Dienstag, 2. September 2014

Hey, super, wir haben ein Aktionsbündnis!

Ehemals verehrte Netzbewegung,

offenbar muss ich hier mal den Lobo spielen und ranten:

Seid ihr jetzt komplett durchgeknallt?

Euch rennen die Leute weg, jedes Hinterwäldlerdorf bekommt auf dem jährlichen Schützenfest mehr Zulauf als Ihr auf Eurer heißgeliebten FsA, und das Einzige, was Euch dazu einfällt ist - noch ein weiteres Aktionsbündnis? Diesmal aber so richtig übergreifend? Mit noch einer Mailingliste? Habt Ihr sie noch alle?

Glaubt Ihr ernsthaft, diesmal gelänge er, der ganz große Wurf? Glaubt Ihr wirklich, das Einzige, was Euch fehlt, wäre die eine, große Dachorganisation, die alles zusammen hält? Ihr seid doch genau die Typen, die inzwischen fast im Minutentakt den nächsten Hype lostreten, nur um ihn sofort darauf wieder zu zerreden: Der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung - einst mit 34.000 Unterschriften eine Verfassungsklage erfolgreich durchführend, dazu eine von 1.500 Menschen abonnierte Mailingliste, inzwischen bundesweit vielleicht noch 100 Aktive. Die Piratenpartei - raketenhafter Aufstieg, inzwischen abgesehen von ein paar intellektuellen Totalversagern, die sich ihre Privatfehde auf Twitter liefen, komplett bedeutungslos. Anonymous - erst bejubelt als nicht greifbare Heroen, jetzt ignoriert, weil zu verspielt. Occupy - anfangs hipper Aufschrei derer, die nichts mehr zu verlieren haben, heute in die Esoterikecke abgeschoben. Wikileaks und Julian Assange - einst heroischer Retter der Freiheit, jetzt total ibäh, weil in Schweden gegen ihn wegen Vergewaltigungsverdachts ermittelt wird. Bradley Manning - heißt jetzt Chelsea, aber so richtig interessiert sich auch keiner mehr für sie, seit sie nach monatelanger Folter für die nächsten Jahrzehnte weggesperrt wurde. Frei herum läuft noch Edward Snowden, und ich wette, irgendwas fällt Euch zu dem auch noch ein, warum der total uncool ist. Seht mal nach, wahrscheinlich gendert er nicht korrekt. #stopwatchingus und jetzt auch noch #wastun, ganz Web 2.0 mit Hashtag vorne weg, da steht Ihr drauf. In immer kürzeren Abständen gründet irgendwer von Euch seinen eigenen Baumhausklub, viel baumhausiger, viel klubbiger als die anderen und vor allem: der eigene. Mit eigenem Blog, eigenem Wiki, eigenem CMS, eigenem Forum, eigener Mailingliste, eigenem Twitteraccount, eigenem Chatserver - lauter Zeugs, was man immer schon mal aufsetzen wollte und wofür jetzt endlich die Ausrede da ist, damit etwas herumzuspielen. Ob es das Ganze vielleicht schon gibt, nur unter anderem Namen? Egal, kann nur doof sein, ist ja nicht das eigene Baumhaus, auf das man so furchtbar stolz ist. Die sollen gefälligst alle herkommen.

Zur letzten "Freiheit statt Angst" haben 80 Organisationen aufgerufen, und wenn ich mir die Liste ansehe, beschleicht mich wieder dieses Baumhausklubgefühl. Habt Ihr Euch, bevor Ihr Euch von der nahe gelegenen Baustelle Bretter und Nägel zusammengemaust hattet, auch nur eine Sekunde mit der Frage beschäftigt, ob es da nicht etwas gibt, wo Ihr, wenn Ihr aus Eurem entsetzlich aufgeblasenen Ego nur ein paar Liter heiße Luft abließet, ganz fantastisch unterkämt? Da fällt mir zuerst digitalcourage ein, ehemals der FoebuD (oder wie die sich auch immer geschrieben haben). Die gibt es seit über drei Jahrzehnten, die füttern inzwischen mit ihrer Infrastruktur die halbe Netzbewegung durch, aber statt dass Ihr diese Tatsache in irgendeiner Weise honoriert, den Verein mit Spenden zuschüttet oder vielleicht sogar Mitglied werdet, memmt Ihr herum, dass Ihr padeluun nicht leiden könnt. Digitale Gesellschaft ist Euch zu Beckedahl, der Chaos Computer Club zu technisch. Die Deutsche Vereinigung für Datenschutz kennen die meisten von Euch wahrscheinlich nicht einmal, geschweige denn die Humanistische Union oder das Forum Informatikerinnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung. Die meisten dieser Organisationen gab es schon, bevor Eure Eltern sich kennenlernten. Jede von ihnen wäre es wert, als möglicher Dachverband wenigstens einmal in Augenschein genommen zu werden - aber nein, Ihr müsst ja unbedingt das Rad immer wieder neu erfinden und dabei ein Getöse veranstalten, als sei Euch der Messias persönlich erschienen. Ach nein, der seid Ihr ja selbst.

So funktioniert die Sache aber nicht. Aktivismus heißt vor allem auch öffentliche Aufmerksamkeit, und die bekommt Ihr nicht auf Euren lächerlichen Mailinglisten oder in Eurer Twitterblase, sondern in den großen Medien, Zeitungen, Fernsehen, Tages- und Wochenzeitungen. Iih, wie Old School, gar nicht so trendy und hip wie Ihr. Ja, dafür aber wahrgenommen, und zwar von dem Millionenheer, das unsere Parlamente wählt. Die Journalisten, die für diese Massenmedien arbeiten, wühlen nicht jeden Tag stundenlang in Blogposts herum, ob da wieder irgendein tolles Minibündnis entstanden ist. Nein, die schauen in ihr Adressbuch und fragen zuerst bei denen nach, die da seit Jahren als zuverlässige Quellen stehen, vor allem bei digitalcourage und dem CCC.

Was Ihr da veranstaltet, hat bereits vor 35 Jahren Monty Python verspottet: die judäische Volksfront, die Volksfront von Judäa, die populäre Front - lauter unbedeutende Kleinsthäufchen, die jede Menge vor Selbstverliebtheit strotzende Erklärungen in ihre kleine Welt hinaus posaunen, draußen in der wahren Welt allerdings ohne jede auch noch so marginale Relevanz bleiben. Wäre ich Euer politischer Gegner, ich vollführte Freudentänze. So stelle ich mir eine harmlose Opposition vor.

Ein Blog mit Wiki und dem ganzen anderen Technikspielkram bekommt inzwischen jeder aufgesetzt, der weiß, wo bei einer Maus vorne und hinten ist. Was wirklich Zeit kostet, sind ein paar Grundsatzdebatten, die Ihr führen müsst und führen werdet - wenn nicht jetzt, dann irgendwann später, wenn ihr es noch weniger gebrauchen könnt. Es gibt da ein paar Klassiker, aber um Euch nicht den Spaß zu verderben, nenne ich nur zwei: "Wie trifft man in einer bundesweit verstreuten Gruppe möglichst schnell und unkompliziert Entscheidungen?" und: "Wollen wir auf Facebook?" Natürlich gibt es dazu schon längst Antworten - schlechte Antworten aber pragmatische. Ihr könntet Euch den Ärger ersparen, aber Ihr müsst anscheinend immer wieder auf die Herdplatte fassen, um zu sehen, ob man sich weiterhin an ihr die Finger verbrennt.

Worin mein Gegenvorschlag besteht? Denkt ausnahmsweise mal nach, bevor Ihr in blindem Aktionismus losrennt. Geht davon aus, dass die vermeintlich wahnsinnig neue Idee, die gerade in Eurem Kopf herumspukt, vorher schon in hunderten anderer, im Zweifelsfall deutlich intelligenterer Köpfe herumspukte und möglicherweise schon irgendwelche realen Auswirkungen hatte. Lernt endlich, dass Relevanz auch von Größe kommen kann, und dass Ihr bedeutend bessere Chancen habt, wahrgenommen zu werden, wenn hinter Euch hunderte oder tausende Menschen stehen statt nur die paar kaputten Typen aus Eurer wöchentlichen Kneipenhinterzimmerrunde. Nehmt zur Kenntnis, dass mit jedem neuen Mitglied zwar die Relevanz Eurer Organisation steigt, aber gleichzeitig auch die Wahrscheinlichkeit zunimmt, dass Meinungsdifferenzen auftreten und man miteinander reden muss, statt gleich wieder davon zu rennen und die nächste Kleinstgruppe zu gründen. Begreift, dass ein durchgesetzter Kompromiss in den meisten Fällen viel mehr wert ist als ein nie erreichtes Ideal.

Oder kurz: Werdet endlich erwachsen.

Hochachtungslos

die Publikumsbeschimpfung

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