Sonntag, 25. Mai 2014

Obsolete Dreckstechnik Teil 5: E-Mail

Wenn mir eine gute Fee erschiene und sagte: "Mädel, du hast einen Wunsch frei, überleg dir gut..." Ok, ich weiß schon. Befreie die Welt von diesem E-Mail-Schwachsinn!

E-Mail ist eine Technik, die je nach Rechenweise 20, 30 oder 40 Jahre auf dem Buckel hat. Auf jeden Fall stammt sie aus einer Zeit, in der Computer noch einander vertrauen konnten und in der man notfalls ins Nachbarbüro sprinten oder anrufen konnte, um wirklich wichtige Dinge zu klären.

Die Zeiten haben sich geändert, die hinter der E-Mail stehende Technik hingegen kaum. Das hat allerdings die Leute nicht daran gehindert, Mail als eierlegende Wollmichsau zu missbrauchen und Sachen damit anzustellen, für die das Medium die konzipiert war:


  • HTML-Mails ermöglichen es, lustige bunte Bildchen und alle auf einem System installierten Zeichensätze in eine Mail einzubinden, ohne dass der Informationsgehalt dadurch nennenswert stiege. Dafür hat man sich eine herrliche Hintertür für Schadsoftware geöffnet.
  • Verschlüsselungstechniken schaffen es wunderbar, den Inhalt einer Mail zu verschlüsseln, die Metadaten einschließlich der Betreffzeile hingegen nicht. Da Metadaten fast genau so viel über eine Kommunikation aussagen wie der eigentliche Inhalt, gibt es kaum Anwendungszwecke, in denen Verschlüsselung einen besonderen Sicherheitsgewinn bringt. Darüber hinaus gibt es mit PGP und S/MIME zwei konkurrierende und miteinander inkompatible Verschlüsselungsstandards, welche die Akzeptanz weiter senken.
  • Der weit überwiegende Teil des weltweiten Mailverkehrs ist Spam. Am Anfang des Jahrtausends stand E-Mail kurz vor dem Zusammenbruch, weil die Filterprogramme es einfach nicht schafften, Ordnung in den Postfächern zu halten. Inzwischen hat man die Spamflut wenigstens halbwegs im Griff. Dummerweise ist E-Mail dadurch auch ausgesprochen kompliziert in der Konfiguration geworden und läuft ständig Gefahr, harmlose Mails aufgrund irgendwelcher Anti-Spam-Regeln kommentarlos zu verwerfen. Das mag für Privatpersonen ärgerlich sein. Für Firmen kann es den Ruin bedeuten, wenn wichtige Geschäftskorrespondenz stillschweigend nicht ankommt.
  • E-Mail ist kein Dateitransferprotokoll und erst recht kein Ticketsystem. Dennoch wird es dazu benutzt. Irgendwelche Spaßvögel kommen immer wieder auf die Idee, Dateianhänge im mehrstelligen Megabytebereich zu verschicken. Mitunter haben sie keine andere Wahl, weil andere Wege des Datenaustauschs von ihrer hirnbefreiten Netzadministration gesperrt wurden. Das ändert nichts daran, dass E-Mail für diese Datenmengen nicht ausgelegt ist und bestenfalls schlecht als recht damit klarkommt. Ähnlich ist es mit Terminabsprachen, Adressdaten oder Aufgabenanfragen. Ja, ich weiß, es gibt mindestens ein Dutzend Lösungen dafür, aber genau da hängt es auch: Es gibt keinen verbindlichen Standard, sondern lauter inkompatible Nischenlösungen, und vor allem, wer schon einmal mit einem echten Ticketsystem gearbeitet hat, weiß, dass die komischen Aufgabenanfragen in Outlook allenfalls eine nette Konzeptstudie darstellen.
  • Selbst das simple Beantworten und Weiterleiten einer Mail stellt die meisten Menschen vor unüberwindbare intellektuelle Hürden. Wie oft bekomme ich Mails mit der Aufforderung: "Kannst du das bitte beantworten?", bei denen meine erste Frage lautet: Ja, was denn überhaupt? Dann sehe ich die Katastrophe: Bildschirmseiten über Bildschirmseiten rängeln sich gegenseitig zitierende und kommentierende Mails, mal mit oben, mal mit unten, mal mit mittendrin eingefügtem Text, da mal ein paar Brocken Deutsch, dort ein paar Zeilen grauenhaft schlechtes Englisch, zwischendrin noch einige Seiten Signaturen (dazu gleich noch). Erwartet der Vollidiot von Absender tatsächlich, dass ich mir den ganzen Quatsch durchlese?
  • Um das Medium gänzlich jeder Benutzbarkeit zu berauben, haben irgendwann die Juristen und Marketingschwachköpfe ihr Augenmerk darauf gerichtet. Besonders die Mailsignatur hat es ihnen angetan. Ursprünglich bestand ihr Sinn darin, neben der Mailadresse noch ein paar Kontaktinformationen unterzubringen - nichts, was man mit maximal vier Zeilen Text nicht erzählen könnte. Statt dessen bekomme ich jetzt Mails, die aus einer Zeile Text bestehen, erweitert um eine Signatur, die mich über sämtliche Firmendetails seit Gründung im Jahr 1837 unterrichtet, mich bittet, der Umwelt zuliebe diese Mail nicht auszudrucken und dann zu guter letzt anraunzt, ich hätte diese Mail gar nicht lesen dürfen, weil sie gar nicht für mich gar nicht bestimmt war, und ich hätte mich auf den Einfall eines SWAT-Teams einzustellen, weil der Absender zu doof war, sein Geseier an die richtigen Adressen zu schicken.
Viele der hier beschriebenen Unzulänglichkeiten ließen sich relativ einfach in den Griff bekommen. Gerade bei Abmahnanwälten sehe ich eigentlich kein Problem, das sich nicht mit einem Maschinengewehr, einigen hundert Schuss Munition und einer Viertelstunde Zeit lösen ließe, aber Aufrufe zur Gewalt sind hierzulande völlig zu recht nicht gern gesehen. Auch bei Leuten, die zu blöd sind, Mails ordentlich weiterzuleiten, sehe ich kein - aber lassen wir das. Tatsache ist: Mail hatte seine Zeit, aber inzwischen gibt es Etherpads, Wikis, Foren, Chat, Ticketsysteme - was weiß ich. Lauter Werkzeuge jedenfalls, mit denen eine Vielzahl der genannten Auswüchse korrigiert werden könnte. Das Dumme ist nur: Die funktionieren auch nicht.

Das heißt, für sich genommen funktionieren sie schon, aber der Austausch untereinander hakt immer wieder. Außerdem wollen die Meisten nicht zehn Tools gleichzeitig geöffnet haben, sondern optimalerweise wollen sie eine zentrale Benachrichtigungsstelle, die informiert, wenn irgendwo bei einem dieser Tools etwas erledigt werden muss. Das funktioniert - na, minderprächtig, und deswegen greifen die Leute weiterhin auf Mails zurück, obwohl es streng genommen Dreck ist.

Hoffentlich ändert sich bald daran etwas.

Pecuniam olet

So leid es mir tut, ich muss einen meiner persönlichen Superhelden mit Dreck beschmeißen:

Jake, so funktioniert das Spiel nicht.

Ich halte dich für eine der ganz großen Lichtgestalten der digitalen Bürgerrechtsszene. Du hast mit Tor ein Werkzeug geschaffen, das in weiten Teilen der Welt wenigstens so etwas Ähnliches wie freie Internetnutzung überhaupt erst ermöglicht. Du setzt Dich mit einer Kompromisslosigkeit für Menschenrechte ein, für die ich großen Respekt und Bewunderung empfinde. Was du aber beim Henri-Nannen-Preis anstellst, halte ich für ausgemachten Blödsinn.

Als Reich-Ranicki seinerzeit den Deutschen Fernsehpreis ablehnte, war das ja noch irgendwie ganz putzig. Da stand ein verwirrter alter Mann auf der Bühne, der offenbar zu dumm gewesen war, sich vorher über den Preis zu informieren, den er überreicht bekommen sollte. Was folgte, war ein peinliches Geschwafel, das den Bildungsonanierern des deutschen Feuilletons die Freudentränen in die Augen trieb: Endlich gibt's mal einem diesem Fernsehen, diesem Menetekel westlich-abendländischer Unkultur. Wussten wir doch, dass dieser Verblödungsapparat uns alle ins Verderben treibt, wie seinerzeit die Comics und die Jazzmusik. Die Frage, warum ihm diese ganzen Erkenntnisse erst auf der Bühne und nicht vorher gekommen waren, wagte kaum jemand zu stellen. So einer wie Reich-Ranicki, der liest Thomas Mann. Der verschwendet seine Zeit nicht damit, die Aufzeichnung der letzten Verleihung des Deutschen Fernsehpreises anzusehen.

Du, Jake, hingegen bist 31 - zu alt, um noch als pubertierender Teenie durchzugehen, zu jung, um Uninformiertheit mit Altersstarrsinn oder Verwirrtheit erklären zu können. Du hattest alle Möglichkeiten, nachzusehen, wer Henri Nannen war und ob du einen nach ihm benannten Preis entgegennehmen kannst. Bereits die Entscheidung, ihn abzulehnen, kann ich schon kaum nachvollziehen. Während des Dritten Reichs waren praktisch alle Deutschen Nazis. Die wenigen, die es nicht waren und es überlebten, haben in den seltensten Fällen noch einen Preis gestiftet. Bei der weit überwiegenden Mehrheit stellt sich die Frage, wie sie nach dem Krieg mit der Schuld, die sie zweifelsohne auf sich geladen haben, umgingen. Die meisten von ihnen logen sich irgendetwas in die Tasche, sie wären ja eigentlich alle im Widerstand gewesen. Henri Nannen hingegen hat sich wenigstens offensiv mit seiner Rolle auseinander gesetzt. Ob dir das ausreicht, musst du natürlich selbst entscheiden, aber du hättest es entscheiden können, bevor du den Preis annahmst.

Statt dessen hast du den Preis angenommen, dich nachträglich entschieden, das für einen Fehler zu halten, das Preisgeld aber dankend eingestrichen. Ja, gut, du willst es antifaschistischen Organisationen spenden, aber das ändert nichts daran, dass du die mit dem Preis verbundenen Annehmlichkeiten sehr wohl annimmst, von allem anderen aber nichts mehr wissen willst.

Jake, so funktioniert das Spiel aber nicht. Wenn es schmutziges Geld eines ehemaligen Nazipropagandisten ist, dann muss man den Mumm besitzen, es nicht anzunehmen. Was du gerade veranstaltest, ist ein peinliches Herumlavieren, das mich ein wenig an eine Horde Konfirmanden erinnert, die zwar herzlich gern von Verwandten und Freunden Geschenke einstreichen, aber den ganzen Firlefanz mit Taufe, Segen, Gottesdienst, Konfirmandenunterricht und Kirchenmitgliedschaft nicht haben wollen. Entweder hü oder hott - das gilt für 14-jährige Konfirmanden genau so wie für einen der größten lebenden Internetaktivisten.

Du warst schon so oft vorbildhaft und bis an die Schmerzgrenze konsequent. Bitte sei es auch diesmal.

Samstag, 24. Mai 2014

Obligatorische Dreckstechnik: Projektoren

Normalerweise rege ich mich über Technologien auf, die nicht funktionieren, und Zeit und Nerven kosten, aber aus unbegreiflichen Gründen nicht abgeschafft werden. Caps-Lock-Tasten zum Beispiel, Drucker, die SPD (wobei die SPD weniger eine Technologie als der gänzlich gescheiterte Versuch ist linke Ideen und deutsche Kleinstbürgerlichkeit zu kombinieren). Projektoren - oder "Biehmer", wie wir als anglophile Möchtegernfremdsprachenkenner gern sagen - hingegen gehören keineswegs abgeschafft. Sie gehören endlich so gebaut, dass sie funktionieren.

Kann es denn wirklich so schwer sein, in einen Computer das eine, in den Projektor das andere Ende eines Videokabels zu stecken, so dass Sekundenbruchteile später auf der Projektionsfläche die Bildschirmausgabe des Rechners erscheint? Offenbar ja, denn es gelingt nur selten, egal welches Computermodell, egal welches Betriebssystem, egal wie versiert die Referentin in Technik ist. Ich habe Billigst-Netbooks von Aldi klaglos mit Schundprojektoren funktionieren und Nobel-Macs an High-End-Geräten scheitern sehen. Umgekehrt natürlich auch. Ich habe gesehen, wie Elite-Hacker, die Signalverläufe notfalls mit dem angefeuchteten Zeigefinger an der Leitung analysieren, eine Viertelstunde lang vesuchten, ihr Thinkpad an irgendeinen massenweise angefertigten Standardprojektor anzuschließen und schließlich entnervt auf ein halb auseinanderfallendes Ersatzgerät zurückgriffen, das dann komischerweise funktionierte. Ich habe gesehen, wie komplettes Chaos ausbrach, nur weil die Rednerein zwischendurch das Kabel an eine andere Videoquelle angestöpselt hatte, um deren Ausgabe zu zeigen. Wir leben mitten im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. VGA und HDMI sind seit Jahren etablierte Standards. Ist es da zu viel verlangt, dass ich mich nicht mit einer kryptisch beschrifteten und zäh reagierenden Fernbedienung durch vier Menuebenen eines Projektormenus hangeln muss, damit das Drecksding endlich begreift, dass das am Videoeingang 1 liegende 1024*768 VGA-Signal ernst gemeint ist? Von den Höllenqualen, die man durchleiden muss, will man den Projektor als Zweitgerät ansprechen und auf dem Laptopmonitor eine andere Anzeige sehen, möchte ich gar nicht reden. Ich kann meine Vorträge zur Not auch auf einer umgedrehten Matekiste stehend auswendig halten, aber nicht, wenn direkt daneben Präsentationshardware im Wert mehrerer Monatsgehälter funktionsuntüchtig herumsteht.

Vor 20 Jahren habe ich vor meinem Pentium-1-Rechner sitzend noch Modlines zur Ansteuerung meines Monitors ausgerechnet. Inzwischen sind Computer um den Faktor 1000 leistungsstärker geworden. Sie können in Echtzeit Bilder berechnen, deren Qualität nah an einer Kameraaufnahme heranreicht. Schade eigentlich, dass wir sie uns nicht ansehen können, weil wir den Drecksprojektor nicht angeschlossen bekommen.

Freitag, 23. Mai 2014

Eddie, ich will ein Kind von dir!

Egal, welchem Ende des politischen Spektrums er angehört - wenn der Deutsche keinen Führer hat, fühlt er sich irgendwie leer. Da bildet die Netzbewegung keine Ausnahme. Edward Snowden heißt seit einem Jahr ihr Idol - so rein, so klar, so edel.

So edel, dass die sein Antlitz zeigenden Heiligenbildchen jetzt eine Millionen mal zu sehen sein sollen - auf Laternenpfählen, auf Hauswänden, auf Zugfenstern, eben überall dort, wo der politisch bewegte Aktivistenteenager sie dem unaufgeklärten Restvolk zwangsvorzuführen beschlossen hat. Ein Spießer, wer so etwas Sachbeschädigung nennt. Für die gerechte Sache hat das Gesetz zu schweigen.

Früher war es Julian Assange, dem unsere uneingeschränkte Verehrung galt, doch der ist bei uns unten durch, seit da diese ungeklärten Vergewaltigungsvorwürfe aus Schweden im Raum stehen. Ein Spießer, wer auf uralte Rechtsgrundsätze verweist, denen zufolge ein Angeklagter bis zu seiner Verurteilung als unschuldig zu gelten hat. Nein, schuldig ist nicht der, dem man es nachweist, sondern der, dem wir es zutrauen, und wenn sich jemand erst einmal so schwer befleckt hat, kann er unmöglich mit seiner Whistleblowingplattform Demokratie und Freiheit weltweit vorangebracht haben. Nein, Julian ist passé.

Edward hingegen ist super. So wie die westliche Welt die Jahre nach Geburt ihres Heilands zählt, so lautet die Zeitrechnung der Netzbewegung "im Jahr nach Snowden". Google liefert knapp viereinhalbtausend Treffer.

Ich will nicht die Leistung dieses Menschen schmälern. Snowden hat sehenden Auges sein komplettes Leben ruiniert, um der Welt die Schweinereien der Geheimdienste vorzuführen. Er muss jetzt in ständiger Sorge leben, in die USA ausgeliefert und dort wegen Hochverrats ermordet zu werden. Für das, was er getan hat und gerade auf sich nimmt, verdient er Respekt und Dank.

Was er nicht verdient, ist dieses lächerliche Fanboytum, das seit Monaten in der Bewegung vorherrscht. Keine Lebensäußerung, kein Detail seines Daseins, das nicht ausgiebigst durch sämtliche Social-Media-Kanäle getrieben wird. Ich weiß nicht, wie oft ich in den vergangenen Tagen die Meldung vorgesetzt bekam, Snowden hätte kurz vor seiner Flucht eine Cryptoparty veranstaltet. Ja und? Welche Aussage hat das? Bekommt die Cryptoparty, die innerhalb der Netzgemeinde ein leichtes Schmuddelimage hat, weil sie den Profis zu unprofessionell und den Politischen zu unpolitisch ist, damit den Ritterschlag digitalgesellschaftlicher Akzeptanz? Wenn selbst Super-Snowden an solchen Veranstaltungen teilnimmt, können die so schlecht nicht sein?

Was soll diese komplett hirnverbrannte Aktion mit den Millionen Aufklebern? Glaubt ihr, in diesem Land werden politische Entscheidungen neuerdings nicht mehr in Parlamenten, sondern auf Laternenmasten getroffen? Glaubt ihr wirklich, dass eine Handvoll hyperaktiver Netzbewohner, die in Köln mit viel guten Willen 500, in Hamburg bestenfalls 1200 Menschen auf die Straße bekommen, dadurch einen politischen Stimmungswechsel im Land erzeugen, dass sie Aufkleber auf Wände pappen? Wahrscheinlich stellt ihr euch vor, wie die Kanzlerin morgens aus dem Haus geht, an der Straßenlaterne so einen Aufkleber sieht und sich sagt: "Mensch, wenn das da steht, dann wird es wohl richtig sein. Schnell mal den Innenminister anrufen, dass der den Asylantrag unterschreibt."

Im Vergleich zur filterblaseninduzierten Traumwelt, in der Teile der Netzbewegung offenbar ihr Dasein fristen, kommt mir selbst die Disney-Verfilmung von "Alice in Wonderland" wie Dokumentarfernsehen vor. Abgesehen von der absoluten Öffentlichkeitsinkompatibilität solcher Aktionen bietet man auch noch überflüssigerweise eine verwundbare Flanke: Was passiert eigentlich, wenn es der Gegenpropaganda gelingt, irgendein dreckiges Detail aus Snowdens Privatleben herauszufinden? Lasst ihr den Mann dann auch so fallen, wie ihr Assange habt fallen lassen? Was braucht ihr, um euren Heiland ans Kreuz schlagen zu können? Eine antisemitische Äußerung? Unsittliche Annäherung an eine Minderjährige? Spenden von Nazis? Welchen Beweis soll ich für euch photoshoppen?

Unterstützt Snowden, er hat es verdient. Aber behaltet im Hinterkopf, dass auch er nur ein Mensch ist, dass er zwangsläufig Fehler haben muss und dass er nicht für euch die Welt retten wird. Das müsst ihr schon selbst erledigen.

Samstag, 10. Mai 2014

Antifaschistische Numerophobie

Reinwaschendes Ariel für reinrassige Arier? Laut Spiegel definitiv ja. Das weiße Pulver für braune Hemden.

Was war passiert? Procter & Gamble beherrscht Mathematik auf Grundschulniveau, was im Land der PISA-Verlierer, dessen ehemaliger Bundeskanzler damit kokettierte, schlecht in Mathematik zu sein, total faschistoid wirken muss. Wie kann man nur in der Lage sein, 83 und 5 korrekt zu addieren?

Das ergibt - na? OK, ich verrate es: 88. Und das ist sowas von nazi! Ach, was sage ich: naziquadrat!

Sie fragen, warum? Ach, Sie gehören wohl auch zu denen. Wie natürlich jeder weiß, ist "h" der achte Buchstabe im Alphabet, und demnach bedeutet "88", na?

Genau! "HH" - das Autokennzeichen der Nazihochburg an der Elbe! Sauerei! Überall Nazis! Auf unseren Waschmittelpackungen!

Sie verstehen immer noch nicht? Glauben Sie ernsthaft, ich fiele auf diese scheinheilige Nummer rein? Wie hat man sich denn damals zwischen 33 und 45 begrüßt? Na?

"Guten Tag"?

Was soll der Unfug? Nein, sondern mit "*eil... *it..."?

Endlich begriffen, na das hat aber gedauert.

Genau deswegen ist es natürlich praktisch wie ein Fackelzug durch Brandenburger Tor, diese Zahl auf eine Ariel-Verpackung zu drucken, angeblich, weil diese Nummer die Anzahl der Waschmaschinenladungen beschreibt, die mit einer Packung möglich sein soll. Zufall? Blödsinn.

Da wir gerade dabei sind, gibt es noch ein paar andere Zahlen, die man besser vermeiden sollte. Die "18" zum Beispiel, die nach der gleichen Logik die Initalien des Führers symbolisiert. Wer also hierzulande seinen 18. Geburtstag feiert, begeht damit also nur scheinbar die Feier seiner Volljährigkeit, sondern in Wirklichkeit einen braunen Kameradschaftsabend.

Ostern, die Auferstehungsfeier des christlichen Heilands, begingen die deutschen Christen (aha!) in diesem Jahr übrigens am 20.4. Jetzt schauen Sie mal in der Wikipedia nach, wer da seinen 125. Geburtstag feiert. Zufall? Wohl kaum.

Selbst die traditionell eher dem linken Spektrum zugerechneten Datenschutzaktivisten haben sich inzwischen dem braunen Mob angeschlossen. Jüngstes Beispiel eines vorgeblich für die Verteidigung von Freiheitsrechten (na, die Freiheit kennen wir ja) eintretenden Naziaufmarsches ist die #StopWatchingUs-Demonstration am 12. April in Köln. Da wurden sogar ganz offen Nazisymbole zur Schau getragen: Kraken.

Sie wissen nicht, was Kraken mit Nazis gemein haben? Heuchler. Es ist doch allgemein bekannt, dass die Nazis den Kraken benutzten, um die jüdische Weltumklammerung zu symbolisieren. Da ändert sich auch nichts, wenn dieses Motiv im Jahr 1917 gegen Preußen und 1877 gegen Russland verwendet wurde. Die Nazis sind der König Midas der Weltpolitik, nur das alles, was sie anfassen, auf der Stelle zu Nazis wird. Vom Krakenkreuz zum Hakenkreuz, so ist das.

Kein_e Hand_breit d_en Faschist*innen!


Donnerstag, 8. Mai 2014

Lobo langweilt

Lieber Sascha,

auf der re.publica '14 hast Du es uns mal wieder so richtig gegeben. Wir seien unorganisiert, sagtest Du, ach was: wir haben versagt. Puh, das trifft uns aber.

Neu ist diese Botschaft nicht. Du verkündest sie seit Jahren immer wieder auf der re:publica. Wir sind alle Idioten, wir haben's begriffen. Ohne Dich - wo wären wir da?

Wir wären auch nicht viel weiter. Ja, Du schreibst seit Monaten jede Woche sehr kluge und lesenswerte Artikel bei Spiegel Online. Auch Deine Bücher kann man ohne vorher reingelesen zu haben kaufen. Auch da stehen kluge Dinge drin. Vor allem: Wenn irgendwo eine Zeitung, ein Rundfunksender, eine Fernsehstation jemanden braucht, der ein paar knackige Sätze in ein Mikrofon raunzt, greifen die Journalisten gern auf den allseits bekannten unrasierten Schnurrbartträger mit dem lustigen Irokesenhaarschnitt zurück. Keine Experimente, der Lobo sieht markant aus, kann reden, und außerdem hatten wir den letzte Woche schon mal im Interview.

Für uns alle ist das Netz ein Lebensraum, für Dich im wörtlichen Sinn: Du verdienst Dein Geld hier, genauer: Du lebst davon, über das Netz zu reden. Darin bist Du auch unbestritten gut. Du kommst aus der Werbung, das merkt man. In der Werbung ist es häufig besser, mit irgendwelchem Blödsinn Aufmerksamkeit zu erregen als mit sinnvollen Äußerungen unbemerkt zu bleiben. Das weißt Du auch.

Du hast in den letzten Jahren viele intelligente Dinge gesagt. Du hast Debatten vorangebracht. Dafür mögen wir Dich, und dafür danken wir Dir. Ein wenig aber, scheint mir, ist Dir die Sache zu Kopf gestiegen. Im Januar beispielsweise, als Du verkündetest, Du hättest Dich geirrt. Was hattest Du erwartet? Einen Aufschrei? Um Himmels Willen, Lobo hat sich geirrt. Jetzt können wir einpacken. Das ganze Internet muss neu geschrieben werden. Wenn wir uns auf Lobo nicht mehr verlassen können, worauf dann?

Was soll's, Schlagzeile ist Schlagzeile, und ein bezahlter Artikel ist ein bezahlter Artikel. Womit wir bei Deinem diesjährigen re:publica-Vortrag wären, der sich, wenn ich es so sagen darf, nicht wesentlich von denen der Vorjahre unterschied. Mittendrin ein wenig knallige Publikumsbeschimpfung, drum herum die Litanei, wir, die "Netzgemeinde" stellten uns wie die letzten Deppen an, und nur Du, Sascha, seiest Profi genug, aber es langsam leid, für uns immer wieder den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Professioneller sollten wir werden, mehr Geld in den Netzaktivismus pumpen.

Mehr Geld - Du meinst nicht etwa die mehr als 500 €, die mich der Besuch der re:publica mit Anreise, Übernachtung, Eintritt und Verpflegung kostet? Ich weiß, für Dich sind das Erdnüsse, zumal für Dich als im hippen Berlin wohnender Referent diese ganzen Kosten nicht anfallen, sondern im Gegenteil diese Veranstaltung wegen der Eigenwerbung und der vielen sich daran anschließenden Aufträge sogar noch Gewinn abwirft, aber es gibt Leute, die für diesen Betrag mehrere Monate arbeiten müssen. Solche Leute haben wohl, um es mit deinen Worten auszudrücken,"versagt". In den Achtzigern gab es dafür den schönen Satz: "Eure Armut kotzt mich an."

Wir sollen uns professionalisieren, forderst Du. Es mag Dich nicht aufgefallen sein, weil Deine Vermarktungsmaschine perfekt läuft, aber: Genau das versuchen viele von uns. Leider bietet der Markt nicht viel Platz. Von Internetaktivismus können nur sehr wenige leben. Du offenbar. Markus Beckedahl gerade einmal so. Tim Pritlove und Michael Seemann auch, aber nicht gerade üppig. Dann wird es aber auch schon schnell dünn. Padeluun hat einen beträchtlichen Teil seines Privatvermögens in digitalcourage gepumpt, und selbst bei dieser altehrwürdigen Institution kann von Reichtum keine Rede sein. Die meisten von uns engagieren sich als Freizeitaktivität - teilweise, weil die großen kommerziellen Platzhirsche wie Du ihre Reviere bereits markiert haben, teilweise aber auch als bewusste Entscheidung. Wir wollen gar nicht davon abhängig sein, unser Gesicht von einer Unterhaltungssendung zur nächsten tragen und Honorar dafür kassieren zu müssen. Wir sind so zufrieden, wie es läuft, und so organiseren wir eine Podiumsdiskussion nach der anderen, richten Demonstrationen aus, veranstalten Datenschutzseminare, wühlen uns durch Gesetzesvorlagen, sprechen mit Abgeordneten, betreuen Informationsstände, unterrichten IT-Sicherheit - alles gratis. Oft genug legen wir sogar drauf. Aus Deiner Sicht ist das freilich nichts wert, denn nur wenn man für seine Arbeit Geld nimmt, mit anderen Worten: sich professionalisiert hat, kann man ernst genommen werden. Für uns aber ist es völlig selbstverständlich, sich in der Gesellschaft, in der man lebt, zu engagieren - in der analogen so wie in der digitalen.

Du hast Deinen Weg gefunden, in der Netzwelt zu überleben, wir unseren. Dein Weg ist gut, die Ergebnisse stimmen, und wir respektieren Dich dafür. Wir wissen selbst gut genug, dass es im Netzaktivismus Aufgaben gibt, die so aufwendig sind, dass man dafür bezahlt werden muss - schlicht, weil man andernfalls nicht die Zeit dafür aufbringen kann. Dass alle ein funktionierendes Internet haben wollen, aber kaum jemand bereit ist, dafür auch Geld in die Hand zu nehmen, ist ärgerlich, aber ganz offensichtlich ändert es auch nichts, wenn man sich Jahr für Jahr anlässlich der re:publica auf die Bühne stellt und den Leuten erzählt, wie unfassbar doof sie sind.

Im Gegenteil - es langweilt.

Donnerstag, 1. Mai 2014

Iterativer Aktionismus

#StopWatchingUs ist der neue Stern am Himmel des Bürgerrechtsaktivismus. Wer seiner Wut über den NSA-Skandal Ausdruck verleihen, wer für Snowden und gegen den Überwachungsstaat auf die Straße gehen möchte, findet bei dieser seit knapp einem Jahr existierenden Initiative begeisterte Mitstreiterinnen. Die Netzbewegung lebt, sie hat regen Zulauf, alles ist bestens, oder etwa nicht? Wie man's nimmt. Die Zahl der Aktiven nimmt nämlich insgesamt nicht zu, vor allem aber kommt die Bewegung nicht besonders voran und beschäftigt sich zum Großteil damit, sich ständig neu zu erfinden.

Was haben wir nicht alles: den AK Vorrat, den AK Zensur, den AK Zensus, Freiheitsfoo, die digitale Gesellschaft, D64, die Piratenpartei, Digitalcourage, anonymous und jetzt als neuestes Familienmitglied StopWatchingUs. Nimmt man die ganzen Organisationen aus, die sich eine Struktur im Sinne des Vereins- oder Parteienrechts gegeben haben und damit eine andere Art der Mitgliedschaft und des Mitwirkens ansteuern, bleibt ein buntes Sammelsurium diverser Klein- und Kleinstgruppen, die sich innerhalb des Nischenthemas Netzpolitik und digitale Bürgerrechte mit einem Unternischenthema beschäftigen. Monty Python hätte es mit der judäischen Volksfront und der Volksfront von Judäa nicht noch wilder karikieren können. Alle diese Gruppen verfolgen im Wesentlichen die gleichen Ziele, aber statt sich zusammenzuschließen, wurschtelt jede für sich, weil irgendwelche Schlüsselpersonen nicht miteinander können. Das hindert die anderen Aktiven nicht daran, in gleich mehreren dieser Gruppen gleichzeitig zu arbeiten. Wenn zwei oder drei im Namen der Freiheit beisammen sind, kann es gut sein, dass formal vier bis sechs Organisationen sich treffen. Das sieht auf dem Papier beeindruckend aus, tatsächlich aber zeigt es, wie zerfasert die Bewegung ist.

StopWatchingUs erhebt nicht eine Forderung, die nicht von den anderen bereits existierenden Gruppen sofort geteilt wird. Warum hat der ohnehin schon kaum durchschaubare Teilchenzoo dann noch weiteren Zuwachs bekommen? Meine These lautet: weil die StopWatchingUs-Aktivistinnen gar nicht wussten, dass es diese ganzen Organisationen überhaupt gibt, und selbst wenn sie es gewusst hätten, behaupte ich, hätten sie lieber schnell ihre eigene Struktur aufgezogen, als sich erst mühsam in die bereits bestehenden Strukturen einzupassen.

Auf der einen Seite ist das gut. StopWatchingUs schleppt keine Altlasten mit sich herum, keine Regeln und Gepflogenheiten, die sich irgendwann vor Jahren einmal eingeschliffen haben und heute vor allem deswegen noch gelebt werden, weil niemand alles umkrempeln will. Die Gruppe ist deswegen schnell, frisch und spontan. Auf der anderen Seite durchlebt StopWatchingUs gerade die Geburtsschmerzen, welche die Anderen schon seit Jahren hinter sich haben. Wieder einmal fängt man ganz von vorn an, ohne Geld, ohne Infrastruktur, ohne eingespieltes Team. Wieder einmal treibt irgendwer irgendwo irgendeinen unausgelasteten Server auf, der in einer Nacht-und-Nebel-Aktion eine eigene Mailingliste, ein Wiki, ein CMS und einen Chat verpasst bekommt - schnell installiert, undokumentiert und mit Mühe und Not überhaupt ans Laufen bekommen. Wieder einmal werden die gleichen Grundsatzfragen in wochenlangen Mailinglistenthreads durchgekaut – Fragen über die man sich schon etliche Male die Köpfe heiß geredet hat. Meist fand man eine Lösung. Gelegentlich stellte sich aber auch heraus, dass es für bestimmte Fragen keine konsensfähige Antwort gibt, ja sogar wahrscheinlich nicht geben kann. Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, kann die politische Ebene schnell auch einige Wochen zum Erliegen kommen.

Die Tatsache, dass wir offenbar wieder einmal das Rad neu erfinden zu müssen meinen, ist aus meiner Sicht weniger ein Fehler der neu Hinzugekommenen. Es ist vielmehr ein Scheitern der alten Strukturen, überhaupt erst einmal für die Öffentlichkeit sichtbar in Erscheinung zu treten und dann eben nicht wie ein in die Jahre gekommener Moloch sondern wie ein attraktives Mitwirkungsangebot mit niedriger Einstiegsschwelle zu wirken.

Es ist nicht so, dass ein regelmäßiges Infragestellen alter Gewohnheiten nicht auch seine Vorteile hätte. Nur weil etwas bereits existiert, muss es nicht automatisch gut sein. Trotzdem gibt es bestimmte Fragen, die ich im Laufe der Jahre für mich geklärt und keine Lust habe, sie immer wieder durchzudiskutieren. Wenn Leute Stunden mit der Frage verschwenden, ob sie am liebsten mit IRC, Mail, Forum, Wiki, Etherpad, Jabber oder $FANCY_NEW_TOOL arbeiten wollen und unter welcher Lizenz die benutzte Software am besten stehen soll, sinkt mein Interesse am entsprechenden Projekt schlagartig auf Null. Wenn eine Gruppe in die Situation gerät, auch nur mehr als 15 Minuten disktutieren zu müssen, warum man sich wie gegen wen abgrenzt, kann ich nicht mehr glauben, dass sie sich ernsthaft für ihr nominelles Kernanliegen interessiert. Vor allem aber: Es gibt bei diesen Fragen nicht viel Neues. Die Argumente sind seit Jahren fast gleich geblieben, und sie gewinnen nicht dadurch an Wert, dass man sie ständig wiederholt. Es gibt Leute, die alles nach Erfindung der Lochkarte als neumodisches Teufelszeug ansehen, und sie werden sich nie mit denjenigen einigen, die jedes Tool, dessen Code ohne Fatal-Error-Meldung compiliert, sofort produktiv einsetzen. Jede noch so gute Idee zieht zwangsläufig einen Bodensatz von Idioten an, und wer nicht automatisch ein Gefühl entwickelt, mit wem man am besten nicht redet, dem werden auch noch so viele Policies nicht helfen.

Policies sind ohnehin ein untrügliches Indiz dafür, dass bei einer Initiative die Deppen das Steuer übernommen und einen Kurswechsel in Richtung Abgrund beschlossen haben. Intelligente, kooperative Leute kommen praktisch ohne starres Regelwerk miteinander klar. Alle Anderen gieren nach Policies. Nichts ist besser geeignet, eine Gruppe mit endlosen Metadebatten zu lähmen, zumal keine Regel so eindeutig formuliert werden kann, dass sie sich nicht durch gezieltes Missverstehen in ihr komplettes Gegenteil verdrehen ließe. Ich habe erlebt, wie Mailinglisten allen Ernstes Policies zum Einführen neuer Policies diskutierten. Auf dem 29C3 haben erwachsene Menschen ohne Wimpernzucken eine Policy besprochen, die den CCC aus der Todesklammer des Sexismus befreien sollte. Für die von übermäßiger Hirnaktivität Verschonten unter uns: Überzeugungen und Gesetze schließen einander aus. Wenn ich von einer Idee überzeugt bin, brauche ich kein Gesetz. Bin ich es nicht, wird kein Gesetz dieses Planeten mich dazu bringen, auch nur einen Deut mehr als das Allernötigste zu unternehmen, um wenigstens formal der Anordnung Folge zu leisten. Oder kürzer: Überzeugungen lassen sich nicht verordnen.

So lebt die Netzbewegung seit Jahren in Zyklen: Eine Gruppe engagierter Leute startet mit viel Enthusiasmus eine Aktion, erringt einige Anfangserfolge, durchläuft dann aber eine Phase der Ernüchterung. In dieser Phase stellen sie fest, dass sie einige grundsätzliche Dinge klären müssen. Daraufhin springen bereits die ersten Leute gelangweilt ab. Der Rest zankt sich eine Weile, schafft es jedoch, sich zu konsolidieren und zu professionalisieren. Ab dann geht es in geregelten Bahnen weiter. Hin und wieder fliegen noch einmal die Fetzen, was auch dazu führen kann, dass einige der alten Kernaktiven genervt aussteigen und sich anderen Dingen zuwenden. Insgesamt bleibt es stabil, man könnte auch sagen: langweilig. Das ist der Punkt, an dem sich eine neue, engagierte Gruppe bildet, teilweise bestehend aus Ehemaligen, teilweise bestehend aus Neueinsteigern. Der Zyklus beginnt von vorn.

Wer sich in Kreislinien bewegt, kommt wenig voran, was im Fall der Netzbewegung bedeutet, dass sie kaum neue Ideen entwickelt. So lautet der Standardreflex auf die meisten Aufregerthema gern: “Demo”, gern auch eine “fette Demo”, und alle, ich wiederhole: alle müssen mitmachen. Egal, woran sie arbeiten. Für die heilige Demo muss alles Andere liegen bleiben. Online-Petitionen sind auch ganz besonders beliebt, immerhin liegen in derartigen Aktionen die Wurzeln des AK Vorrat und des AK Zensur. Dass inzwischen jede Facebook-Aktion über die Absetzung von Markus Lanz ähnliche Klickraten erzielt, gerät dabei schnell in Vergessenheit.

Die Netzbewegung hat in den vergangenen Jahren einige Erfolge verzeichnet: Aufhebung der Vorratsdatenspeicherung in Deutschland und auf europäischer Ebene, Verbot von Wahlcomputern in Deutschland, Aufhebung der Internetzensur in Deutschland, Stopp von ACTA, Verbot der Onlinedurchsuchung. Einige dieser Erfolge waren auch von Demonstrationen begleitet, die meisten aber errang die Netzbewegung, indem sie Gesetzesentwürfe studierte, in Parlamentsausschüssen Argumente lieferte, vor Gerichten Gutachterinnen aussagen ließ. Der anlasslose jährliche Auftrieb "Freiheit statt Angst" in Berlin hingegen blockiert über Monate alle anderen Aktivitäten, nur um am Ende eine umstrittene, möglichst hohe Zahl an Teilnehmerinnen zu vermelden, die Parolen schreiend einmal im Kreis gelaufen sind. Bringt man so parlamentarische Mehrheiten hinter sich?

Es geht mir jedoch nicht darum, Demonstrationen zu verdammen, die als identitätsstiftende Aktion durchaus ihren Sinn haben. Es geht mir darum, dass die Netzbewegung Kontinuität zeigt und nicht ständig wie ein Phoenix neu der Asche entsteigt, um unter neuem Namen die alten Fehler zu begehen. Die alten Verbände mögen optisch und habituell in die Jahre gekommen sein, aber sie haben drei Vorteile: Sie haben eine Marke, sie haben eine Infrastruktur und sie haben einige schmerzhafte Prozesse bereits durchlaufen. Sie wissen, wie man mit Trollen umgeht, ob wie und wann man sich von wem abgrenzt und wie man einigermaßen flüssig zu einer Entscheidung kommt. Sie mögen etwas träge wirken, aber oft ist die Trägheit nur ein Zeichen, dass man seine Kräfte einzuteilen gelernt hat und nicht jeden Aufmerksamkeitshype in epischer Breite diskutieren zu müssen meint.

Wir haben zu oft bei Null angefangen.