Donnerstag, 1. Mai 2014

Iterativer Aktionismus

#StopWatchingUs ist der neue Stern am Himmel des Bürgerrechtsaktivismus. Wer seiner Wut über den NSA-Skandal Ausdruck verleihen, wer für Snowden und gegen den Überwachungsstaat auf die Straße gehen möchte, findet bei dieser seit knapp einem Jahr existierenden Initiative begeisterte Mitstreiterinnen. Die Netzbewegung lebt, sie hat regen Zulauf, alles ist bestens, oder etwa nicht? Wie man's nimmt. Die Zahl der Aktiven nimmt nämlich insgesamt nicht zu, vor allem aber kommt die Bewegung nicht besonders voran und beschäftigt sich zum Großteil damit, sich ständig neu zu erfinden.

Was haben wir nicht alles: den AK Vorrat, den AK Zensur, den AK Zensus, Freiheitsfoo, die digitale Gesellschaft, D64, die Piratenpartei, Digitalcourage, anonymous und jetzt als neuestes Familienmitglied StopWatchingUs. Nimmt man die ganzen Organisationen aus, die sich eine Struktur im Sinne des Vereins- oder Parteienrechts gegeben haben und damit eine andere Art der Mitgliedschaft und des Mitwirkens ansteuern, bleibt ein buntes Sammelsurium diverser Klein- und Kleinstgruppen, die sich innerhalb des Nischenthemas Netzpolitik und digitale Bürgerrechte mit einem Unternischenthema beschäftigen. Monty Python hätte es mit der judäischen Volksfront und der Volksfront von Judäa nicht noch wilder karikieren können. Alle diese Gruppen verfolgen im Wesentlichen die gleichen Ziele, aber statt sich zusammenzuschließen, wurschtelt jede für sich, weil irgendwelche Schlüsselpersonen nicht miteinander können. Das hindert die anderen Aktiven nicht daran, in gleich mehreren dieser Gruppen gleichzeitig zu arbeiten. Wenn zwei oder drei im Namen der Freiheit beisammen sind, kann es gut sein, dass formal vier bis sechs Organisationen sich treffen. Das sieht auf dem Papier beeindruckend aus, tatsächlich aber zeigt es, wie zerfasert die Bewegung ist.

StopWatchingUs erhebt nicht eine Forderung, die nicht von den anderen bereits existierenden Gruppen sofort geteilt wird. Warum hat der ohnehin schon kaum durchschaubare Teilchenzoo dann noch weiteren Zuwachs bekommen? Meine These lautet: weil die StopWatchingUs-Aktivistinnen gar nicht wussten, dass es diese ganzen Organisationen überhaupt gibt, und selbst wenn sie es gewusst hätten, behaupte ich, hätten sie lieber schnell ihre eigene Struktur aufgezogen, als sich erst mühsam in die bereits bestehenden Strukturen einzupassen.

Auf der einen Seite ist das gut. StopWatchingUs schleppt keine Altlasten mit sich herum, keine Regeln und Gepflogenheiten, die sich irgendwann vor Jahren einmal eingeschliffen haben und heute vor allem deswegen noch gelebt werden, weil niemand alles umkrempeln will. Die Gruppe ist deswegen schnell, frisch und spontan. Auf der anderen Seite durchlebt StopWatchingUs gerade die Geburtsschmerzen, welche die Anderen schon seit Jahren hinter sich haben. Wieder einmal fängt man ganz von vorn an, ohne Geld, ohne Infrastruktur, ohne eingespieltes Team. Wieder einmal treibt irgendwer irgendwo irgendeinen unausgelasteten Server auf, der in einer Nacht-und-Nebel-Aktion eine eigene Mailingliste, ein Wiki, ein CMS und einen Chat verpasst bekommt - schnell installiert, undokumentiert und mit Mühe und Not überhaupt ans Laufen bekommen. Wieder einmal werden die gleichen Grundsatzfragen in wochenlangen Mailinglistenthreads durchgekaut – Fragen über die man sich schon etliche Male die Köpfe heiß geredet hat. Meist fand man eine Lösung. Gelegentlich stellte sich aber auch heraus, dass es für bestimmte Fragen keine konsensfähige Antwort gibt, ja sogar wahrscheinlich nicht geben kann. Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, kann die politische Ebene schnell auch einige Wochen zum Erliegen kommen.

Die Tatsache, dass wir offenbar wieder einmal das Rad neu erfinden zu müssen meinen, ist aus meiner Sicht weniger ein Fehler der neu Hinzugekommenen. Es ist vielmehr ein Scheitern der alten Strukturen, überhaupt erst einmal für die Öffentlichkeit sichtbar in Erscheinung zu treten und dann eben nicht wie ein in die Jahre gekommener Moloch sondern wie ein attraktives Mitwirkungsangebot mit niedriger Einstiegsschwelle zu wirken.

Es ist nicht so, dass ein regelmäßiges Infragestellen alter Gewohnheiten nicht auch seine Vorteile hätte. Nur weil etwas bereits existiert, muss es nicht automatisch gut sein. Trotzdem gibt es bestimmte Fragen, die ich im Laufe der Jahre für mich geklärt und keine Lust habe, sie immer wieder durchzudiskutieren. Wenn Leute Stunden mit der Frage verschwenden, ob sie am liebsten mit IRC, Mail, Forum, Wiki, Etherpad, Jabber oder $FANCY_NEW_TOOL arbeiten wollen und unter welcher Lizenz die benutzte Software am besten stehen soll, sinkt mein Interesse am entsprechenden Projekt schlagartig auf Null. Wenn eine Gruppe in die Situation gerät, auch nur mehr als 15 Minuten disktutieren zu müssen, warum man sich wie gegen wen abgrenzt, kann ich nicht mehr glauben, dass sie sich ernsthaft für ihr nominelles Kernanliegen interessiert. Vor allem aber: Es gibt bei diesen Fragen nicht viel Neues. Die Argumente sind seit Jahren fast gleich geblieben, und sie gewinnen nicht dadurch an Wert, dass man sie ständig wiederholt. Es gibt Leute, die alles nach Erfindung der Lochkarte als neumodisches Teufelszeug ansehen, und sie werden sich nie mit denjenigen einigen, die jedes Tool, dessen Code ohne Fatal-Error-Meldung compiliert, sofort produktiv einsetzen. Jede noch so gute Idee zieht zwangsläufig einen Bodensatz von Idioten an, und wer nicht automatisch ein Gefühl entwickelt, mit wem man am besten nicht redet, dem werden auch noch so viele Policies nicht helfen.

Policies sind ohnehin ein untrügliches Indiz dafür, dass bei einer Initiative die Deppen das Steuer übernommen und einen Kurswechsel in Richtung Abgrund beschlossen haben. Intelligente, kooperative Leute kommen praktisch ohne starres Regelwerk miteinander klar. Alle Anderen gieren nach Policies. Nichts ist besser geeignet, eine Gruppe mit endlosen Metadebatten zu lähmen, zumal keine Regel so eindeutig formuliert werden kann, dass sie sich nicht durch gezieltes Missverstehen in ihr komplettes Gegenteil verdrehen ließe. Ich habe erlebt, wie Mailinglisten allen Ernstes Policies zum Einführen neuer Policies diskutierten. Auf dem 29C3 haben erwachsene Menschen ohne Wimpernzucken eine Policy besprochen, die den CCC aus der Todesklammer des Sexismus befreien sollte. Für die von übermäßiger Hirnaktivität Verschonten unter uns: Überzeugungen und Gesetze schließen einander aus. Wenn ich von einer Idee überzeugt bin, brauche ich kein Gesetz. Bin ich es nicht, wird kein Gesetz dieses Planeten mich dazu bringen, auch nur einen Deut mehr als das Allernötigste zu unternehmen, um wenigstens formal der Anordnung Folge zu leisten. Oder kürzer: Überzeugungen lassen sich nicht verordnen.

So lebt die Netzbewegung seit Jahren in Zyklen: Eine Gruppe engagierter Leute startet mit viel Enthusiasmus eine Aktion, erringt einige Anfangserfolge, durchläuft dann aber eine Phase der Ernüchterung. In dieser Phase stellen sie fest, dass sie einige grundsätzliche Dinge klären müssen. Daraufhin springen bereits die ersten Leute gelangweilt ab. Der Rest zankt sich eine Weile, schafft es jedoch, sich zu konsolidieren und zu professionalisieren. Ab dann geht es in geregelten Bahnen weiter. Hin und wieder fliegen noch einmal die Fetzen, was auch dazu führen kann, dass einige der alten Kernaktiven genervt aussteigen und sich anderen Dingen zuwenden. Insgesamt bleibt es stabil, man könnte auch sagen: langweilig. Das ist der Punkt, an dem sich eine neue, engagierte Gruppe bildet, teilweise bestehend aus Ehemaligen, teilweise bestehend aus Neueinsteigern. Der Zyklus beginnt von vorn.

Wer sich in Kreislinien bewegt, kommt wenig voran, was im Fall der Netzbewegung bedeutet, dass sie kaum neue Ideen entwickelt. So lautet der Standardreflex auf die meisten Aufregerthema gern: “Demo”, gern auch eine “fette Demo”, und alle, ich wiederhole: alle müssen mitmachen. Egal, woran sie arbeiten. Für die heilige Demo muss alles Andere liegen bleiben. Online-Petitionen sind auch ganz besonders beliebt, immerhin liegen in derartigen Aktionen die Wurzeln des AK Vorrat und des AK Zensur. Dass inzwischen jede Facebook-Aktion über die Absetzung von Markus Lanz ähnliche Klickraten erzielt, gerät dabei schnell in Vergessenheit.

Die Netzbewegung hat in den vergangenen Jahren einige Erfolge verzeichnet: Aufhebung der Vorratsdatenspeicherung in Deutschland und auf europäischer Ebene, Verbot von Wahlcomputern in Deutschland, Aufhebung der Internetzensur in Deutschland, Stopp von ACTA, Verbot der Onlinedurchsuchung. Einige dieser Erfolge waren auch von Demonstrationen begleitet, die meisten aber errang die Netzbewegung, indem sie Gesetzesentwürfe studierte, in Parlamentsausschüssen Argumente lieferte, vor Gerichten Gutachterinnen aussagen ließ. Der anlasslose jährliche Auftrieb "Freiheit statt Angst" in Berlin hingegen blockiert über Monate alle anderen Aktivitäten, nur um am Ende eine umstrittene, möglichst hohe Zahl an Teilnehmerinnen zu vermelden, die Parolen schreiend einmal im Kreis gelaufen sind. Bringt man so parlamentarische Mehrheiten hinter sich?

Es geht mir jedoch nicht darum, Demonstrationen zu verdammen, die als identitätsstiftende Aktion durchaus ihren Sinn haben. Es geht mir darum, dass die Netzbewegung Kontinuität zeigt und nicht ständig wie ein Phoenix neu der Asche entsteigt, um unter neuem Namen die alten Fehler zu begehen. Die alten Verbände mögen optisch und habituell in die Jahre gekommen sein, aber sie haben drei Vorteile: Sie haben eine Marke, sie haben eine Infrastruktur und sie haben einige schmerzhafte Prozesse bereits durchlaufen. Sie wissen, wie man mit Trollen umgeht, ob wie und wann man sich von wem abgrenzt und wie man einigermaßen flüssig zu einer Entscheidung kommt. Sie mögen etwas träge wirken, aber oft ist die Trägheit nur ein Zeichen, dass man seine Kräfte einzuteilen gelernt hat und nicht jeden Aufmerksamkeitshype in epischer Breite diskutieren zu müssen meint.

Wir haben zu oft bei Null angefangen.

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