrehen, indem man mehr davon hinstellt oder weniger Geld dafür verlangt oder direkt ins Haus liefert oder ein Papierschirmchen reinsteckt. Wer wirklich will, dass sich mehr Menschen am demokratischen Willensbildungsprozess beteiligen, muss schon etwas mehr unternehmen, als alle vier Jahre mit riesigem Tamtam Blankovollmachten für die kommende Legislaturperiode einzuwerben und sich dann wieder in seine parlamentarische Trutzburg zurückzuziehen, aus der man dann gelegentlich in Gesetzesform geronnene Abfälle herausschleudert. Wer eine vom Volk mitgestaltete Politik will, muss aufhören, für Geld auch das letzte Fitzelchen Anstand sausen zu lassen, muss aufhören, das eigene Volk als ständige Gefahr zu sehen, der nur mit den Mitteln des Überwachungsstaats beizukommen ist. Wer eine lebendige Demokratie will, muss aufhören, in jeder neu aufkommenden Partei eine Gefahr für die eigenen Pfründe zu sehen und geht vor allem nicht Große Koalitionen ein, die mit 80 Prozent Sitzanteil im Bundestag eine deutlich größere Gefahr für Verfassung und Grundrechte darstellen, als irgendwelche radikalen Protestparteien es je könnten.

Schließlich bleibt noch ein Faktor übrig, den wir bisher als eher passives Element vernachlässigt haben: Das Volk selbst. Leute, immer nur mimimi aber dann doch wieder die Einheitsfront CDU-SPD und für die ganz mutigen Prenzelbergmuttis ein bisschen Grün wählen reicht eben nicht. Wenn euch eine Partei ärgert, tretet ein und ändert was, und wenn in dieser Partei nur Idioten herumschwirren, dann gründet eine neue, und wenn auch da nur Idioten auftauchen, dann gründet eine Initiative, eine Lobbyorganisation, was auch immer. Ich gehöre schon seit Jahrzehnten keiner Partei an, und dennoch haben die von mir unterstützen Organisationen es geschafft, mindestens drei verfassungswidrige Gesetze zu kippen. Es gibt weit mehr Möglichkeiten, ein Land zu gestalten, als alle vier Jahre die gleiche Partei zu wählen.

Donnerstag, 4. Juni 2015

Das Volk braucht seinen Fußabtreter

Wir hassen die GdL nicht dafür, dass sie streikt, sondern dafür, dass sie es kann

Ich stehe am Bahnhof meiner Provinzhauptstadt, es ist noch nicht einmal Mitternacht, aber dank des nicht vorhandenen Services der Bahn habe ich jetzt eineinhalb Stunden vor mir, bis der nächste Zug mich weiter Richtung Heimat bringt. Nicht einmal den Fahrpreis kann ich mir erstatten lassen, weil er unter die Bagatellgrenze fällt. Ich fahre eigentlich sehr gern mit der Bahn, aber in solchen Momenten platze ich vor Wut. Mich eineinhalb Stunden hängen lassen, dafür Geld verlangen und zur Krönung des Ganzen auch noch streiken, damit dieser Drecksladen künftig noch weniger Leistung für noch mehr Geld anbietet - Leute, ihr habt den Anus so weit offen, dass ein ICE da quer ohne anzustoßen reinpasst.

So, und jetzt kommen wir mal wieder runter und sehen die Sache nüchterner. Die GdL wird derzeit landesweit als die Verkörperung des Hals-nicht-voll-Bekommens verkauft - kein Wunder: Über die Bahn schimpft sowieso jeder, und wenn sich nicht nur verspätet, sondern gleich ganz weg bleibt, bestätigt das nicht nur die Vorurteile, man hat darüber hinaus auch keine Möglichkeit zur Gegenwehr. Ein paar tausend Leute streiken, und ein ganzes Land steht Kopf.

Es gibt nur wenige Berufsgruppen, die so etwas überhaupt noch können. Nehmen wir die Mitarbeiterinnen der Kindertagesstätten, von deren Arbeit wörtlich die Zukunft dieses Landes abhängt. Natürlich beeinflusst deren Streik massiv das Leben der Eltern, deren Kinder betreut werden sollen, aber jetzt schauen wir mal in die Zeitung: Das sind nicht mehr so viele. So wichtig ihre Arbeit sein mag - sie betrifft eine ständig kleiner werdende Gruppe.

Noch entscheidender ist die Arbeit des Klinikpersonals. Wenn diese Leute streiken, sterben Menschen. Das ist auch genau der Grund, warum Streiks auf diesem Gebiet so harmlos sind und sich bisweilen über Monate hinziehen. Keine Krankenschwester ließe es zu, dass für ihre materiellen Forderungen jemand körperlichen Schaden nähme. Entsprechend wird bei Klinikstreiks immer eine Notversorgung aufrecht erhalten, und da die sich nicht großartig von der normalen Versorgung unterscheidet, der Grund übrigens, warum gestreikt wird, ändert sich nichts.

Wenn, wie abzusehen, die Briefträger streiken, dann bleiben die Briefe eben ein paar Tage liegen. Alles Dringende klärt man zur Not am Telefon, per E-Mail oder ganz klassisch per Fax. Die Zeiten, in denen der Briefverkehr eine entscheidende Infrastrukturkomponente darstellte, sind vielleicht noch nicht ganz vorbei, neigen sich aber sehr deutlich dem Ende zu.

Infrastruktur, damit wäre das Stichwort gefallen. Man mag ja vom Staatsdienst halten was man will, aber eine entscheidende Eigenschaft hat er: Er darf nicht streiken. Somit bleiben bestimmte Grundfunktionen immer erhalten. Polizei und Militär werden arbeiten, Strom und Wasser - halt, das stimmt nicht mehr. Zur Aufhübschung der Haushaltsbilanzen privatisiert die öffentliche Hand zunehmend Dienstleistungen, die einst ihre zentrale Aufgabe darstellten. Post und Telekom arbeiten seit Jahrzehnten privatwirtschaftlich. Nun kann man beim besten Willen nicht behaupten, dass die Deutsche Bundespost zu den High-Performern gehörte, aber dafür gab es an jeder Straßenecke einen Briefkasten, alle paar hundert Meter eine Postfiliale, und wenn man irgendwo im Nichts ein Grundstück mit einer postalischen Adresse hatte, konnte man sich für einen Spottpreis dorthin ein Telefonkabel legen lassen. Versuchen Sie das Gleiche heute und weinen Sie beim Kostenvoranschlag der Tiefbaufirma.

Staatsunternehmen boten mitunter lausigen Service, aber sie boten ihn wenigstens. So etwas wie einen Bahnstreik hätte es zur Zeit der Deutschen Bundesbahn nicht geben können, und genau hier liegt die Macht der Lokführer: Ihre Dienstleistung ist so zentral, dass sie mit ein paar Leuten eine der führenden Industrienationen entscheidend lähmen können, aber sie ist nicht so zentral, dass ohne sie jemand stirbt. Ein Streik schmerzt, bricht aber niemandem das Genick. Ich behaupte, das ist der Grund, warum wir so entnervt reagieren: Das wollen wir auch können.

"Alle Räder stehen still / wenn dein starker Arm es will" heißt es im "Bundeslied", und zur Zeit der ersten industriellen Revolution stimmte das sogar noch. Heute sind Betriebsabläufe so weit automatisiert, dass kaum noch eine Berufsgruppe mit einem Streik ernsthaft Aufsehen erregen kann, und selbst dieses Mittel soll immer mehr entschärft werden. Federführend ist hier ausgerechnet die SPD.

Die SPD, wir erinnern uns, hervorgegangen aus dem allgemeinen deutschen Arbeiterverein, tief verwurzelt in der Arbeiterbewegung, seit jeher gewerkschaftsnah, ausgerechnet diese Partei bringt ein Gesetz zur Tarifeinheit auf den Weg. Das klingt zunächst einmal harmlos. Alle sollen den gleichen Lohn bekommen, egal, welcher Gewerkschaft sie angehören. Das ist doch etwas Schönes. Wie man's nimmt. Umgekehrt heißt das nämlich auch, dass große Gewerkschaften mit ihren Tarifabschlüssen die kleineren Gewerkschaften übersteuern, was faktisch einem Verbot von Kleingewerkschaften wie der GdL gleichkommt. Nun muß man die GdL nicht unbedingt mögen, um dennoch einzugestehen, dass die sich wenigstens in den letzten Jahren für ihre Mitglieder mächtig ins Zeug gelegt hat. Wissen Sie, wie die deutlich größere Eisenbahnergewerkschaft des DGB heißt? Na? Könnte das vielleicht daran liegen, dass die EVG mit der Unternehmensführung eher auf Kuschelkurs ist?

Genau da scheint mir nämlich der Kern zu liegen: Die SPD war eigentlich nie gewerkschaftsnah, sondern DGB-nah. Der DGB wiederum, ein etwas in die Jahre gekommener Moloch aus Großgewerkschaften wie der IG Metall (knapp 2,3 Millionen Mitglieder) oder ver.di (2 Millionen Mitglieder) schwingt zwar jedes Jahr brav am 1. Mai kämpferische Reden, aber in den Tarifverhandlungen gibt man sich eher handzahm. In Krisenzeiten war es zwar tatsächlich eine gute Taktik, mit Rücksicht auf Arbeitsplatzssicherung Nullrunden zu akzeptieren, aber jetzt, da es der Wirtschaft wieder deutlich besser geht, weiterhin Abschlüsse unterhalb des Inflationsausgleichs auszuhandeln, deutet nicht gerade darauf hin, dass man es mit der Wahrnehmung von Arbeitnehmerinteressen besonders ernst nimmt.

In diese traute Kungelei mit der Betriebsführung passen Krawallbrüder wie die von der GdL natürlich nicht hinein, weswegen SPD-Mitglied Sigmar Gabriel auch munter auf sie eindreschen darf, ohne dafür von seiner Partei zusammengestaucht zu werden. Warten Sie mal den nächsten Streik einer DGB-Gewerkschaft ab - so er denn jemals stattfinden sollte. Ich wette, da wird sich der Herr Wirtschaftsminister deutlich zurückhaltender äußern.

Nein, der Lokführerstreik ist kein Spaß, und seine Auswirkungen treffen vor allem diejenigen, die sich kein eigenes Auto leisten können, tendenziell also eher die niedrigen Einkommensgruppen. Mir wäre es lieb, wenn andere Leute, die in diesem Land echte Drecksarbeit leisten und dafür mit einem Hungerlohn abgespeist werden, ähnlich wirkungsvoll auf den Putz hauen könnten, aber dass sie es nicht können, ist nicht die Schuld der Lokführer. Statt sich also darüber zu mokieren, dass es Menschen gibt, die ihr Grundrecht auf Streik wahrnehmen, sollten wir lieber froh sein, dass es Menschen gibt, die das überhaupt noch können.