#StopWatchingUs ist der neue Stern am
Himmel des Bürgerrechtsaktivismus. Wer seiner Wut über den
NSA-Skandal Ausdruck verleihen, wer für Snowden und gegen den
Überwachungsstaat auf die Straße gehen möchte, findet bei dieser
seit knapp einem Jahr existierenden Initiative begeisterte
Mitstreiterinnen. Die Netzbewegung lebt, sie hat regen Zulauf, alles
ist bestens, oder etwa nicht? Wie man's nimmt. Die Zahl der Aktiven
nimmt nämlich insgesamt nicht zu, vor allem aber kommt die Bewegung
nicht besonders voran und beschäftigt sich zum Großteil damit, sich
ständig neu zu erfinden.
Was haben wir nicht alles: den AK
Vorrat, den AK Zensur, den AK Zensus, Freiheitsfoo, die digitale
Gesellschaft, D64, die Piratenpartei, Digitalcourage, anonymous und
jetzt als neuestes Familienmitglied StopWatchingUs. Nimmt man die
ganzen Organisationen aus, die sich eine Struktur im Sinne des
Vereins- oder Parteienrechts gegeben haben und damit eine andere Art
der Mitgliedschaft und des Mitwirkens ansteuern, bleibt ein buntes
Sammelsurium diverser Klein- und Kleinstgruppen, die sich innerhalb
des Nischenthemas Netzpolitik und digitale Bürgerrechte mit einem
Unternischenthema beschäftigen. Monty Python hätte es mit der
judäischen Volksfront und der Volksfront von Judäa nicht noch
wilder karikieren können. Alle diese Gruppen verfolgen im
Wesentlichen die gleichen Ziele, aber statt sich zusammenzuschließen,
wurschtelt jede für sich, weil irgendwelche Schlüsselpersonen nicht
miteinander können. Das hindert die anderen Aktiven nicht daran, in
gleich mehreren dieser Gruppen gleichzeitig zu arbeiten. Wenn zwei
oder drei im Namen der Freiheit beisammen sind, kann es gut sein,
dass formal vier bis sechs Organisationen sich treffen. Das sieht auf
dem Papier beeindruckend aus, tatsächlich aber zeigt es, wie
zerfasert die Bewegung ist.
StopWatchingUs erhebt nicht eine
Forderung, die nicht von den anderen bereits existierenden Gruppen
sofort geteilt wird. Warum hat der ohnehin schon kaum durchschaubare
Teilchenzoo dann noch weiteren Zuwachs bekommen? Meine These lautet:
weil die StopWatchingUs-Aktivistinnen gar nicht wussten, dass es
diese ganzen Organisationen überhaupt gibt, und selbst wenn sie es
gewusst hätten, behaupte ich, hätten sie lieber schnell ihre eigene
Struktur aufgezogen, als sich erst mühsam in die bereits bestehenden
Strukturen einzupassen.
Auf der einen Seite ist das gut.
StopWatchingUs schleppt keine Altlasten mit sich herum, keine Regeln
und Gepflogenheiten, die sich irgendwann vor Jahren einmal
eingeschliffen haben und heute vor allem deswegen noch gelebt werden,
weil niemand alles umkrempeln will. Die Gruppe ist deswegen schnell,
frisch und spontan. Auf der anderen Seite durchlebt StopWatchingUs
gerade die Geburtsschmerzen, welche die Anderen schon seit Jahren
hinter sich haben. Wieder einmal fängt man ganz von vorn an, ohne
Geld, ohne Infrastruktur, ohne eingespieltes Team. Wieder einmal treibt irgendwer irgendwo irgendeinen unausgelasteten Server auf, der in einer Nacht-und-Nebel-Aktion eine eigene Mailingliste, ein Wiki, ein CMS und einen Chat verpasst bekommt - schnell installiert, undokumentiert und mit Mühe und Not überhaupt ans Laufen bekommen. Wieder einmal
werden die gleichen Grundsatzfragen in wochenlangen
Mailinglistenthreads durchgekaut – Fragen über die man sich schon
etliche Male die Köpfe heiß geredet hat. Meist fand man eine
Lösung. Gelegentlich stellte sich aber auch heraus, dass es für
bestimmte Fragen keine konsensfähige Antwort gibt, ja sogar
wahrscheinlich nicht geben kann. Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen,
kann die politische Ebene schnell auch einige Wochen zum Erliegen
kommen.
Die Tatsache, dass wir offenbar wieder
einmal das Rad neu erfinden zu müssen meinen, ist aus meiner Sicht
weniger ein Fehler der neu Hinzugekommenen. Es ist vielmehr ein
Scheitern der alten Strukturen, überhaupt erst einmal für die
Öffentlichkeit sichtbar in Erscheinung zu treten und dann eben nicht
wie ein in die Jahre gekommener Moloch sondern wie ein attraktives
Mitwirkungsangebot mit niedriger Einstiegsschwelle zu wirken.
Es ist nicht so, dass ein regelmäßiges
Infragestellen alter Gewohnheiten nicht auch seine Vorteile hätte.
Nur weil etwas bereits existiert, muss es nicht automatisch gut
sein. Trotzdem gibt es bestimmte Fragen, die ich im Laufe der Jahre
für mich geklärt und keine Lust habe, sie immer wieder
durchzudiskutieren. Wenn Leute Stunden mit der Frage verschwenden, ob
sie am liebsten mit IRC, Mail, Forum, Wiki, Etherpad, Jabber oder
$FANCY_NEW_TOOL arbeiten wollen und unter welcher Lizenz die benutzte
Software am besten stehen soll, sinkt mein Interesse am
entsprechenden Projekt schlagartig auf Null. Wenn eine Gruppe in die
Situation gerät, auch nur mehr als 15 Minuten disktutieren zu müssen, warum
man sich wie gegen wen abgrenzt, kann ich nicht mehr glauben, dass
sie sich ernsthaft für ihr nominelles Kernanliegen interessiert. Vor
allem aber: Es gibt bei diesen Fragen nicht viel Neues. Die Argumente
sind seit Jahren fast gleich geblieben, und sie gewinnen nicht
dadurch an Wert, dass man sie ständig wiederholt. Es gibt Leute, die
alles nach Erfindung der Lochkarte als neumodisches Teufelszeug
ansehen, und sie werden sich nie mit denjenigen einigen, die jedes
Tool, dessen Code ohne Fatal-Error-Meldung compiliert, sofort
produktiv einsetzen. Jede noch so gute Idee zieht zwangsläufig einen
Bodensatz von Idioten an, und wer nicht automatisch ein Gefühl
entwickelt, mit wem man am besten nicht redet, dem werden auch noch
so viele Policies nicht helfen.
Policies sind ohnehin ein untrügliches
Indiz dafür, dass bei einer Initiative die Deppen das Steuer
übernommen und einen Kurswechsel in Richtung Abgrund beschlossen
haben. Intelligente, kooperative Leute kommen praktisch ohne starres
Regelwerk miteinander klar. Alle Anderen gieren nach Policies. Nichts
ist besser geeignet, eine Gruppe mit endlosen Metadebatten zu lähmen,
zumal keine Regel so eindeutig formuliert werden kann, dass sie sich nicht
durch gezieltes Missverstehen in ihr komplettes Gegenteil verdrehen ließe. Ich habe erlebt, wie Mailinglisten allen Ernstes
Policies zum Einführen neuer Policies diskutierten. Auf dem 29C3
haben erwachsene Menschen ohne Wimpernzucken eine Policy besprochen,
die den CCC aus der Todesklammer des Sexismus befreien sollte. Für
die von übermäßiger Hirnaktivität Verschonten unter uns:
Überzeugungen und Gesetze schließen einander aus. Wenn ich von
einer Idee überzeugt bin, brauche ich kein Gesetz. Bin ich es nicht,
wird kein Gesetz dieses Planeten mich dazu bringen, auch nur einen
Deut mehr als das Allernötigste zu unternehmen, um wenigstens formal
der Anordnung Folge zu leisten. Oder kürzer: Überzeugungen lassen
sich nicht verordnen.
So lebt die Netzbewegung seit
Jahren in Zyklen: Eine Gruppe engagierter Leute startet mit viel
Enthusiasmus eine Aktion, erringt einige Anfangserfolge, durchläuft
dann aber eine Phase der Ernüchterung. In dieser Phase stellen sie
fest, dass sie einige grundsätzliche Dinge klären müssen.
Daraufhin springen bereits die ersten Leute gelangweilt ab. Der Rest
zankt sich eine Weile, schafft es jedoch, sich zu konsolidieren und
zu professionalisieren. Ab dann geht es in geregelten Bahnen weiter.
Hin und wieder fliegen noch einmal die Fetzen, was auch dazu führen
kann, dass einige der alten Kernaktiven genervt aussteigen und sich
anderen Dingen zuwenden. Insgesamt bleibt es stabil, man könnte auch
sagen: langweilig. Das ist der Punkt, an dem sich eine neue,
engagierte Gruppe bildet, teilweise bestehend aus Ehemaligen,
teilweise bestehend aus Neueinsteigern. Der Zyklus beginnt von vorn.
Wer sich in Kreislinien bewegt, kommt
wenig voran, was im Fall der Netzbewegung bedeutet, dass sie kaum
neue Ideen entwickelt. So lautet der Standardreflex auf die meisten
Aufregerthema gern: “Demo”, gern auch eine “fette Demo”, und alle, ich wiederhole: alle müssen mitmachen. Egal, woran sie arbeiten. Für die heilige Demo muss alles Andere liegen bleiben. Online-Petitionen sind auch ganz besonders beliebt, immerhin liegen
in derartigen Aktionen die Wurzeln des AK Vorrat und des AK Zensur.
Dass inzwischen jede Facebook-Aktion über die Absetzung von Markus
Lanz ähnliche Klickraten erzielt, gerät dabei schnell in
Vergessenheit.
Die Netzbewegung hat in den vergangenen Jahren einige Erfolge verzeichnet: Aufhebung der Vorratsdatenspeicherung in Deutschland und auf europäischer Ebene, Verbot von Wahlcomputern in Deutschland, Aufhebung der Internetzensur in Deutschland, Stopp von ACTA, Verbot der Onlinedurchsuchung. Einige dieser Erfolge waren auch von Demonstrationen begleitet, die meisten aber errang die Netzbewegung, indem sie Gesetzesentwürfe studierte, in Parlamentsausschüssen Argumente lieferte, vor Gerichten Gutachterinnen aussagen ließ. Der anlasslose jährliche Auftrieb "Freiheit statt Angst" in Berlin hingegen blockiert über Monate alle anderen Aktivitäten, nur um am Ende eine umstrittene, möglichst hohe Zahl an Teilnehmerinnen zu vermelden, die Parolen schreiend einmal im Kreis gelaufen sind. Bringt man so parlamentarische Mehrheiten hinter sich?
Es geht mir jedoch nicht darum, Demonstrationen zu verdammen, die als identitätsstiftende Aktion durchaus ihren Sinn haben. Es geht mir darum, dass die Netzbewegung Kontinuität zeigt und nicht ständig wie ein Phoenix neu der Asche entsteigt, um unter neuem Namen die alten Fehler zu begehen. Die alten Verbände mögen optisch und habituell in die Jahre gekommen sein, aber sie haben drei Vorteile: Sie haben eine Marke, sie haben eine Infrastruktur und sie haben einige schmerzhafte Prozesse bereits durchlaufen. Sie wissen, wie man mit Trollen umgeht, ob wie und wann man sich von wem abgrenzt und wie man einigermaßen flüssig zu einer Entscheidung kommt. Sie mögen etwas träge wirken, aber oft ist die Trägheit nur ein Zeichen, dass man seine Kräfte einzuteilen gelernt hat und nicht jeden Aufmerksamkeitshype in epischer Breite diskutieren zu müssen meint.
Wir haben zu oft bei Null angefangen.