"Warte... warte... warte... genau, jetzt, guck. Genau jetzt geht die Bombe hoch."
- "Alter, was für ein Feuerball. Stirbt die Frau mit dem Kinderwagen jetzt schon?"
"Die? Ach nein, das kommt später."
So oder so ähnlich muss sie aussehen, die Welt von Innenminister Hans-Peter Friedrich, der den fehlgeschlagenen Bombenanschlag am Bonner Bahnhof (wie so ziemlich jedes andere Ereignis auf diesem Planeten) zum Anlass nahm, sich für eine verschärfte Videoüberwachung einzusetzen. Hingen erst einmal überall an öffentlichen Plätzen Überwachungskameras, so Friedrich, könne man "Gewalttäter abschrecken und geplante Anschläge aufklären". An dieser vorsichtigen Formulierung erkennt man schon, dass der Innenminister sehr wohl weiß, da gerade Unsinn zu reden.
Unsinn ist Friedrichs Forderung gleich in mehrfacher Hinsicht. Erstens findet eine Abschreckung nachweislich nicht statt. Erinnern Sie sich noch an die gestochen scharfen Videos aus U-Bahnen, wo wir in jedem Detail nachvollziehen konnten, wie gerade ein Mensch totgetreten wird? Wie stellt sich Friedrich die Sache vor? Dass ohne Kameras der Mensch noch viel toter getreten worden wäre?
Das einzige Argument, das ich noch halbwegs nachvollziehen kann, ist die Behauptung, man könne Verbrechen auf diese Weise besser aufklären. Die folgende Erkenntnis mag einige überraschen, aber es nützt dem totgetretenen Menschen, dem von einer Bombe zerfetzten Bahnreisenden nicht mehr viel, wenn die Nachwelt bis ins kleinste Detail ihren Tod analysieren kann. Wer wirklich etwas gegen Verbrechen unternehmen will, der denkt mit und handelt, der geht dazwischen, wenn jemand zusammengeschlagen wird, der alarmiert - wie in Bonn geschehen - die Polizei, wenn plötzlich vor seinen Füßen eine verdächtige Tasche steht. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie schwer es ist, als Einziger im Bus aufzustehen und randalierende Idioten in ihre Grenzen zu weisen. Deswegen will ich auch keine einsamen Helden, sondern einen kompletten Bus voller Leute, der den Betroffenen zeigt: So nicht.
So lange Kameras nur konsequenzlos herumhängen, kann ich sie auch gleich weglassen. Wenn ein Alarm losginge, sobald vor der Kamera ein Verbrechen begangen wird und Sekunden später jemand da wäre, der sich um die Sache kümmert, könnte man vielleicht noch so etwas wie einen Sinn in der Maßnahme erkennen, aber leider setzt man Kameras ja dazu ein, Personal einzusparen, genau die Leute also, die man im Alarmfall bräuchte.
Besonders befremdlich wirkte es auf mich, als die Polizei die Überwachungsvideos zum fehlgeschlagenen Bombenanschlag auf die Regionalbahn nach Koblenz zeigte und diese Videos als Argument für mehr Videoüberwachung herhalten mussten. Man möge mich einen Kleingeist zeihen aber noch viel toller, als zu wissen, wann genau der Kerl mit seinen Bomben in den Zug eingestiegen ist, hätte ich gefunden, wenn er niemals eingestiegen wäre. Das wäre tatsächlich eine Verbesserung der Sicherheit. Alles Andere lässt uns nur ungemein detailreich resigniert mit den Schultern zucken.
Sicherheit ist weniger eine statistische Größe als ein Gefühl. Wissen Sie, woran Sie höchst wahrscheinlich sterben werden? An Kreislaufschwäche oder Krebs. Wissen Sie, was in Deutschland noch unwahrscheinlicher ist als ein Lottogewinn? Durch einen Terroranschlag zu sterben. Jetzt raten Sie mal, worüber sich der Deutsche am meisten einnässt. Und jetzt raten Sie, welchen Einfluss auf diese statistisch kaum messbare Größe die Anzahl der installierten Überwachungskameras haben kann.
Dass Sicherheit vor allem Placebo fürs Gemüt ist, weiß der Innenminister natürlich auch, und deswegen mag er es, wenn an jedem Laternenmast eine Kamera hängt. Nicht etwa, weil die Gefahr des Terrorismus damit gebannt wäre, sondern damit die Leute die Kameras sehen und sich wohl fühlen. Darüber hinaus lebt eine ganze Industriesparte von diesem Sicherheitstheater, und vielleicht fällt ja nach dem vollendeten Ministerdasein noch ein lukrativer Beratervertrag bei einer auf diese Weise durchgefütterten Firma ab. Es wäre nicht das erste Mal.
Sonntag, 16. Dezember 2012
Samstag, 6. Oktober 2012
Nachhilfe für Kanzlerkandidaten
Steinbrück, hören Sie? Ich komme in den letzten Tagen nicht umhin, die eine oder andere Meldung über Sie lesen zu müssen, und ich habe den Eindruck, dass Sie einige grundlegende Regeln des Politikbetriebs nicht ganz begriffen haben. Das ist nicht weiter schlimm, das passiert Anfängern schon einmal. Da ich aber ein netter Mensch bin, halte ich Ihnen einen kleinen Vortrag darüber, was man als Kanzlerkandidat besser wissen sollte - gratis, versteht sich.
Damit wäre das Stichwort gefallen: Vortrag. In der laufenden Legislaturperiode haben Sie nach eigenen Angaben mehr als 80 davon gehalten und dafür jeweils mindestens 7000 € bekommen. Nun bin ich in einer Gegend groß geworden, die von spezialdemokratischen Bildungsexperimenten verschont geblieben ist und beherrsche deswegen wenigstens so viel Kopfrechnen, dass ich sagen kann: Das waren mindestens 560.000 € in drei Jahren, also knapp 190.000 € pro Jahr und damit mehr als ein komplettes Jahreseinkommen eines gewöhnlichen Bundestagsabgeordneten. Für Leute Ihres Schlages mögen solche Beträge nicht der Rede wert sein, aber da sich die SPD zumindest früher einmal als Arbeiterpartei aufspielte, lassen Sie sich sagen: Für Ihre jährlichen Rednerhonorare müssen viele Ihrer Wähler ein Jahrzehnt arbeiten.
Jetzt sind Sie also Kanzlerkandidat. Dafür braucht man inzwischen nicht einmal mehr einen Parteitagsbeschluss, das klärt man kurz im Präsidium, und die Genossen nicken das schon brav ab. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit scheinen Sie davon auszugehen, dass der Rest der Nation in heiliger Ehrfurcht Ihre Proklamation aufnimmt. Wildfremde Menschen auf der Straße fallen sich vor Freude weinend in die Arme - so scheinen Sie sich das vorgestellt zu haben. Statt dessen - kleinliches Genörgel. Briefe werden hervorgekramt, in denen Sie um Sponsorengelder geworben haben, und jetzt noch diese Respektlosigkeit, von Ihnen zu verlangen, Sie sollten erklären, woher diese lächerliche halbe Millionen stammt, die Sie für Ihre Reden bekommen haben - aus Ihrer Sicht gerade mal Parkgroschen, keine Beträge jedenfalls, die Ihren stets glasklaren und objektiven Geist auch nur einen Cicero vom rechten Weg abweichen lassen könnten. Eine Frechheit, etwas Anderes anzunehmen. Folglich kann das Theater, das gerade um diese lächerlichen Almosen veranstaltet wird, nur eine perfide Rufmordkampagne sein, eine Verschwörung der Presse und des politischen Gegners, um ihren - freilich tadellosen - Leumund zu schädigen. Putzigerweise haben die Piraten gerade die gleiche Argumentation drauf, um ihre katastrophalen Umfragewerte zu erklären.
Werter Genosse Steinbrück, was Sie gerade erleben, ist keine hinterhältige Machenschaft, sondern man nennt es Demokratie. Wenn jemand die faktische Nummer 1 dieses Staates werden möchte, klatschen nicht alle begeistert in die Hände, sondern sie nehmen sich frecherweise das Recht heraus, zu fragen, was es mit dem Kandidaten auf sich hat. Wer sich um einen Posten bewirbt, muss sich im Bewerbungsgespräch Fragen gefallen lassen, und nicht jede dieser Fragen ist fair. Einige davon haben keinen anderen Sinn, als den Bewerber ein wenig aus der Reserve zu locken. Im Moment sind Sie der Bewerber, und wir als Ihre potenziellen Wähler sind der Personalchef. Um ehrlich zu sein: Eine besonders gute Figur geben Sie zur Zeit nicht ab.
Ihre schnoddrige Art ist ja ganz lustig, aber übertrieben eingesetzt hinterlässt sie den Eindruck von Arroganz. Sie wirkt vor allem dann unangebracht, wenn wir Sie fragen, was Sie als vom Volk bezahlter Abgeordneter so treiben, worauf Sie dann etwas von "gewisser Privatheit" murmeln und uns unterstellen, wir wollten eine Diktatur. Nein, Genosse Steinbrück, wir wollen nur wissen, wie Sie und Ihre Kollegen zu Ihren Entscheidungen kommen, und wir haben einfach immense Schwierigkeiten dabei, uns vorzustellen, dass sechstellige Eurobeträge auf Ihrem Konto Sie komplett unbeeindruckt lassen. Niemand will Ihnen Ihre Privatsphäre nehmen, denn das, wovon wir reden, ist Ihr öffentliches Wirken, oder wie würden Sie einen Auftritt in der Nähe von Zürich vor etwa 750 Zuhörern nennen?
Reichlich verlogen - und da gebe ich Ihnen recht - sind natürlich diejenigen aus dem Lager Ihrer politischen Gegner, die gerade am lautesten herumtönen, selbst aber die von ihnen geforderte Transparenz nicht praktizieren. Es geht dabei also nicht allein um Sie. Offen gesagt sind Sie als künftiger Oppositionsführer oder bestenfalls Juniorpartner in einer Großen Koalition in meinen Augen ohnehin nur eine historische Randnotiz. Es geht vielmehr um das Selbstverständnis der vom Volk Gewählten und Finanzierten. Wir müssen uns vom Gedanken verabschieden, wir erteilten unseren Mandatsträgern alle vier Jahre eine Generalvollmacht und hätten für den Rest der Zeit gottergeben jedes ihrer Urteile hinzunehmen. Diese Haltung bringt Abgeordnete hervor, welche den Wähler nur noch als lästiges Übel betrachten, das man vor der Wahl ein wenig mit Luftballons und Aufklebern beglückt und sich ansonsten vom Leib hält. Demokratie ist hingegen ein ständiger Kontrollprozess, ein immerwährendes einfordern von Rechenschaft. Das ist mühsam, aber anders lässt sich das Machtgleichgewicht zwischen Regenten und Regierten nicht aufrecht erhalten.
Die Zeit bis zur Wahl ist noch lang, Genosse Steinbrück. Wahrscheinlich wird wegen Ihres Rednerhonorars nichts passieren, weil Ihr politischer Gegner bald begreift, dass es dann auch um seinen Kragen ginge. Im Zweifelsfall wird man sich auf eine publikumswirksame, aber komplett sinnlose Aktion einigen und ansonsten darauf vertrauen, dass in der nächsten Woche schon die nächste Sau durchs Dorf getrieben wird. Was aber in den Köpfen bleibt, ist die Erinnerung daran, wie Sie unter Druck reagieren, ob Sie souverän, staatsmännisch und mit der Fähigkeit zur Selbstkritik antworten oder nur auf massive Nachfragen hin, sich auf formaljuristische Argumentationen verlegen und das alles "absurd, man kann auch sagen dämlich" finden. Diese Strategie hat vor nicht einmal einem Jahr schon jemand probiert und ist daran gescheitert. Der Mann war Bundespräsident.
Damit wäre das Stichwort gefallen: Vortrag. In der laufenden Legislaturperiode haben Sie nach eigenen Angaben mehr als 80 davon gehalten und dafür jeweils mindestens 7000 € bekommen. Nun bin ich in einer Gegend groß geworden, die von spezialdemokratischen Bildungsexperimenten verschont geblieben ist und beherrsche deswegen wenigstens so viel Kopfrechnen, dass ich sagen kann: Das waren mindestens 560.000 € in drei Jahren, also knapp 190.000 € pro Jahr und damit mehr als ein komplettes Jahreseinkommen eines gewöhnlichen Bundestagsabgeordneten. Für Leute Ihres Schlages mögen solche Beträge nicht der Rede wert sein, aber da sich die SPD zumindest früher einmal als Arbeiterpartei aufspielte, lassen Sie sich sagen: Für Ihre jährlichen Rednerhonorare müssen viele Ihrer Wähler ein Jahrzehnt arbeiten.
Jetzt sind Sie also Kanzlerkandidat. Dafür braucht man inzwischen nicht einmal mehr einen Parteitagsbeschluss, das klärt man kurz im Präsidium, und die Genossen nicken das schon brav ab. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit scheinen Sie davon auszugehen, dass der Rest der Nation in heiliger Ehrfurcht Ihre Proklamation aufnimmt. Wildfremde Menschen auf der Straße fallen sich vor Freude weinend in die Arme - so scheinen Sie sich das vorgestellt zu haben. Statt dessen - kleinliches Genörgel. Briefe werden hervorgekramt, in denen Sie um Sponsorengelder geworben haben, und jetzt noch diese Respektlosigkeit, von Ihnen zu verlangen, Sie sollten erklären, woher diese lächerliche halbe Millionen stammt, die Sie für Ihre Reden bekommen haben - aus Ihrer Sicht gerade mal Parkgroschen, keine Beträge jedenfalls, die Ihren stets glasklaren und objektiven Geist auch nur einen Cicero vom rechten Weg abweichen lassen könnten. Eine Frechheit, etwas Anderes anzunehmen. Folglich kann das Theater, das gerade um diese lächerlichen Almosen veranstaltet wird, nur eine perfide Rufmordkampagne sein, eine Verschwörung der Presse und des politischen Gegners, um ihren - freilich tadellosen - Leumund zu schädigen. Putzigerweise haben die Piraten gerade die gleiche Argumentation drauf, um ihre katastrophalen Umfragewerte zu erklären.
Werter Genosse Steinbrück, was Sie gerade erleben, ist keine hinterhältige Machenschaft, sondern man nennt es Demokratie. Wenn jemand die faktische Nummer 1 dieses Staates werden möchte, klatschen nicht alle begeistert in die Hände, sondern sie nehmen sich frecherweise das Recht heraus, zu fragen, was es mit dem Kandidaten auf sich hat. Wer sich um einen Posten bewirbt, muss sich im Bewerbungsgespräch Fragen gefallen lassen, und nicht jede dieser Fragen ist fair. Einige davon haben keinen anderen Sinn, als den Bewerber ein wenig aus der Reserve zu locken. Im Moment sind Sie der Bewerber, und wir als Ihre potenziellen Wähler sind der Personalchef. Um ehrlich zu sein: Eine besonders gute Figur geben Sie zur Zeit nicht ab.
Ihre schnoddrige Art ist ja ganz lustig, aber übertrieben eingesetzt hinterlässt sie den Eindruck von Arroganz. Sie wirkt vor allem dann unangebracht, wenn wir Sie fragen, was Sie als vom Volk bezahlter Abgeordneter so treiben, worauf Sie dann etwas von "gewisser Privatheit" murmeln und uns unterstellen, wir wollten eine Diktatur. Nein, Genosse Steinbrück, wir wollen nur wissen, wie Sie und Ihre Kollegen zu Ihren Entscheidungen kommen, und wir haben einfach immense Schwierigkeiten dabei, uns vorzustellen, dass sechstellige Eurobeträge auf Ihrem Konto Sie komplett unbeeindruckt lassen. Niemand will Ihnen Ihre Privatsphäre nehmen, denn das, wovon wir reden, ist Ihr öffentliches Wirken, oder wie würden Sie einen Auftritt in der Nähe von Zürich vor etwa 750 Zuhörern nennen?
Reichlich verlogen - und da gebe ich Ihnen recht - sind natürlich diejenigen aus dem Lager Ihrer politischen Gegner, die gerade am lautesten herumtönen, selbst aber die von ihnen geforderte Transparenz nicht praktizieren. Es geht dabei also nicht allein um Sie. Offen gesagt sind Sie als künftiger Oppositionsführer oder bestenfalls Juniorpartner in einer Großen Koalition in meinen Augen ohnehin nur eine historische Randnotiz. Es geht vielmehr um das Selbstverständnis der vom Volk Gewählten und Finanzierten. Wir müssen uns vom Gedanken verabschieden, wir erteilten unseren Mandatsträgern alle vier Jahre eine Generalvollmacht und hätten für den Rest der Zeit gottergeben jedes ihrer Urteile hinzunehmen. Diese Haltung bringt Abgeordnete hervor, welche den Wähler nur noch als lästiges Übel betrachten, das man vor der Wahl ein wenig mit Luftballons und Aufklebern beglückt und sich ansonsten vom Leib hält. Demokratie ist hingegen ein ständiger Kontrollprozess, ein immerwährendes einfordern von Rechenschaft. Das ist mühsam, aber anders lässt sich das Machtgleichgewicht zwischen Regenten und Regierten nicht aufrecht erhalten.
Die Zeit bis zur Wahl ist noch lang, Genosse Steinbrück. Wahrscheinlich wird wegen Ihres Rednerhonorars nichts passieren, weil Ihr politischer Gegner bald begreift, dass es dann auch um seinen Kragen ginge. Im Zweifelsfall wird man sich auf eine publikumswirksame, aber komplett sinnlose Aktion einigen und ansonsten darauf vertrauen, dass in der nächsten Woche schon die nächste Sau durchs Dorf getrieben wird. Was aber in den Köpfen bleibt, ist die Erinnerung daran, wie Sie unter Druck reagieren, ob Sie souverän, staatsmännisch und mit der Fähigkeit zur Selbstkritik antworten oder nur auf massive Nachfragen hin, sich auf formaljuristische Argumentationen verlegen und das alles "absurd, man kann auch sagen dämlich" finden. Diese Strategie hat vor nicht einmal einem Jahr schon jemand probiert und ist daran gescheitert. Der Mann war Bundespräsident.
Mittwoch, 3. Oktober 2012
Gefangen in der Provinz
"Köln macht süchtig", schwärmt das Kölner Fremdenverkehrsamt von sich selbst. "Wer einmal in unserer schönen Domstadt gelebt hat, will nicht mehr weg." Falsch. Man will nicht mehr weg, man kommt nicht mehr weg - weil man nicht mehr rausfindet.
Der Rheinländer allgemein, aber der Kölner auf besonders penetrante Weise, glaubt von sich, wahnsinnig weltoffen und aufgeschlossen zu sein. Die Ausländer, die Schwulen, ja selbst die Protestanten hätte man in der wundervollen "Domstadt" irgendwie integrieren können. Mal davon abgesehen, dass ein Moslem auch nur so lange die fadenscheinige Toleranz des Kölners genießt, wie er in der Kneipe brav das lokale Bierimitat namens "Kölsch" trinkt, mag es ja sein, dass man in Köln freundlicherweise am Leben gelassen wird, aber das ist es dann auch schon. Versuchen Sie beispielsweise, sich in Köln als Auswärtiger zurechtzufinden - keine Chance, vor allem, wenn Sie auf die Koalition des Grauens - Deutsche Bahn und Kölner Verkehrsbetriebe . angewiesen sind.
Angenommen, Sie wollen dem Chaos Computer Club Cologne einen Besuch abstattten. Sie sehen auf deren Webseite nach, finden die postalische Adresse, geben sie bei bahn.de in die Suchmaske ein und bekommen auch prompt die Antwort: Regionalbahn nach Köln, in Köln-West in die U-Bahn umsteigen und bis Venloer Straße fahren, dann sind es noch wenige Minuten Fußweg. Klingt einfach, ist auch einfach, wenn man den Bahnhof Köln-West kennt (ansonsten läuft man ein paar Minuten desorientiert herum und verpasst die Anschlussverbindung, wartet aber nur kurz auf die nächste). Das Tückische ist nur: Es fahren um die fragliche Uhrzeit im Abstand weniger Minuten zwei Bahnen von Süden nach Köln, von denen aber nur eine am Bahnhof West hält. "Nicht weiter schlimm", werden Sie sich denken. "Dann fahre ich eben zum Hauptbahnhof und suche mir dort eine passende Verbindung." Großer Fehler.
Der Fehler besteht in der Annahme, in Köln hätte man auch nur das leiseste Interesse daran, verirrten Reisenden zu helfen. Wenn Sie sich im Hauptbahnhof etwas auskennen, werden Sie vielleicht auf die Idee kommen, den nächsten DB-Fahrkartenautomaten als Fahrplanauskunft zu benutzen. Dummerweise funktioniert die Eingabe einer beliebigen Adresse, wie sie die Internetseite der Bahn ohne Schwierigkeiten beherrscht, hier nicht. "Nicht weiter schlimm", werden Sie denken. "Dann suche ich eben nach der Haltestelle Venloer Straße." Das können die Automaten auch nicht, die kennen nur DB-Bahnhöfe.
Praktischerweise befindet sich direkt neben der Haltestelle Venloer Straße auch ein S-Bahnhof, nur: Wie heißt der? Vom DB-Fahrkartenautomaten ist ja keine Auskunft zu erwarten. Von den vielen anderen Passanten, die hier herumirren, ebenfalls nicht, es sei denn, Sie wollen sich von einem Kölner Urgestein mit den Worten "Ja, woher soll isch datt den wissen?" abbürsten lassen. Wie wäre es mit dem Informationstresen der Deutschen Bahn? Da stehen doch Menschen, die sich vielleicht grob in Köln auskennen. Selbst wenn dem so wäre: Die Warteschlange ist so lang, dass eher der Kölner Dom durch Regentropfen wegerodiert, bevor Sie auch nur in Sichtweite des Schalters kommen. Wo ist der Informationsschalter der Kölner Verkehrsbetriebe, und wenn es den schon nicht gibt, wo ist ein Fahrkartenautomat, dem man vielleicht noch eine Information entlocken könnte? Keine Ahnung, jedenfalls nicht dort, wo die anderen Automaten stehen.
Doch wozu hat der Nerd von Welt sein Notbook dabei? Vorhin beim Herumirren, da haben Sie doch einen T-Online-Hotspot gesehen. Wenn man sich da einen Internetzugang verschafft, die DB-Seiten aufruft und nach einer Verbindng sucht, müsste es doch klappen. Den Hotspot finden Sie nach einiger Suche, klappen das Notebook auf, suchen nach einem WLAN, suchen, suchen. Suchen.
Es gibt natürlich nicht nur ein WLAN, sondern ganz furchtbar viele, nur keins von T-On... halt, da war was. Mit der geringsten Signalstärke von allen. Direkt am Hotspot. Ah ja. Egal, Empfang haben wir ja. Da wäre nur das Problem: Wie loggt man sich an einem T-Online-Hotspot ein? Es ist nicht etwa so, als werde man beim ersten Seitenaufruf direkt zum Login geleitet. Statt dessen sieht man eine Werbeseite, die wortreich die Segnungen der verschiedenen T-Online-Tarife vorschwärmt. Da steht auch was von Hotspot, aber nur, was es kostet und wie man nach Hotspots sucht. In Köln soll es am Hauptbahnhof auch einen geben. Ach wirklich.
Da, auf der dritten oder vierten Unterseite findet man in einer Art Gebrauchsanweisung auch die Adresse, die man aufrufen muss. Das Login gelingt auch brav, die Seiten der Bahn bauen sich auf, und schon nach wenigen Augenblicken hat man die Verbindung zum Bahnhof Ehrenfeld. Nachdem man vorher zehn Minuten lang versucht hat, sich einzuloggen.
Bevor mir ein paar eingefleischte Kölner den Kommentarbereich mit "Wenn man runter zur Achchtzehn jeht, dann is da uff de Mennerklo in de Butzgammer en Schlüssel, mit dem kannste det Kessdsche in de zweite Glogabiine uffmachche, da hängt inge Dellefon, da gannse Moondachs zwische 8 Uur 14 un 9 Uur zwounzwansisch wen anruufe, der dir dat verzälle kann. (Und jetzt kommt's:) Dat muss man doch wissen." fluten. Nee, dat muss man eben nisch wissen. Wir sind im 21. Jahrhundert. Da erwarte ich am Hauptverkehrsknotenpunkt einer Stadt, die sich in frommer Übertreibung gern als Millionenmetropole sieht, dass man als Ortsunkundiger vielleicht 5, maximal 10 Minuten braucht, um sich zumindest mit öffentlichen Verkehrsmitteln wieder weiterbewegen zu können. Ich erwarte von einem bundesweit operierenden Unternehmen wie der Bahn, dass sie nach Jahrhunderten Geschäftsbetrieb mit einem System aufwarten kann, das es einem an einem beliebigen Bahnhof der Republik Gestrandeten ermöglicht, sich anhand eines einheitlichen und klaren Systems sofort zurechtzufinden, und ich erwarte von den örtlichen Verkehrsbetrieben, dass sie ihren Teil dazu beitragen. Ich habe hier Köln als Beispiel aufgeführt, aber ich hätte auch eine beliebige andere deutsche Großstadt nehmen können. Immer wieder lese ich Plakate, auf denen steht, dass es "Fremdenfeindlichkeit in unserer Stadt nicht gibt". Fremdenfeindlichkeit fängt ganz früh an. Beim Verlassen eines Zuges. Wie soll man sich als Fremder in einer Stadt willkommen fühlen, die verlangt, dass man erst einmal den örtlichen Straßenplan, das Busnetz und ein komplett zusammengekifftes Tarifsystem auswendig lernt, bevor man sich halbwegs gezielt in ihr bewegen kann? Ich will nicht für so etwas eine "Äpp" für mein "Ei-Fohn" "daunlohdn", ich will aus dem Zug steigen und mich zumindest grundsätzlich zurechtfinden, und dann, vielleicht dann stellt es sich ein, "dieses einzigartige Gefühl aus fröhlicher Lebensart, atmosphärischem Stadterlebnis und südländischem Flair, das keinen mehr los lässt. Und sofort Heimweh auslöst, wenn man nicht da sein kann."
Der Rheinländer allgemein, aber der Kölner auf besonders penetrante Weise, glaubt von sich, wahnsinnig weltoffen und aufgeschlossen zu sein. Die Ausländer, die Schwulen, ja selbst die Protestanten hätte man in der wundervollen "Domstadt" irgendwie integrieren können. Mal davon abgesehen, dass ein Moslem auch nur so lange die fadenscheinige Toleranz des Kölners genießt, wie er in der Kneipe brav das lokale Bierimitat namens "Kölsch" trinkt, mag es ja sein, dass man in Köln freundlicherweise am Leben gelassen wird, aber das ist es dann auch schon. Versuchen Sie beispielsweise, sich in Köln als Auswärtiger zurechtzufinden - keine Chance, vor allem, wenn Sie auf die Koalition des Grauens - Deutsche Bahn und Kölner Verkehrsbetriebe . angewiesen sind.
Angenommen, Sie wollen dem Chaos Computer Club Cologne einen Besuch abstattten. Sie sehen auf deren Webseite nach, finden die postalische Adresse, geben sie bei bahn.de in die Suchmaske ein und bekommen auch prompt die Antwort: Regionalbahn nach Köln, in Köln-West in die U-Bahn umsteigen und bis Venloer Straße fahren, dann sind es noch wenige Minuten Fußweg. Klingt einfach, ist auch einfach, wenn man den Bahnhof Köln-West kennt (ansonsten läuft man ein paar Minuten desorientiert herum und verpasst die Anschlussverbindung, wartet aber nur kurz auf die nächste). Das Tückische ist nur: Es fahren um die fragliche Uhrzeit im Abstand weniger Minuten zwei Bahnen von Süden nach Köln, von denen aber nur eine am Bahnhof West hält. "Nicht weiter schlimm", werden Sie sich denken. "Dann fahre ich eben zum Hauptbahnhof und suche mir dort eine passende Verbindung." Großer Fehler.
Der Fehler besteht in der Annahme, in Köln hätte man auch nur das leiseste Interesse daran, verirrten Reisenden zu helfen. Wenn Sie sich im Hauptbahnhof etwas auskennen, werden Sie vielleicht auf die Idee kommen, den nächsten DB-Fahrkartenautomaten als Fahrplanauskunft zu benutzen. Dummerweise funktioniert die Eingabe einer beliebigen Adresse, wie sie die Internetseite der Bahn ohne Schwierigkeiten beherrscht, hier nicht. "Nicht weiter schlimm", werden Sie denken. "Dann suche ich eben nach der Haltestelle Venloer Straße." Das können die Automaten auch nicht, die kennen nur DB-Bahnhöfe.
Praktischerweise befindet sich direkt neben der Haltestelle Venloer Straße auch ein S-Bahnhof, nur: Wie heißt der? Vom DB-Fahrkartenautomaten ist ja keine Auskunft zu erwarten. Von den vielen anderen Passanten, die hier herumirren, ebenfalls nicht, es sei denn, Sie wollen sich von einem Kölner Urgestein mit den Worten "Ja, woher soll isch datt den wissen?" abbürsten lassen. Wie wäre es mit dem Informationstresen der Deutschen Bahn? Da stehen doch Menschen, die sich vielleicht grob in Köln auskennen. Selbst wenn dem so wäre: Die Warteschlange ist so lang, dass eher der Kölner Dom durch Regentropfen wegerodiert, bevor Sie auch nur in Sichtweite des Schalters kommen. Wo ist der Informationsschalter der Kölner Verkehrsbetriebe, und wenn es den schon nicht gibt, wo ist ein Fahrkartenautomat, dem man vielleicht noch eine Information entlocken könnte? Keine Ahnung, jedenfalls nicht dort, wo die anderen Automaten stehen.
Doch wozu hat der Nerd von Welt sein Notbook dabei? Vorhin beim Herumirren, da haben Sie doch einen T-Online-Hotspot gesehen. Wenn man sich da einen Internetzugang verschafft, die DB-Seiten aufruft und nach einer Verbindng sucht, müsste es doch klappen. Den Hotspot finden Sie nach einiger Suche, klappen das Notebook auf, suchen nach einem WLAN, suchen, suchen. Suchen.
Es gibt natürlich nicht nur ein WLAN, sondern ganz furchtbar viele, nur keins von T-On... halt, da war was. Mit der geringsten Signalstärke von allen. Direkt am Hotspot. Ah ja. Egal, Empfang haben wir ja. Da wäre nur das Problem: Wie loggt man sich an einem T-Online-Hotspot ein? Es ist nicht etwa so, als werde man beim ersten Seitenaufruf direkt zum Login geleitet. Statt dessen sieht man eine Werbeseite, die wortreich die Segnungen der verschiedenen T-Online-Tarife vorschwärmt. Da steht auch was von Hotspot, aber nur, was es kostet und wie man nach Hotspots sucht. In Köln soll es am Hauptbahnhof auch einen geben. Ach wirklich.
Da, auf der dritten oder vierten Unterseite findet man in einer Art Gebrauchsanweisung auch die Adresse, die man aufrufen muss. Das Login gelingt auch brav, die Seiten der Bahn bauen sich auf, und schon nach wenigen Augenblicken hat man die Verbindung zum Bahnhof Ehrenfeld. Nachdem man vorher zehn Minuten lang versucht hat, sich einzuloggen.
Bevor mir ein paar eingefleischte Kölner den Kommentarbereich mit "Wenn man runter zur Achchtzehn jeht, dann is da uff de Mennerklo in de Butzgammer en Schlüssel, mit dem kannste det Kessdsche in de zweite Glogabiine uffmachche, da hängt inge Dellefon, da gannse Moondachs zwische 8 Uur 14 un 9 Uur zwounzwansisch wen anruufe, der dir dat verzälle kann. (Und jetzt kommt's:) Dat muss man doch wissen." fluten. Nee, dat muss man eben nisch wissen. Wir sind im 21. Jahrhundert. Da erwarte ich am Hauptverkehrsknotenpunkt einer Stadt, die sich in frommer Übertreibung gern als Millionenmetropole sieht, dass man als Ortsunkundiger vielleicht 5, maximal 10 Minuten braucht, um sich zumindest mit öffentlichen Verkehrsmitteln wieder weiterbewegen zu können. Ich erwarte von einem bundesweit operierenden Unternehmen wie der Bahn, dass sie nach Jahrhunderten Geschäftsbetrieb mit einem System aufwarten kann, das es einem an einem beliebigen Bahnhof der Republik Gestrandeten ermöglicht, sich anhand eines einheitlichen und klaren Systems sofort zurechtzufinden, und ich erwarte von den örtlichen Verkehrsbetrieben, dass sie ihren Teil dazu beitragen. Ich habe hier Köln als Beispiel aufgeführt, aber ich hätte auch eine beliebige andere deutsche Großstadt nehmen können. Immer wieder lese ich Plakate, auf denen steht, dass es "Fremdenfeindlichkeit in unserer Stadt nicht gibt". Fremdenfeindlichkeit fängt ganz früh an. Beim Verlassen eines Zuges. Wie soll man sich als Fremder in einer Stadt willkommen fühlen, die verlangt, dass man erst einmal den örtlichen Straßenplan, das Busnetz und ein komplett zusammengekifftes Tarifsystem auswendig lernt, bevor man sich halbwegs gezielt in ihr bewegen kann? Ich will nicht für so etwas eine "Äpp" für mein "Ei-Fohn" "daunlohdn", ich will aus dem Zug steigen und mich zumindest grundsätzlich zurechtfinden, und dann, vielleicht dann stellt es sich ein, "dieses einzigartige Gefühl aus fröhlicher Lebensart, atmosphärischem Stadterlebnis und südländischem Flair, das keinen mehr los lässt. Und sofort Heimweh auslöst, wenn man nicht da sein kann."
Montag, 24. September 2012
Mythos Schwarmintelligenz
Die Masse macht's. Das Internet ist voll von Kommentaren, die das behaupten. Nimm nur reichlich Leute, heißt es, und schon evoziert das Kollektiv quasi ein höheres Bewusstsein, eine geistige Entität, die mehr ist als die Summe ihrer Einzelteile, getragen von der intellektuellen Energie tausender, ach was sag ich, zigtausender Gehirne - die Schwarmintelligenz eben.
Das ist etwa so, als wenn ich nur genug Schweinegülle in einen Tank pumpen müsste, und heraus kommt feinster Chardonnay.
Es mag ja sein, dass das Kollektiv den einen oder anderen Glückstreffer landet. In den meisten Fällen ist die Masse aber vor allem eins: bis an die Grenze der Erträglichkeit berechenbar. Nehmen wir zwei Beispiele:
Microsoft bringt ein neues - nennen wir es großzügig "Betriebssystem" - heraus. Es ist fast egal, welches genau wir nun nehmen, sei es Windows 95 mit Nachfolgern, Windows XP oder jetzt Windows 8. Microsoft fummelt kräftig am Benutzungskonzept herum, die Grafikdesigner ziehen ein paar Linien Koks extra durch und werfen mit verspielten Sperenzchen um sich wie Karnevalsprinzen mit Kamellen. Die Community reagiert mit Entsetzen. Wie konnte Microsoft nur die heiß geliebte, wenn auch völlig hirnverbrannte Menustruktur durch ein anderes nicht minder hirnverbranntes Konstrukt (Konzept kann man es wohl kaum nennen) ersetzen? Nein, diesmal sei Microsoft endgültig zu weit gegangen, jetzt ginge man zu Apple oder (man stelle sich vor, wie ich gerade vor Lachen brüllend am Boden liege) Linux. Nichts gegen Linux, ich setze es selbst seit eineinhalb Jahrzehnten ein, aber wer wegen der grafischen Oberfläche von Windows zu Linux wechselt, geht wahrscheinlich auch von den US Marines in die französische Fremdenlegion, weil die Ausbilder da netter sind. Auch die vielgerühmte bessere Benutzbarkeit der Mac-Oberfläche vermag sich mir nicht ganz zu erschließen. Apple, das sind doch die Typen, die zu einem Zeitpunkt, als alle Welt die Vorzüge von zwei Tasten und einem Scrollrad schätzte, stur Mäuse mit exakt einer Taste auslieferte und stolz herumtönte, was für eine grandiose Idee das doch sei. Apple, das sind doch die Typen, die das wichtigste Zeichen der Mailkommunikation hinter einer völlig uneinsichtigen Tastenkombination verstecken, während der Rest der Welt sich an international normierte Layouts hält.
Doch wir schweifen ab. Eigentlich ging es mir um die Maulhelden, die ungefragt jede Leserbriefspalte, jeden Forenkommentar damit volltönen, nun sei das Ende von Microsoft besiegelt, wenn sie, sie höchst persönlich, jetzt den Wechsel zu Apple oder sonstwohin vollzögen.
Hic Rhodos, hic salta. Man muss nur ein Vierteljahr später in die Wirtschaftsblätter schauen, in denen sich die Analysten vor Begeisterung überschlagen, wie das neue Windows wieder jeden Verkaufsrekord bricht.
Natürlich gibt es da noch die Anderen, die nicht minder dämlichen Fanboys, die ebenfalls die Forenkommentare fluten. Das neue Kacheldesign von Windows, verkünden sie, sei ja so prima, man hätte ja eh nie gewusst, wie man einen 22-Zoll-Bildschirm vernünftig ausnutzen soll, aber jetzt, mit diesen hubschrauberlandeplatzgroßen Schaltflächen, da sei endlich wieder alles voll, und erst die fantastische Idee mit diesen vier Bildschirmecken, in die man die Maus nur grob steuern müsste, um eine Aktion auszulösen. Tolle Sache, da muss man endlich nicht mehr präzise zielen, sondern es reiche schon eine ungefähre Bewegung in diese Richtung. Mit Verlaub, wir reden hier von der Grobmotorik eines Braunkohlebaggers, die hier dankenswerterweise unterstützt wird. Alle, die sich glücklich schätzen können, mit einem auch nur unwesentlich präziseren Bewegungsapparat gesegnet zu sein und vielleicht auch noch über genug Intelligenz verfügen, um verstanden zu haben, dass man Mäuse nicht steuert, indem man sich auf sie setzt und mit dem Hintern wackelt, sollten in der Lage sein, mit der Maus differenziertere Kommandos abzusetzen. Was aber ein echter Fanboy ist, der verteidigt seine Götzen blind, egal was sie anstellen. Der fände Windows selbst dann noch toll, wenn es ihnm unangekündigt die komplette Platte löscht - großartig, Gratis-Neuausrichtung der Elementarmagneten, was für ein tolles Feature, das kriegt man bei anderen Systemen nur viel umständlicher.
Zweites Beispiel: Irgendein Pseudoprominenter aus der vierten oder fünften Reihe bringt ein Buch heraus. Das ist in einer Zeit, in der nahezu alles Denk- und Meinbare in relativ kompakter Form im Netz gefunden werden und man es sich meist schenken kann, die auf 200 Seiten aufgeblähte Langfassung zu lesen, ohnehin schon ein gewagtes Unterfangen, aber fürs Ego ist es einfach schöner, ein Buch mit seinem Namen drauf im Regal statt auf einer Website stehen zu haben. Genau da liegt natürlich auch die Schwierigkeit. Nach wie vor meint so ziemlich jeder, der Subjekt und Prädikat halbwegs sauber voneinander trennen kann, seine geistige Leere in Buchform offenbaren zu müssen, weswegen weiterhin unfassbar große Mengen an Neuerscheinungen den Buchmarkt fluten. Wer hier bestehen will, braucht Aufmerksamkeit. Die könnte man durch Intelligenz zu erreichen versuchen, aber mangels ausreichender Ausstattung oder einfach auch aus wirtschaftlichen Erwägungen heraus verlegt man sich meist lieber aufs Grobe. Ob ein abgehalfteter Banker einmal ganz tief in die gleiche rassistische Klamottenkiste greift, in der eine geschasste Nachrichtenredakteurin gerade herumwühlt, oder die karrieresüchtige Lebensabschnittsgefährtin eines niedersächsischen Provinzfürsten, der ein paar Wochen lang den Sessel des höchsten deutschen Staatsamts warm hielt, bis wir nach vier Jahren wieder so etwas Ähnliches wie einen Bundespräsidenten hatten, einen Suchmaschinenhersteller verklagt, weil er die Realität abbildet - völlig egal, wie peinlich man sich anstellt, die Verkaufserlöse entschädigen schnell dafür, dass man von keinem empfindungsfähigen Wesen mehr ernst genommen wird. Wenn Sie mir nicht glauben: Raten Sie mal, wer gerade die Spiegel-Beststellerliste anführt, obwohl das Buch ausnahmslos Verrisse erntete.
Wäre der Schwarm wirklich so intelligent, wie er es von sich meint, er hätte schon längst Filter entwickelt, um solche Ereignisse angemessen zu behandeln. Er hätte neue Windowsversionen mit der gleichen Gelassenheit zur Kenntnis genommen, wie er die durchschaubaren Marketingtricks viertklassiger Buchautoren ignorierte und deren Machwerke in den Regalen verrotten ließe. Statt dessen - aber lassen wir das, ich rege mich nur wieder unnötig auf.
Das ist etwa so, als wenn ich nur genug Schweinegülle in einen Tank pumpen müsste, und heraus kommt feinster Chardonnay.
Es mag ja sein, dass das Kollektiv den einen oder anderen Glückstreffer landet. In den meisten Fällen ist die Masse aber vor allem eins: bis an die Grenze der Erträglichkeit berechenbar. Nehmen wir zwei Beispiele:
Microsoft bringt ein neues - nennen wir es großzügig "Betriebssystem" - heraus. Es ist fast egal, welches genau wir nun nehmen, sei es Windows 95 mit Nachfolgern, Windows XP oder jetzt Windows 8. Microsoft fummelt kräftig am Benutzungskonzept herum, die Grafikdesigner ziehen ein paar Linien Koks extra durch und werfen mit verspielten Sperenzchen um sich wie Karnevalsprinzen mit Kamellen. Die Community reagiert mit Entsetzen. Wie konnte Microsoft nur die heiß geliebte, wenn auch völlig hirnverbrannte Menustruktur durch ein anderes nicht minder hirnverbranntes Konstrukt (Konzept kann man es wohl kaum nennen) ersetzen? Nein, diesmal sei Microsoft endgültig zu weit gegangen, jetzt ginge man zu Apple oder (man stelle sich vor, wie ich gerade vor Lachen brüllend am Boden liege) Linux. Nichts gegen Linux, ich setze es selbst seit eineinhalb Jahrzehnten ein, aber wer wegen der grafischen Oberfläche von Windows zu Linux wechselt, geht wahrscheinlich auch von den US Marines in die französische Fremdenlegion, weil die Ausbilder da netter sind. Auch die vielgerühmte bessere Benutzbarkeit der Mac-Oberfläche vermag sich mir nicht ganz zu erschließen. Apple, das sind doch die Typen, die zu einem Zeitpunkt, als alle Welt die Vorzüge von zwei Tasten und einem Scrollrad schätzte, stur Mäuse mit exakt einer Taste auslieferte und stolz herumtönte, was für eine grandiose Idee das doch sei. Apple, das sind doch die Typen, die das wichtigste Zeichen der Mailkommunikation hinter einer völlig uneinsichtigen Tastenkombination verstecken, während der Rest der Welt sich an international normierte Layouts hält.
Doch wir schweifen ab. Eigentlich ging es mir um die Maulhelden, die ungefragt jede Leserbriefspalte, jeden Forenkommentar damit volltönen, nun sei das Ende von Microsoft besiegelt, wenn sie, sie höchst persönlich, jetzt den Wechsel zu Apple oder sonstwohin vollzögen.
Hic Rhodos, hic salta. Man muss nur ein Vierteljahr später in die Wirtschaftsblätter schauen, in denen sich die Analysten vor Begeisterung überschlagen, wie das neue Windows wieder jeden Verkaufsrekord bricht.
Natürlich gibt es da noch die Anderen, die nicht minder dämlichen Fanboys, die ebenfalls die Forenkommentare fluten. Das neue Kacheldesign von Windows, verkünden sie, sei ja so prima, man hätte ja eh nie gewusst, wie man einen 22-Zoll-Bildschirm vernünftig ausnutzen soll, aber jetzt, mit diesen hubschrauberlandeplatzgroßen Schaltflächen, da sei endlich wieder alles voll, und erst die fantastische Idee mit diesen vier Bildschirmecken, in die man die Maus nur grob steuern müsste, um eine Aktion auszulösen. Tolle Sache, da muss man endlich nicht mehr präzise zielen, sondern es reiche schon eine ungefähre Bewegung in diese Richtung. Mit Verlaub, wir reden hier von der Grobmotorik eines Braunkohlebaggers, die hier dankenswerterweise unterstützt wird. Alle, die sich glücklich schätzen können, mit einem auch nur unwesentlich präziseren Bewegungsapparat gesegnet zu sein und vielleicht auch noch über genug Intelligenz verfügen, um verstanden zu haben, dass man Mäuse nicht steuert, indem man sich auf sie setzt und mit dem Hintern wackelt, sollten in der Lage sein, mit der Maus differenziertere Kommandos abzusetzen. Was aber ein echter Fanboy ist, der verteidigt seine Götzen blind, egal was sie anstellen. Der fände Windows selbst dann noch toll, wenn es ihnm unangekündigt die komplette Platte löscht - großartig, Gratis-Neuausrichtung der Elementarmagneten, was für ein tolles Feature, das kriegt man bei anderen Systemen nur viel umständlicher.
Zweites Beispiel: Irgendein Pseudoprominenter aus der vierten oder fünften Reihe bringt ein Buch heraus. Das ist in einer Zeit, in der nahezu alles Denk- und Meinbare in relativ kompakter Form im Netz gefunden werden und man es sich meist schenken kann, die auf 200 Seiten aufgeblähte Langfassung zu lesen, ohnehin schon ein gewagtes Unterfangen, aber fürs Ego ist es einfach schöner, ein Buch mit seinem Namen drauf im Regal statt auf einer Website stehen zu haben. Genau da liegt natürlich auch die Schwierigkeit. Nach wie vor meint so ziemlich jeder, der Subjekt und Prädikat halbwegs sauber voneinander trennen kann, seine geistige Leere in Buchform offenbaren zu müssen, weswegen weiterhin unfassbar große Mengen an Neuerscheinungen den Buchmarkt fluten. Wer hier bestehen will, braucht Aufmerksamkeit. Die könnte man durch Intelligenz zu erreichen versuchen, aber mangels ausreichender Ausstattung oder einfach auch aus wirtschaftlichen Erwägungen heraus verlegt man sich meist lieber aufs Grobe. Ob ein abgehalfteter Banker einmal ganz tief in die gleiche rassistische Klamottenkiste greift, in der eine geschasste Nachrichtenredakteurin gerade herumwühlt, oder die karrieresüchtige Lebensabschnittsgefährtin eines niedersächsischen Provinzfürsten, der ein paar Wochen lang den Sessel des höchsten deutschen Staatsamts warm hielt, bis wir nach vier Jahren wieder so etwas Ähnliches wie einen Bundespräsidenten hatten, einen Suchmaschinenhersteller verklagt, weil er die Realität abbildet - völlig egal, wie peinlich man sich anstellt, die Verkaufserlöse entschädigen schnell dafür, dass man von keinem empfindungsfähigen Wesen mehr ernst genommen wird. Wenn Sie mir nicht glauben: Raten Sie mal, wer gerade die Spiegel-Beststellerliste anführt, obwohl das Buch ausnahmslos Verrisse erntete.
Wäre der Schwarm wirklich so intelligent, wie er es von sich meint, er hätte schon längst Filter entwickelt, um solche Ereignisse angemessen zu behandeln. Er hätte neue Windowsversionen mit der gleichen Gelassenheit zur Kenntnis genommen, wie er die durchschaubaren Marketingtricks viertklassiger Buchautoren ignorierte und deren Machwerke in den Regalen verrotten ließe. Statt dessen - aber lassen wir das, ich rege mich nur wieder unnötig auf.
Mittwoch, 29. August 2012
BKA-Trojaner geht um
Da sich in meinem Freundes- und Bekanntenkreis die Meldungen zu häufen beginnen, habe ich den Eindruck, dass die neueste Version des BKA-Trojaners virulenter als die bisherigen ist. Leider können oder wollen die Betroffenen nicht genau sagen, welche Seiten sie in der letzen Zeit angesteuert haben, aber es scheint mir unabhängig davon ein guter Rat, sich über die möglichen Konsequenzen im Klaren zu sein, wenn man tonganische Kinoplattformen ansteuert. Rechtlich mag man vielleicht noch einigermaßen sicher sein, aber selbst wenn man die dort lauernden Abofallen noch einigermaßen umgangen bekommt, traue ich persönlich dem Seitencode nicht weiter als ich dessen Entwickler werfen könnte.
Damit es auch der Letzte gelesen hat: Schutzgelderpressung gehört nicht zum Geschäftsmodell des BKA. Wir wissen zwar, dass deutsche Ermittlungsdienste mitunter ein sehr entspanntes Verhältnis zu Menschen- und Bürgerrechten pflegen, aber das Infizieren eines Privatrechners mit einer Software, die den gesamten Systemzugang sperrt verstößt so offensichtlich gegen so viele Gesetze gleichzeitig, dass eine auf positive Außenwirkung bedachte Behörde wie das BKA nicht auf solche Mittel zurückgriffe. Auch die GVU, die GEZ oder die GEMA, die schon längst jeden Versuch aufgegeben haben, ihre Geisteshaltung zu beschönigen, dürften nicht auf diese Weise Geld eintreiben. Davon abgesehen böte jede dieser Einrichtungen nicht-anonyme Zahlungsmethoden an.
Ich frage mich zweierlei: Was treiben einige Leute mit ihren Rechnern, wenn sie Meldungen wie diese ernst nehmen? Vor allem aber: Wie schlecht muss der Leumund dieser Institutionen sein, dass man ihnen solche klar widerrechtlichen Methoden zutraut?
Wer den Kram übrigens wieder loswerden will: https://www.botfrei.de/rescuecd.html und zwei bis drei Stunden sollten ausreichen. Sicherheitsexperten mögen sich angesichts der vollautomatischen Vorgehensweise der Software auf dieser CD die Nackenhaare sträuben, aber ich interessiere mich für Lösungen, die ich einem Laien in die Hand drücken kann. Sollte wider Erwarten die CD das System zerschießen, lernen die Betroffenen vielleicht endlich die zwei wichtigsten Regeln der Computerbenutzung: Wenn ihr nur einen Bruchteil der Zeit, die ihr auf Schmuddelseiten verbringt, zur Absicherung eures Systems aufwendet, kann euch nichts passieren. Zweitens: Legt euch endlich Backups an.
Damit es auch der Letzte gelesen hat: Schutzgelderpressung gehört nicht zum Geschäftsmodell des BKA. Wir wissen zwar, dass deutsche Ermittlungsdienste mitunter ein sehr entspanntes Verhältnis zu Menschen- und Bürgerrechten pflegen, aber das Infizieren eines Privatrechners mit einer Software, die den gesamten Systemzugang sperrt verstößt so offensichtlich gegen so viele Gesetze gleichzeitig, dass eine auf positive Außenwirkung bedachte Behörde wie das BKA nicht auf solche Mittel zurückgriffe. Auch die GVU, die GEZ oder die GEMA, die schon längst jeden Versuch aufgegeben haben, ihre Geisteshaltung zu beschönigen, dürften nicht auf diese Weise Geld eintreiben. Davon abgesehen böte jede dieser Einrichtungen nicht-anonyme Zahlungsmethoden an.
Ich frage mich zweierlei: Was treiben einige Leute mit ihren Rechnern, wenn sie Meldungen wie diese ernst nehmen? Vor allem aber: Wie schlecht muss der Leumund dieser Institutionen sein, dass man ihnen solche klar widerrechtlichen Methoden zutraut?
Wer den Kram übrigens wieder loswerden will: https://www.botfrei.de/rescuecd.html und zwei bis drei Stunden sollten ausreichen. Sicherheitsexperten mögen sich angesichts der vollautomatischen Vorgehensweise der Software auf dieser CD die Nackenhaare sträuben, aber ich interessiere mich für Lösungen, die ich einem Laien in die Hand drücken kann. Sollte wider Erwarten die CD das System zerschießen, lernen die Betroffenen vielleicht endlich die zwei wichtigsten Regeln der Computerbenutzung: Wenn ihr nur einen Bruchteil der Zeit, die ihr auf Schmuddelseiten verbringt, zur Absicherung eures Systems aufwendet, kann euch nichts passieren. Zweitens: Legt euch endlich Backups an.
Freitag, 27. Juli 2012
Wie man Projekte heroisch vergeigt
Vor einigen Monaten hatte ich Empfehlungen gegeben, wie man sicher stellen kann, ein Projekt grandios scheitern zu lassen. Zu meiner Freude befolgten viele Unternehmen meinen Rat, darunter zahlreiche weltweit operierende DAX-Unternehmen mit mehreren hunderttausend Mitarbeitern. Eine Frage tauchte jedoch immer wieder auf: Kann man das Ganze nicht noch optimieren? Wie kann man erreichen, dass man nicht nur einfach scheitert, sondern auch noch mit maximalem Verlust und vor allem: heroisch? Mit seinem Schiff untergehen kann schließlich jeder. Die Rettungsboote festketten und selbst dann noch auf der Brücke das Steuer halten, wenn das gesunkene Schiff hunderte Meter unter der Wasseroberfläche auf den Meeresboden knallt - das ist der Stoff, aus dem die Helden sind.
Auch hierfür gibt es selbstverständlich eine Strategie, die ich nun gern beschreibe.
Egal, wie die Anforderung lautet - sagen Sie zu, je aussichtsloser desto besser. Falls Sie einen Staudamm bauen sollen und Ihr einziges Werkzeug in einem Teelöffel besteht, prahlen Sie damit, dass Sie es in einer Woche schaffen und die Sache nicht mehr kostet als ein Burger mit Cola. Sollte die Konkurrenz schon ein ähnliches Angebot unterbreitet haben - kein Problem. Zur Not behaupten Sie, der Staudamm sei praktisch schon gebaut und das Teuerste daran sei die Atemluft gewesen, die man beim Bauen verbraucht hat. Natürlich wird Ihr Auftraggeber schon Sekunden nach Vertragsabschluss begreifen, dass Sie ihn nach Strich und Faden belogen haben, aber wen kümmert das? Auch unzufriedene Kunden sind Kunden. Hauptsache, sie zahlen. Ach ja, Sie haben versprochen, dass Sie praktisch gratis arbeiten. Umso besser, dann haben Sie Ihr Ziel der Kostenmaximierung schon fast erreicht. Merke: Wahre Helden kennen das Wort "unmöglich" nicht.
Fußte Ihre Projektzusage schon auf so fundierten Annahmen wie der plötzlichen Entdeckung des Warpantriebs und dass Ihre sämlichen Mitarbeiter einen Hogwarts-Abschluss mit Auszeichnung in der Tasche haben, so besteht natürlich das geringe Risiko, dass Sie es irgendwie noch schaffen könnten. Um dieser Gefahr zu begegnen, sollten Sie alle kritischen Termine in die Schulferienzeit legen, wenn Ihre halbe Belegschaft Urlaub genommen hat. Die übrig Gebliebenen müssen unbedingt die Vertretungen und nicht etwa die Hauptmitarbeiter sein. Je weniger praktische Erfahrungen die Mitarbeiter in Ihrem Projekt haben, desto besser. Merke: Egal, wie hoch sich die Schwierigkeiten türmen - wahre Helden stehen drüber.
Sie können sich also sicher sein, dass Ihre Leute keinen blassen Schimmer haben. Sehr gut, lassen Sie sie das spüren. Werfen Sie ihnen vor, sie hätten sich nicht ordentlich eingearbeitet. Es darf keinesfalls auch nur ein Funken Motivation entstehen, der das Projekt noch retten könnte.
Wenn Sie jedoch meine ehrliche Meinung hören wollen: Das ist alles noch viel zu billig. Jetzt hat Ihre große Stunde geschlagen. Verkünden Sie, dass den Luschen in Ihrer Abteilung leider das nötige Wissen fehlt und dass Sie jetzt zu ihrer Unterstützung einen externen Dienstleister beauftragen werden. Gehen Sie bei Ihrer Wahl sorgfältig vor. Wenn Ihre Leute einen Tomcatspezialisten mit Unixerfahrungim Rechenzentrumsumfeld suchen, schicken Sie ihnen einen Oracle-Datenbankadministrator, der bisher nur auf Einzelplatzsystemen mit direktem Konsolenzugriff gearbeitet hat. Sagen Sie, auf die Schnelle sei nur dieser Experte greifbar gewesen, und Oracle könnte ja auch irgendwie Applikationen. Lenken Sie Ihre Mitarbeiter maximal von ihrer eigentlichen Aufgabe ab, indem sie die Externen einarbeiten müssen. Wenn Sie ganz sicher gehen wollen, holen Sie sich den einzigen Spezialisten in Fernost, der weder Deutsch noch Englisch vernünftig spricht und sich hierzu der einzigen noch im Betrieb befindlichen analogen Telefonleitung bedient. Ein Unix-Admin, der seine Zeit damit verbringt, den Externen in einem heillosen Kauderwelsch beizubringen, wie Putty unter Windows funktioniert, ist aus Ihrer Sicht genau richtig eingesetzt. Auf diese Weise schlagen sie vier Fliegen mit einer Klappe: Die Kosten steigen, der Zeitplan wird enger, die Internen frustrierter, und die Externen bekommen auf Ihre Kosten eine Ausbildung. Das Beste ist jedoch: Das Theater bringt ihr Projekt keinen Millimeter voran. Im Gegenteil: Die Externen sammeln zwar banales, aber für den Betrieb unentbehrliches Wissen, das sie natürlich nicht dokumentieren. Sie werden grauenhaft verknotete Skripte schreiben, deren Analyse praktisch unmöglich ist und somit die Externen für Jahre mit der Aufgabe versorgt, das von ihnen selbst angerichtete Chaos halbwegs zu kontrollieren. Merke: Wahre Helden wissen immer einen Ausweg.
Die ganze Denkerei wird auf Dauer anstrengend, nicht wahr? Keine Angst, niemand erwartet das von Ihnen. Ihre Aufgabe als Chef besteht vielmehr darin, sich zu gebärden, als hätte man Claudia Roth mit Guido Westerwelle gekreuzt. Statt sich um den Fortgang Ihres Projekts zu kümmern, geben Sie Parolen aus. "Just make it happen" zum Beispiel sollte Ihr Standardspruch sein, falls ein aufmüpfiger Angestellter es wagt, einen Abgleich zwischen den von Ihnen gesteckten Zielen und der Realität zu schaffen. "Ich suche nicht, ich finde", lautet Ihre Antwort, wenn sich herausstellt, dass die Suchmaschine Ihres Intranets nur Blödsinn liefert. "Wenn Sie nicht Teil der Lösung sind, sind Sie Teil des Problems", sagen Sie, wenn selbst der Hausmeister gemerkt hat, dass Ihre Idee nie funktionieren wird.
Parolen allein sind natürlich nur der Anfang. Saugen Sie sich eine Kampagne aus den Fingern. Zwingen Sie Ihre Mitarbeiter, sich kampagnenintern für Fähigkeiten zu zertifizieren, die außerhalb der Unternehmens (und optimalerweise auch innerhalb) nicht den leisesten Sinn ergeben. Berufen Sie tägliche Statussitzungen ein und sprechen Sie dabei über Dinge, die sie Minuten vorher in ihrem Managerhochglanzmagazin aufgeschnappt haben. Merke: Wahre Helden lachen der Katastrophe ins Gesicht.
Sie erinnern sich an diese Parole aus dem vorherigen Absatz? Die gilt natürlich nur, wenn sie Ihnen Arbeit vom Hals hält. In allen anderen Fällen hält man sich selbstverständlich an die Regeln. Das lässt sich übrigens großartig kombinieren. Wenn ein Mitarbeiter darüber klagt, dass er wegen fehlender Firewallfreischaltungen auf ein bestimmtes System nicht zugreifen kann, bestehen Sie darauf, dass er hierzu bei der Netzadministration ein Ticket eröffnet, das eine Abarbeitungszeit von mehreren Tagen hat. Das verwendete Formular sollte dabei unbedingt Fragen aufweisen, die der Mitarbeiter nicht beantworten kann. Fragen Sie beispielsweise den Netzwerknamen der Firewall ab, auf der die Freischaltung erfolgen soll. Wenn Sie sich besonders schlau anstellen wollen, lassen Sie nicht den Betroffenen die Firewallregel beantragen, sondern benennen Sie einen Anderen und versehen ihn mit möglichst unpräzisen Informationen, etwa diesen: "Schalte Henry für die Server frei, so wie die Anderen auch". Gleichzeitig zwingen Sie einen weiteren Mitarbeiter, dessen Rechner über die entsprechenden Freischaltungen verfügt, sein System mit einer Teamviewersitzung für den blockierten Mitarbeiter zu öffnen, damit er den Rechner als Sprungsystem nutzen kann. Das verstößt zwar gegen alle Sicherheitsrichtlinien, aber hey, erstens ist es nicht Ihr Rechner, und zweitens haben Sie auf diese Weise den Mitarbeiter, der gerade seinen Rechner freigibt, zu tatenlosen Zuschauen verdonnert. That's the spririt! Merke: Wahre Helden kümmern sich nicht um Klein-Klein.
Berlin, April 1945, Führerbunker. Hitler sitzt mit seinem Stab zusammen und befehligt Armeen, die längst nicht mehr existieren. Von einigen seiner Offiziere schließlich auf die schnöden Widrigkeiten der Realität hingewiesen, liefert er eine Rede, die man als die Geburtsstunde modernen Managements ansehen kann. Seminare für Führungskräfte sollten den Film "der Untergang" zeigen - nicht als Warnung, sondern als leuchtendes Beispiel dafür, wie Leitungsebenen durch alle Zeitalter hindurch ihre menschlichen Ressourcen wertschätzen. Merke: Dazz waa ein Befeel!
Das alles ist natürlich nur der Anfang. Sie können diese Strategie noch weiter perfektionieren. Je größer das Unternehmen, je epischer Ihr Versagen, je gewaltiger der versenkte Geldbetrag, desto größer sind die Chancen, dass Sie bei der nächsten Bonizahlung ganz weit oben auf der Liste stehen. Also frisch ans Werk.
Auch hierfür gibt es selbstverständlich eine Strategie, die ich nun gern beschreibe.
Reißen Sie den Mund auf
Egal, wie die Anforderung lautet - sagen Sie zu, je aussichtsloser desto besser. Falls Sie einen Staudamm bauen sollen und Ihr einziges Werkzeug in einem Teelöffel besteht, prahlen Sie damit, dass Sie es in einer Woche schaffen und die Sache nicht mehr kostet als ein Burger mit Cola. Sollte die Konkurrenz schon ein ähnliches Angebot unterbreitet haben - kein Problem. Zur Not behaupten Sie, der Staudamm sei praktisch schon gebaut und das Teuerste daran sei die Atemluft gewesen, die man beim Bauen verbraucht hat. Natürlich wird Ihr Auftraggeber schon Sekunden nach Vertragsabschluss begreifen, dass Sie ihn nach Strich und Faden belogen haben, aber wen kümmert das? Auch unzufriedene Kunden sind Kunden. Hauptsache, sie zahlen. Ach ja, Sie haben versprochen, dass Sie praktisch gratis arbeiten. Umso besser, dann haben Sie Ihr Ziel der Kostenmaximierung schon fast erreicht. Merke: Wahre Helden kennen das Wort "unmöglich" nicht.
Achten Sie auf Ferienzeiten
Fußte Ihre Projektzusage schon auf so fundierten Annahmen wie der plötzlichen Entdeckung des Warpantriebs und dass Ihre sämlichen Mitarbeiter einen Hogwarts-Abschluss mit Auszeichnung in der Tasche haben, so besteht natürlich das geringe Risiko, dass Sie es irgendwie noch schaffen könnten. Um dieser Gefahr zu begegnen, sollten Sie alle kritischen Termine in die Schulferienzeit legen, wenn Ihre halbe Belegschaft Urlaub genommen hat. Die übrig Gebliebenen müssen unbedingt die Vertretungen und nicht etwa die Hauptmitarbeiter sein. Je weniger praktische Erfahrungen die Mitarbeiter in Ihrem Projekt haben, desto besser. Merke: Egal, wie hoch sich die Schwierigkeiten türmen - wahre Helden stehen drüber.
Kaufen Sie externe Hilfe
Sie können sich also sicher sein, dass Ihre Leute keinen blassen Schimmer haben. Sehr gut, lassen Sie sie das spüren. Werfen Sie ihnen vor, sie hätten sich nicht ordentlich eingearbeitet. Es darf keinesfalls auch nur ein Funken Motivation entstehen, der das Projekt noch retten könnte.
Wenn Sie jedoch meine ehrliche Meinung hören wollen: Das ist alles noch viel zu billig. Jetzt hat Ihre große Stunde geschlagen. Verkünden Sie, dass den Luschen in Ihrer Abteilung leider das nötige Wissen fehlt und dass Sie jetzt zu ihrer Unterstützung einen externen Dienstleister beauftragen werden. Gehen Sie bei Ihrer Wahl sorgfältig vor. Wenn Ihre Leute einen Tomcatspezialisten mit Unixerfahrungim Rechenzentrumsumfeld suchen, schicken Sie ihnen einen Oracle-Datenbankadministrator, der bisher nur auf Einzelplatzsystemen mit direktem Konsolenzugriff gearbeitet hat. Sagen Sie, auf die Schnelle sei nur dieser Experte greifbar gewesen, und Oracle könnte ja auch irgendwie Applikationen. Lenken Sie Ihre Mitarbeiter maximal von ihrer eigentlichen Aufgabe ab, indem sie die Externen einarbeiten müssen. Wenn Sie ganz sicher gehen wollen, holen Sie sich den einzigen Spezialisten in Fernost, der weder Deutsch noch Englisch vernünftig spricht und sich hierzu der einzigen noch im Betrieb befindlichen analogen Telefonleitung bedient. Ein Unix-Admin, der seine Zeit damit verbringt, den Externen in einem heillosen Kauderwelsch beizubringen, wie Putty unter Windows funktioniert, ist aus Ihrer Sicht genau richtig eingesetzt. Auf diese Weise schlagen sie vier Fliegen mit einer Klappe: Die Kosten steigen, der Zeitplan wird enger, die Internen frustrierter, und die Externen bekommen auf Ihre Kosten eine Ausbildung. Das Beste ist jedoch: Das Theater bringt ihr Projekt keinen Millimeter voran. Im Gegenteil: Die Externen sammeln zwar banales, aber für den Betrieb unentbehrliches Wissen, das sie natürlich nicht dokumentieren. Sie werden grauenhaft verknotete Skripte schreiben, deren Analyse praktisch unmöglich ist und somit die Externen für Jahre mit der Aufgabe versorgt, das von ihnen selbst angerichtete Chaos halbwegs zu kontrollieren. Merke: Wahre Helden wissen immer einen Ausweg.
Denken Sie in kurzen Zeiträumen
Was bei Druckern funktioniert, klappt natürlich auch woanders: Lächerlich geringe Anschaffungskosten ködern Kunden, die man dann mit exorbitant hohen Betriebsausgaben ausnimmt. Wenn Ihnen zwei Angebote vorliegen, von denen das eine das gesamte Paket, das andere nur Basisleistungen umfasst, aber natürlich etwas billiger ist, wählen Sie unbedingt das zweite. Ihre Vorgesetzen und die Aktionäre sind ebensolche Luschen in Mathematik wie Sie und werden es Ihnen danken. Die in der Folge auftauchenden Mehrausgaben dürfen Sie als völlig überraschende und entsprechend nicht budgetierte Sonderkosten verbuchen. Damit konnte nun wirklich niemand rechnen.Um das Minus wenigstens einigermaßen auszugleichen, müssen Sie freilich an anderer Stelle sparen. Egal, ob Sie bei dieser Gelegenheit einen internen Experten rauswerfen oder einen dringend benötigten Server streichen, sollten Sie immer im Auge behalten, das Projekt maximal zu behindern. Setzen Sie auf schnelle Erfolge statt auf langfristige Qualität. Ihre Leute könnten langsam und sorgfältig ein Produkt erstellen, dass lange zuverlässig funktioniert und sich leicht warten lässt. Das ist aber nichts für Helden. Rennen Sie durch Ihre Abteilung, schreien Sie Ihre Leute an, Sie wollen endlich Ergebnisse sehen. Treiben Sie Ihre Mitarbeiter an, hektisch etwas zusammenzufrickeln, was gerade einmal die Abnahmetests übersteht, von dem keiner weiß, warum es überhaupt funktioniert und das einen Tag nach Produktivstellung katastrophale Fehlfunktionen aufweist. Merke: Wahre Helden brocken ein, sie baden nicht aus.Ersetzen Sie Hilfe durch Hirnwäsche
Die ganze Denkerei wird auf Dauer anstrengend, nicht wahr? Keine Angst, niemand erwartet das von Ihnen. Ihre Aufgabe als Chef besteht vielmehr darin, sich zu gebärden, als hätte man Claudia Roth mit Guido Westerwelle gekreuzt. Statt sich um den Fortgang Ihres Projekts zu kümmern, geben Sie Parolen aus. "Just make it happen" zum Beispiel sollte Ihr Standardspruch sein, falls ein aufmüpfiger Angestellter es wagt, einen Abgleich zwischen den von Ihnen gesteckten Zielen und der Realität zu schaffen. "Ich suche nicht, ich finde", lautet Ihre Antwort, wenn sich herausstellt, dass die Suchmaschine Ihres Intranets nur Blödsinn liefert. "Wenn Sie nicht Teil der Lösung sind, sind Sie Teil des Problems", sagen Sie, wenn selbst der Hausmeister gemerkt hat, dass Ihre Idee nie funktionieren wird.
Parolen allein sind natürlich nur der Anfang. Saugen Sie sich eine Kampagne aus den Fingern. Zwingen Sie Ihre Mitarbeiter, sich kampagnenintern für Fähigkeiten zu zertifizieren, die außerhalb der Unternehmens (und optimalerweise auch innerhalb) nicht den leisesten Sinn ergeben. Berufen Sie tägliche Statussitzungen ein und sprechen Sie dabei über Dinge, die sie Minuten vorher in ihrem Managerhochglanzmagazin aufgeschnappt haben. Merke: Wahre Helden lachen der Katastrophe ins Gesicht.
Just don't make it happen
Sie erinnern sich an diese Parole aus dem vorherigen Absatz? Die gilt natürlich nur, wenn sie Ihnen Arbeit vom Hals hält. In allen anderen Fällen hält man sich selbstverständlich an die Regeln. Das lässt sich übrigens großartig kombinieren. Wenn ein Mitarbeiter darüber klagt, dass er wegen fehlender Firewallfreischaltungen auf ein bestimmtes System nicht zugreifen kann, bestehen Sie darauf, dass er hierzu bei der Netzadministration ein Ticket eröffnet, das eine Abarbeitungszeit von mehreren Tagen hat. Das verwendete Formular sollte dabei unbedingt Fragen aufweisen, die der Mitarbeiter nicht beantworten kann. Fragen Sie beispielsweise den Netzwerknamen der Firewall ab, auf der die Freischaltung erfolgen soll. Wenn Sie sich besonders schlau anstellen wollen, lassen Sie nicht den Betroffenen die Firewallregel beantragen, sondern benennen Sie einen Anderen und versehen ihn mit möglichst unpräzisen Informationen, etwa diesen: "Schalte Henry für die Server frei, so wie die Anderen auch". Gleichzeitig zwingen Sie einen weiteren Mitarbeiter, dessen Rechner über die entsprechenden Freischaltungen verfügt, sein System mit einer Teamviewersitzung für den blockierten Mitarbeiter zu öffnen, damit er den Rechner als Sprungsystem nutzen kann. Das verstößt zwar gegen alle Sicherheitsrichtlinien, aber hey, erstens ist es nicht Ihr Rechner, und zweitens haben Sie auf diese Weise den Mitarbeiter, der gerade seinen Rechner freigibt, zu tatenlosen Zuschauen verdonnert. That's the spririt! Merke: Wahre Helden kümmern sich nicht um Klein-Klein.
Gewinnen Sie Abstand zur Realität
Berlin, April 1945, Führerbunker. Hitler sitzt mit seinem Stab zusammen und befehligt Armeen, die längst nicht mehr existieren. Von einigen seiner Offiziere schließlich auf die schnöden Widrigkeiten der Realität hingewiesen, liefert er eine Rede, die man als die Geburtsstunde modernen Managements ansehen kann. Seminare für Führungskräfte sollten den Film "der Untergang" zeigen - nicht als Warnung, sondern als leuchtendes Beispiel dafür, wie Leitungsebenen durch alle Zeitalter hindurch ihre menschlichen Ressourcen wertschätzen. Merke: Dazz waa ein Befeel!
Das alles ist natürlich nur der Anfang. Sie können diese Strategie noch weiter perfektionieren. Je größer das Unternehmen, je epischer Ihr Versagen, je gewaltiger der versenkte Geldbetrag, desto größer sind die Chancen, dass Sie bei der nächsten Bonizahlung ganz weit oben auf der Liste stehen. Also frisch ans Werk.
Sonntag, 10. Juni 2012
Sehnse, dat is Berlin
Internet-Meme interessieren mich - so leer ist mein Leben.
Wahrscheinlich ist es ein Armutszeugnis für mich, aber ich finde es hoch spannend, wenn scheinbar aus dem Nichts ein Satz oder Bild auftaucht, das in den Leuten etwas zündet. Die Meisten schicken einfach den Link weiter, einige aber ändern etwas am Bild, schreiben einen lustigen Kommentar, und das Mem entwickelt sich weiter.
Manchmal bekommt die Sache dann eine Wendung, bei der man nachdenklich wird. So geht seit Freitag ein Bild im Netz herum, das einen nackten Mann in der U-Bahn zeigt, der entspannt dahingelümmelt mit einem Bier in der Hand aus dem Fenster guckt. Das Foto wurde mit dem Einverständnis des Mannes aufgenommen.
Die Kommentare dazu ("Planking", "Füße auf dem Sitz" oder "Wo der wohl seine Fahrkarte stecken hat?") fielen bisweilen sehr komisch aus. Jetzt aber meldet sich ein Blogger, den es zutiefst beschämt, das Foto eines Mannes verbreitet zu haben, von dem sich jetzt herausstellte, dass er geistig behindert ist und deswegen möglicherweise die Folgen seines Handelns nicht abschätzen konnte, als er die Zustimmung zu dem Foto gab.
Rechtlich ist die Sache damit klar. In einer Hinsicht möchte ich aber dem Blogger widersprechen. Ich glaube nämlich nicht, dass sich das Netz gerade über diesen Mann lustig macht. Natürlich wird es immer ein paar Idioten geben, die ihr ganzes Selbstwertgefühl aus dem verzweifelten Versuch speisen, mit allen Mitteln irgendetwas zu suchen, auf das sie herabblicken können. Die werden sich auch über diesen Mann das Maul zerreißen. In meinen Augen sagt das Foto aber etwas Anderes aus.
Zuallererst gibt es wohl kaum etwas Wehrloseres und Friedlicheres als einen untrainiert wirkenden nackten Menschen. Gleichzeitig durchbricht der Mann ein gesellschaftliches Tabu und wirkt zumindest im Kontext einer U-Bahn in einer Millionenmetropole schon fast wieder bedrohlich. Auf welche Idee könnte er als nächstes kommen? Aber so, wie er da sitzt, scheint er nicht auf Streit aus zu sein. Gleichzeitig wird er auch von niemandem angepöbelt. Insgesamt ist für mich das Foto eine großartige Werbung für Berlin: Egal, wie eigenartig du im Rest der Republik wirken magst, hier in Berlin ist das normal, da sind nämlich alle so.
Wahrscheinlich ist es ein Armutszeugnis für mich, aber ich finde es hoch spannend, wenn scheinbar aus dem Nichts ein Satz oder Bild auftaucht, das in den Leuten etwas zündet. Die Meisten schicken einfach den Link weiter, einige aber ändern etwas am Bild, schreiben einen lustigen Kommentar, und das Mem entwickelt sich weiter.
Manchmal bekommt die Sache dann eine Wendung, bei der man nachdenklich wird. So geht seit Freitag ein Bild im Netz herum, das einen nackten Mann in der U-Bahn zeigt, der entspannt dahingelümmelt mit einem Bier in der Hand aus dem Fenster guckt. Das Foto wurde mit dem Einverständnis des Mannes aufgenommen.
Die Kommentare dazu ("Planking", "Füße auf dem Sitz" oder "Wo der wohl seine Fahrkarte stecken hat?") fielen bisweilen sehr komisch aus. Jetzt aber meldet sich ein Blogger, den es zutiefst beschämt, das Foto eines Mannes verbreitet zu haben, von dem sich jetzt herausstellte, dass er geistig behindert ist und deswegen möglicherweise die Folgen seines Handelns nicht abschätzen konnte, als er die Zustimmung zu dem Foto gab.
Rechtlich ist die Sache damit klar. In einer Hinsicht möchte ich aber dem Blogger widersprechen. Ich glaube nämlich nicht, dass sich das Netz gerade über diesen Mann lustig macht. Natürlich wird es immer ein paar Idioten geben, die ihr ganzes Selbstwertgefühl aus dem verzweifelten Versuch speisen, mit allen Mitteln irgendetwas zu suchen, auf das sie herabblicken können. Die werden sich auch über diesen Mann das Maul zerreißen. In meinen Augen sagt das Foto aber etwas Anderes aus.
Zuallererst gibt es wohl kaum etwas Wehrloseres und Friedlicheres als einen untrainiert wirkenden nackten Menschen. Gleichzeitig durchbricht der Mann ein gesellschaftliches Tabu und wirkt zumindest im Kontext einer U-Bahn in einer Millionenmetropole schon fast wieder bedrohlich. Auf welche Idee könnte er als nächstes kommen? Aber so, wie er da sitzt, scheint er nicht auf Streit aus zu sein. Gleichzeitig wird er auch von niemandem angepöbelt. Insgesamt ist für mich das Foto eine großartige Werbung für Berlin: Egal, wie eigenartig du im Rest der Republik wirken magst, hier in Berlin ist das normal, da sind nämlich alle so.
Samstag, 26. Mai 2012
My little Congress
Sigint 2012 in Köln
Nach einem Jahr Pause ruft der CCC zur zweiten Großveranstaltung neben dem Congress, und die Nerds kommen - nicht so zahlreich wie nach Berlin, aber genug, um eine angenehme Atmosphäre aufkommen zu lassen. Geboten wird, was das Herz begehrt: ein reichhaltiges Vortragsprogramm, Workshops, Ausstellungsfläche und zwei Bars mit viel Mate.
Überragende Neuigkeiten gab es nicht, dafür umso mehr Analysen und Positionsbestimmungen. Wo sind wir gerade? Diese Frage beantwortete Constanze Kurz hinsichtlich des Bundestrojaners. Udo Vetter vertiefte weiter, worauf man im Fall einer Hausdurchsuchung und beim Kontakt mit Ermittlungsbehörden allgemein achten sollte. Ein ähnliches Thema bearbeitete Dominik Boecker, der darüber aufklärte, wie Bundestrojaner und TKÜ eingesetzt werden dürfen. Die Aktivistinnen des FoeBuD stellten ihr bereits im Dezember letzten Jahres gestartetes Social Swarm Projekt vor, das sich zum Ziel gesetzt hat, datenschutzfreundliche Alternativen zu den großen sozialen Netzen zu bieten. Malte Spitz referierte über den aktuellen Stand der Vorratsdatenspeicherung. Am Rande der Veranstaltung zog der AK Zensus Bilanz, der vor zwei Jahren auf der Sigint als Widerstandsbewegung gegen die Volkszählung ins Leben gerufen wurde. Mehrere Vorträge kümmerten sich um den Eigentumsbegriff. Dass man Clickjacking nicht als alten Hut abtun sondern in seiner aktuellen Form des UI-Redressings sehr ernst nehmen sollte, verdeutlichte Marcus Niemietz. Schon mehr eine Kunstaktion als ein Vortrag waren Benjamin Fuhrmannecks Betrachtungen zum Spam.
Einer der Höhepunkte der Sigint 12 war aus meiner Sicht die Keynote Stephan Urbachs am zweiten Tag, der mit der Ausrede aufräumte, als Hacker beschäftige man sich nur mit der Technik, und was die Anderen damit anstellten, läge außerhalb des eigenen Einflussbereichs. In seiner großartig vorgetragenen Rede stellte er klar: Wir haben Verantwortung, wir können uns nicht herausreden, wir haben die Pflicht, aktiv zu werden.
Der mit Abstand am besten besuchte Vortrag war auch gleichzeitig der, um den es im Vorfeld die meisten Diskussionen gegeben hatte. Das Thema habe beim CCC nichts zu suchen, hieß es. Dass dem sogar zwei Stunden eingeräumt würden, stelle erstens den Sinn der ganzen Sigint in Frage und werfe Zweifel auf, ob der CCC noch in die richtige Richtung steuere. Was war passiert? Hatte Jörg Zierke den Vereinsvorsitz übernommen? Hatte Constanze Kurz erklärt, die Sicherheit der Bürger könne nur durch den Polizeistaat angemessen gewährleistet werden? Nein, es ging um Ponys. Nicht die dicken, stinkenden Viecher, die einem den Stall zukoten, sondern Zeichentrickfiguren. Ich erinnere mich noch mit Grausen an diese furchtbaren, in Cremefarben gehaltenen Puppen mit den übertrieben langen Haaren, die in den Achtzigern die Zimmer kleiner Mädchen verkitschten. Inzwischen wurde zumindest die Form der verkaufsfördernden Zeichentrickserie optisch kräftig modernisiert, was absurderweise dazu führte, dass nicht nur Kinder, sondern auch viele Erwachsene ihr Herz für die Serie entdecken. Das alles wäre für den CCC nicht weiter wichtig, fände sich nicht ausgerechnet ein besonders aktiver Teil der erwachsenen Ponyfans in seinem Umfeld. Einige von ihnen haben sogar einen Podcast zu diesem Thema, was Anlass für die Sigint-Organisatoren war, diese Leute einzuladen.
Der Vortragsbeginn rückte näher, und auf einmal füllten sich die Flure mit Fans des Podcasts. Einige von ihnen waren sogar ohne Zögern bereit, 30 € für ein Tagesticket zu zahlen, nur um dabei sein zu können. Als es losging, war schnell klar: Das Ganze mag wenig mit Technik und Hacking im engen Sinn gemein haben, aber es geht klar um ein Stück Nerdkultur. Die Referentinnen führten unterhaltsam durch die Vergangenheit und Gegenwart des Ponyphänomens, erklärten die Geisteshaltung der Fans und zeigten viele Bilder aus der Serie. Selbst wenn man den Vortrag nur nach Publikumsgröße und Stimmung beurteilt, war er ein Erfolg.
Doch noch ein anderer Punkt war interessant: das Flauschen. Gemeint ist das Gegenteil eines Shitstorms, also das betont aufmuternde und positive Behandeln eines Menschen. Davon abgesehen, dass es wirklich immer wieder schön ist, von seiner Umwelt ein wenig Zuwendung zu erfahren, berührt diese Verhaltensweise einen Punkt, der seit der Hippiebewegung von jeder Generation neu entdeckt werden muss: Kaum etwas ist entwaffnender, kaum etwas reizt mehr, kaum etwas ist schwerer angemessen zu handhaben als jemand, der auf Agression mit übertriebener Freundlichkeit antwortet. Im Prinzip handelt es sich um eine Kampftaktik der frühen Christen: Schlag mir ins Gesicht, und ich lächle dich an, weil ich weiß, dass du ein armer Sünder bist, dem ich vergebe und mit dem ich Mitleid habe. Kann man jemandem noch deutlicher zeigen, wie weit man sich ihm überlegen wähnt? Kann man jemanden noch schneller zur Weißglut treiben?
Was ist die Sigint und was will sie sein? Grob gesagt ist sie der Sommer-Congress - mit etwa 700 Teilnehmern deutlich kleiner, aber vom Zeitpunkt sehr gut geeignet für eine Halbjahresbilanz. Findet der Congress fast am östlichsten Rand der Republik statt, liegt der Veranstaltungsort der Sigint knapp vor der Westgrenze, was denen entgegen kommt, die nicht für jede größere CCC-Veranstaltung stundenlang Richtung Berlin reisen wollen. Die vergleichsweise geringe Teilnehmerinnenzahl mag etwas den Woodstock-Charakter dämpfen, dafür hat man aber um diese Jahreszeit in der Kölner Gegend eine hohe Wahrscheinlichkeit für sommerliche Temperaturen, so dass man sich auch einmal für ein paar Stunden draußen hinsetzen und auf einer Wiese die Sonne genießen kann. Versuchen Sie das Ende Dezember auf dem Alexanderplatz.
Das Komed als Austragungsort ist zwar ganz nett, allerdings zerreißt die Aufteilung in zwei Gebäude die Veranstaltung, und man kommt sich beim Weg zum großen Vortragssaal etwas verloren vor. So gesehen hat die Sigint genau mit den umgekehrten Schwierigkeiten des Congress zu kämpfen, der bekanntlich aus allen Nähten platzt.
Damit wären wir auch beim größten Plus der Sigint angelangt: Sie ist viel entspannter als der Congress. Wer eins der - mit unterschiedlos 60 € zugegeben nicht gerade billigen - Dauertickets haben will, bekommt eins und muss nicht als 1337 |-|4X0r ein Skript zusammenzimmern. Wer einen Vortrag besuchen möchte, geht einfach hin. Schlimmstenfalls muss man stehen, aber dass der Saal wegen Überfüllung geschlossen werden muss, kommt nicht vor. Herrscht auf dem Congress eher die Atmosphäre der gegenseitigen bedingungslosen Akzeptanz, geht die Stimmung auf der Sigint noch einen Schritt weiter: Wir beide sind Nerds, also gibt es interessante Dinge, die wir voneinander erfahren können.
Was sich auf dem Congress bereits zeigt, merkt man auf der Sigint noch deutlicher: Der CCC war nie und ist nicht eine reine Technikervereinigung, sondern sieht sich als Treffpunkt der Hackerkultur, zu der nun einmal auch bizarre Erscheinungen wie Ponyfilme gehören. Wer einem Nerd vorwirft, infantil zu sein, stellt damit die Quelle seiner Kreativität in Frage. Die Stärke des Clubs besteht gerade darin, diesen verschiedenen Strömungen ein Zuhause und eine Möglichkeit zum Austausch zu bieten. Sieht sich der Congress mit einem mehr technischem Schwerpunkt, bietet die Sigint mehr Möglichkeiten zum Experimentieren und nach meinem Empfinden auch mehr Zeit, miteinander ins Gespräch zu kommen.
Bis zum nächsten Jahr.
Samstag, 12. Mai 2012
Warum ich die Piraten wähle
"Dann guck dir den Haufen doch mal an. Nicht mal ein ordentliches Wahlprogramm haben sie, aber sitzen in den Talkshows, haben auf keine der großen politischen Fragen eine Antwort und sind auch noch darauf stolz."
"Wen meinst du jetzt: CDU, SPD oder Grüne?"
Spätestens an dieser Stelle ist der sachliche Teil der Diskussion zwischen mir und dem Wähler einer "etablierten" Partei vorbei, aber ich muss auch gestehen, dass mir an solchen Diskussionen nicht allzu viel liegt, weil ihnen ein Politikverständnis zu Grunde liegt, das von meinem in so starker Form abweicht, dass es mehr Sätze zum Erklären meiner Position braucht, als das auf simple Parolen getrimmte Wahlkämpferhirn am Informationsstand verkraftet. Zum Glück gibt es ja Blogs.
Da wäre zum Beispiel die hartnäckige Legende, die großen, alten Parteien hätten so unglaublich tolle Wahlprogramme. Regelmäßig gönnen sich verschiedene Zeitungen vor Wahlen den Spaß, aus den Wahlprogrammen der Parteien Sätze zu zitieren und die Leser raten zu lassen, von welcher Partei sie stammen. Bei den meisten Passagen ist zwischen Linkspartei und NPD so ziemlich alles möglich, zu beliebig sind die Phrasen. Die Umwelt wollen sie alle retten, Arbeitsplätze sowieso, Bildung muss gefördert werden, das Zusammenleben von Immigranten und Deutschen auch, und die Steuerbelastung kleiner Einkommen ist zu hoch. Die angeblichen Patentrezepte unterscheiden sich im Detail, aber können Sie auf Anhieb sagen, welche Partei sich gerade für Steuersenkungen in welcher Einkommensgruppe einsetzt - wenn überhaupt? Können Sie sagen, welche Partei gerade welche Energieform subventionieren will? Können Sie sagen, welche Partei gerade Hartz IV abschaffen, erhalten, die Sätze senken oder erhöhen will? Wer will welche Schulform? Wer will welche Art von Ausländern unter welchen Bedingungen ins Land holen, hier behalten oder wieder loswerden? Seien Sie vorsichtig mit Ihrer Antwort, das ändert sich ständig.
Die schlichte Wahrheit lautet: Wir wissen vielleicht noch, ob wir an unserer Lieblingskreuzung eine Ampel oder einen Kreisverkehr haben wollen, wir haben vielleicht noch ein diffuses Gefühl dafür, welcher Bildungskanon an den Schulen vermittelt werden soll, aber spätestens, wenn es darum geht, wie das geschieht, argumentieren doch die Meisten aus dem Bauch heraus. Wenn es dann noch darum geht, die Finanzierung solcher Vorhaben zu klären, sind wir vollends im Reich der Ideologie und Spekulation gelandet. Die reichen Manager, die haben's doch. Ja, aber von denen haben wir so wenig, und wir wollen doch den Standort Deutschland (TM) nicht gefährden, lasst uns lieber den Sozialmissbrauch beenden, damit sparen wir genug Geld. Sozialmissbrauch - ist es das, wenn Kommunen mit abenteuerlichen Begründungen monatelang Zahlungen an Bedürftige verweigern, obwohl die Sache vor Gericht schon längst geklärt ist? Sozialmissbrauch - ist es das, wenn reiche Familien Betreuungsgeld bekommen, während armen Familien dieser Betrag vom Hartz-IV-Geld abgezogen wird?
Demographischer Wandel, Eurorettung, Klimakatastrophe - wer hier im Besitz einer Lösung zu sein behauptet, lügt ganz schlicht. Wir haben es hier mit komplexen und chaotischen Interaktionen zu tun, von denen man allenfalls hoffen kann, ihr Wirken verstanden zu haben. Da es aber offenbar ehrenrührig ist, seine eigene Ratlosigkeit einzugestehen, zeigt jetzt alles auf die Piraten: Hey, guck mal, die kommen nicht mit ihrer eigenen, zusammengekoksten Weltformel daher, wie sind die denn davor?
Im Zweifelsfall sind Wahlprogramme ohnehin am Wahlabend Makulatur. Entweder landet man in der Opposition, dann kann man sie ohnehin nicht durchsetzen, oder man landet in einer Regierungskoalition, was heißt, dass man sich mit Anderen zusammenraufen und überlegen muss, welches der eigenen Vorhaben man über Bord wirft. Selbst eine Alleinregierung wird es niemals schaffen, ihre Wahlversprechen exakt umzusetzen. Meist scheitern sie schon an den Grundlagen der Mathematik und dem Hauptsatz der Thermodynamik.
Natürlich haben die Piraten allein schon aus formalen Gründen nachgelegt und können wie ihre etablierte Konkurrenz inzwischen ganz tolle Wahlprogramme vorweisen. Deswegen geht die Argumentation zur Stufe zwei über und sagt, es möge ja Wahlprogramme geben, aber die lese keiner, was Umfragen vom September 2011 belegen, in denen es heißt, gerade einmal sechs Prozent der Piratenwähler gäben ihre Stimme wegen der politischen Ziele dieser Partei. Wollen wir einmal die gleiche Untersuchung auf die Altparteien loslassen? Gönnen Sie sich doch einmal die Freude und fragen Sie die Leute, warum sie CDU, CSU, SPD, FDP oder Grüne wählen. SPD und CDU, so werden Sie hören, täten "was für die kleinen Leute".
Beide gleichzeitig? Dann braucht man doch eine der beiden nicht.
"Naja die SPD engagiert sich für die Arbeiter."
Die CDU nicht?
"Doch die auch. Die will, dass sich Leistung wieder lohnt."
Aber die SPD will doch auch, dass Arbeit fair entlohnt wird. Oder war das die Linkspartei?
"Ja, die auch."
Das sind die Anderen doch auch.
"Ja, aber die Grünen ein bisschen mehr. Mehr als die FDP auf jeden Fall."
Wofür steht die FDP eigentlich?
"Die steht für völliges Versagen."
Es gibt in Deutschland ein paar Argumentationskeulen, die immer funktionieren, wenn einem sonst die Worte ausgehen. Dokumentierter Kindesmissbrauch, vulgo "Kinderporno" und Nazis gehören dazu. In die "Kinderporno"-Falle sind die Netzaktivisten im Jahr 2009 prompt getappt, als sie sich gegen den von SPD und CDU vorangetriebenen Versuch, das Internet zu zensieren, wehrten und ein kollektiver Aufschrei durchs Volk lief, diese Internet-Hacker wollten, dass man straffrei Kinder vergewaltigen darf. Daraufhin war es wochenlang nicht möglich, gegen die Internetzensur anzugehen, ohne jedes Mal eine mehrminütige Erklärung abzugeben, dass man natürlich nicht für Kindervergewaltigung sei. Ähnlich ist es mit dem Nazivorwurf. Man kann nahezu jedem unterstellen, ein Nazi zu sein, und statt dass man handfeste Belege für diese Behauptung beibringen muss, ist die Gegenseite gezwungen, zu erklären, warum sie kein Nazi ist - was ungleich schwerer fällt, als Anderen dies vorzuwerfen. Egal, wie geschickt man sich anstellt, man kommt nicht aus der Defensive heraus. Wenn mir gar nichts mehr einfällt, verlange ich einfach lauthals von Ihnen, endlich "ein klares Bekenntnis gegen rechts abzugeben".
"Volksentscheide, was für ein Unsinn. Sieh dir doch an, über welchen Quatsch die abstimmen. Wenn wir heute die direkte Demokratie einführen, haben wir morgen die Todesstrafe."
Ja, es stimmt, wir leben in hysterischen Zeiten. Wurde in meiner Jugend noch jede Woche eine neue Sau durchs Dorf getrieben, spricht man heute schon von Langeweile, wenn nicht jeden Tag ganze Schweinsrudel durch die Straßen hetzen. Wir regen uns immer mehr über immer weniger auf. Ich habe auch meine Bedenken, ob nicht aus einer zufälligen Stimmungsschwankung heraus nicht eine blödsinnige Entscheidung nach der nächsten getroffen wird, wenn wir erst einmal die Möglichkeit dazu haben. Auf der anderen Seite: Im Prinzip geschieht das bereits jetzt, und die Messinstrumente für Volkes Stimme könnten unzuverlässiger nicht sein.
Nehmen wir S 21. Wer die Diskussion um den Bahnhof verfolgte, musste den Eindruck bekommen, dass nahezu das ganze Ländle den Umbau vehement ablehnt. Diese Stimmung dürfte einer der Gründe gewesen sein, warum die normalerweise als drittstärkste Kraft agierenden Grünen auf einmal den Ministerpräsidenten stellten - was mich als Demokraten übrigens sehr freut, weil es das klassische CDU-SPD-Schema aufbricht. Der einige Monate später in deutlich ernüchterter Lage durchgeführte Volksentscheid hingegen zeigte überraschend ein ganz anderes Bild.
Anderes Beispiel: Als vor einem Jahr im fernen Japan ein ungewohnt starkes Erdbeben, ein ungewohnt großer Tsunami und ein nicht optimales Krisenmanagement dazu führten, dass ein an denkbar ungünstiger Stelle aufgebautes Atomkraftwerk explodierte, führte ein kollektiver Aufschrei in Deutschland dazu, dass die Regierung Merkel innerhalb weniger Tage eine komplette Kehrtwende vollführte und die sämtlich in wenig erdbeben- und flutgefährdeten Gegenden stehenden Nuklearanlagen überhastet abschalten ließ. Gegen den Ausstieg aus einer prinzipiell nicht beherrschbaren Technologie habe ich zwar nichts einzuwenden, wohl aber gegen die von Hysterie getriebene Art, die weder das Risiko nennenswert verringerte, noch die Frage beantwortete, wohin man den auf einen Schlag anfallenden, hoch radioaktiven Müll bringen soll, geschweige denn erklärte, welchen Sinn es hat, relativ sichere deutsche Kraftwerke abzuschalten, um sich Atomstrom teuer im Ausland einzukaufen, wo er unter teilweise haarsträubenden Umständen erzeugt wird. Ich wüsste zu gern, was herauskäme, führte man jetzt, da Japan aus den Schlagzeilen verschwunden ist, einen Volksentscheid zum Atomausstieg durch.
Hysterie ist ein schlechter Ratgeber, so viel dürfte klar sein. Dummerweise treffen wir aber aus einer aufgeheizten Stimmung heraus Entscheidungen, die für die nächsten Jahrzehnte, bisweilen sogar Jahrhunderte Auswirkungen haben. Ist das ein Argument gegen Volksentscheide?
Natürlich trifft die Vorstellung, der Deutsche sei quasi aus genetischer Veranlagung zu blöd für die direkte Demokratie, voll den Nerv der die Selbstzerfleischung liebenden und grüblerisch-obrigkeitshörigen Teutonen. Die Schweizer, ja die hättens drauf, da liefe das, aber hier? Niemals. Überhaupt: Selbst den Schweizern unterliefen peinliche Patzer, siehe Minarettverbot.
Ich habe nie behauptet, dass Demokratie eine einfache Sache ist. Ich glaube auch nicht, dass es eine gute Idee wäre, morgen über alles direkt abstimmen zu können. Ich bin mir aber sicher, dass es für das Volk an der Zeit ist, einige Rechte, die es im Lauf der Zeit zu voreilig aufgegeben hat, wieder zurück zu fordern.
Wir haben es uns bequem eingerichtet. Alle vier Jahre werfen wir mit Bleistiftkreuzchen versehene Zettel in Kästen, heben kluge, stets dem Wohlergehen des Volkes dienende Parlamentarier auf ihre Throne, von denen herab sie in der kommenden Legislaturperiode unsere Geschicke lenken. Realitätsabgleich mit der Wählermeinung ist in dieser Zeit weder nötig noch erwünscht, die weisen Abgeordneten wissen sowieso viel besser als wir selbst, was gut für uns ist. Haben sie Erfolg - umso besser. Vermasseln sie es, sind wir schuld, besaßen wir doch die Dummheit, sie zu wählen.
Ich bin froh, nicht jeden Tag über jede politische Frage entscheiden zu müssen. Die meisten Themen interessieren mich nicht einmal besonders, geschweige denn, dass ich mich dort gut auskenne. Bei ein paar Dingen möchte ich gern ein Wörtchen mitreden. Netzpolitik zum Beispiel, Datenschutz, Urheberrecht, Bürgerrechte. Gerade, wenn es um den Lebensraum Internet geht, möchte ich nicht von Lehrern, BWLern und Juristen regiert werden, welche die Parlamente in Scharen bevölkern, sondern von Leuten, die das Netz als Chance begreifen, Ländergrenzen verschwinden und freie Menschen in Austausch treten zu lassen. Im Zweifelsfall will ich die Sache lieber selbst in die Hand nehmen, und vor allem will ich die Entscheidung haben, wann ich wo direkt eingreife. Auf Neudeutsch nennt man das Liquid Democracy.
"Nur sieben Prozent wählen die Piraten wegen des Programms, der Großteil wählt aus Protest." Die Zahlen ändern sich, zum Teil werden auch zwei Jahre alte Studien zitiert, was bei einer Partei, die erst seit drei Jahren auf der politischen Bühne überhaupt wahrgenommen wird, sehr viel Zeit ist. Die angedeutete Schlussfolgerung hinter solchen Aussagen ist klar: Das Phänomen Piraten wird sich bald erledigt haben, weil dem Wähler völlig egal ist, was er aus Protest wählt, so lange er aus Protest wählt. Wenn sich sein Ärger verzogen hat, wird er brav wieder das wählen, was die kosmische Ordnung vorsieht: CDU oder SPD.
Mit genau diesen Selbsttäuschungen lügen sich die beiden ehemaligen Volksparteien seit Jahrzehnten die Lage schön. Die CDU hat dabei sogar noch halbwegs Erfolg, weil sich in ihrem politischen Lager keine ernsthafte Konkurrenz etablieren konnte, obwohl rechts von ihr nach ihrem angeblichen Linksruck doch angeblich so viel Platz ist. Was aber auch aufkam - Republikaner, DVU, NPD, um nur die erfolgreichsten zu benennen - mehr als zu gelegentlichen Achtungserfolgen in einigen Landtagen reichte es nicht. Selbst, wenn man die Stimmanteile der rechten Splittergruppen zusammenzählt, erreicht die Summe selten beeindruckende Werte. Kurz gesagt: Die CDU blutet an ihrem rechten Rand nicht aus.
Wohl aber die SPD, was vielleicht daran liegen mag, dass man im linken Spektrum naturgemäß zu einer gewissen Eigensinnigkeit neigt. Die SPD wiederum sieht sich als Volkspartei, als die große linke Kraft, die mit einer Stimme machtvoll auftritt. Das mag zu Zeiten der Industrialisierung noch funktioniert haben, als Heerscharen von Fabrikarbeitern mit weitgehend gleichen Interessen jemanden brauchten, der sie gegen einen Block bürgerlich Situierter, die um ihre Pfründe fürchteten, vertrat, aber wer sich heute in der deutschen Arbeitslandschaft umsieht, findet nicht mehr viel von den riesigen Kohlezechen, Stahlhütten und Schiffswerften. Selbst die Automobilindustrie hat viel von ihrer ehrfurchtseinflößenden Größe verloren, seit die weltweite Konkurrenz qualitativ gleichwertig und preislich günstiger herstellt. Wer heute durchs Ruhrgebiet fährt, findet statt rauchender Schlote meist nur noch rostende Stahlskelette. Die malochenden Arbeiterscharen sind durch Fortbildungen gegangen, programmieren heute Fertigungsroboter oder arbeiten irgendwo anders. Mit einer Stimme sprechen sie längst nicht mehr. Ihre Interssen sind inzwischen vielfältig.
Das hätte die SPD ahnen können, als in den Achtzigern mit den Grünen eine Partei entstand, die linke Gedanken mit bürgerlich-akademischem Milieu verbanden. Doch wie reagierte die SPD? Mit Verachtung. Die linken Zausel kämen schon zurück, wenn sie sich ausgetobt hätten. Grün - was sei das schon im Vergleich zur ruhmreichen, hundertjährigen Geschichte der Sozialdemokratie?
Das kostete die SPD rund ein Viertel ihrer Wähler.
In den Neunzigern wiederholte sich das Schema. Die SPD führte sich immer noch als die große linke Volksstimme auf, verabschiedete sich allerdings immer mehr von klassischen Vorstellungen der Arbeiterbewegung. Das brachte ihr am Ende des Jahrzehnts sogar noch einmal die Kanzlerschaft ein, verprellte aber die traditionellen Sozialdemokraten, die sich in Parteien wie der WASG oder der PDS zu sammeln begannen. Wieder reagierte die SPD mit der arroganten Haltung der großen Traditionspartei seit 1863.
Auch das kostete die SPD Wähler. Ein wenig Glück im Unglück hatte sie, weil sich das Zusammengehen klassischer Sozialdemokraten mit Steinzeitkommunisten aus dem Osten und die Garnierung dieses Haufens mit einem Kampfkläffer wie Lafontaine als taktischer Fehler erwies. Doch die Gefahr war nicht vorbei.
Im Jahr 2009 - die SPD hatte inzwischen mit der Einführung von Hartz IV und Studiengebühren sowie einem ständig die Grundrechte verletzenden Innenminister den Eindruck hinterlassen, jetzt vollkommen durchgeknallt zu sein - kam die damalige Familienministerin von der Leyen im Rahmen eines wahltaktischen Manövers auf die Idee, das Internet zensieren zu wollen. "Spitzenidee", sagte die SPD, "lass uns gleich ein ganzes Gesetz dazu schreiben."
Ich halte es für historischen Zufall, dass es ausgerechnet dieses Gesetz war, das die bis dahin im analogen Leben weitgehend stillen Netzbewohner auf die Palme brachte. Innerhalb weniger Wochen formierte sich ein Protest. Im Verlauf des Protests begann sich eine Partei zu profilieren, die bis dahin vollkommen irrelevant war, ein Ableger einer skandinavischen Nerdidee, irgendwelche Leute, die im Netz Filme kopieren wollen. In Deutschland bekamen sie mit Mühe und Not die Pflichtposten ihrer Partei besetzt, aber von ernsthafter politischer Arbeit konnte kaum die Rede sein. Selbst Hardcore-Nerds kannten von dem Haufen kaum mehr als den Namen: Piratenpartei.
Kein Mensch wäre auf die Idee gekommen, in dieses Grüppchen irgendeine Hoffnung zu setzen. Hoffnung setzte man hingegen auf die SPD - die Partei, die trotz aller Enttäuschungen noch am ehesten als die Kraft gesehen wurde, die der Idiotie eines Internetzensurgesetzes Einhalt gebieten konnte.
Das musste scheitern - aus mehreren Gründen: Erstens denkt die SPD in Mitgliedern, bestenfalls Wählern. Wer von der Partei etwas will, soll gefälligst erst einmal ein paar Jahre Mitgliedsbeiträge gezahlt haben. Darüber hinaus muss er sich stundenlang in Ortsvereinsversammlungen zu Tode gelangweilt, Plakate geklebt, Flugzettel verteilt, Wahlkampfstände betreut haben. So stellt sich die SPD einen Menschen vor, der das Recht hat, mit ihr zu reden. Vielleicht, ganz vielleicht und auch nur in Ausnahmesituationen ist man bereit, jemandem zuzuhören, der glaubhaft belegen kann, seit jeher und bis in alle Ewigkeit SPD zu wählen. Ansonsten, und damit kommen wir zu Punkt zwei, entscheidet die Partei nicht von unten nach oben. Statt dessen betet sie Hierachen an - Brandt, Schmidt, Rau, von solchen Leuten reden wir. Gucken Sie sich die aktuelle Führungsriege an: Steinmeier, Beck, Gabriel, dicke, alte Männer, politische Sumoringer. Wenn die etwas sagen, sickert das die Gremien runter bis zum Ortsverein Ingeln-Oesselse, der dann pflichtschuldig seine Delegierten so auswählt, dass genau das Ergebnis in der Kaskade hoch gereicht wird, welches die Parteispitze vorgab.
Bevor Sie mir jetzt entsetzte E-Mails schreiben, das sei ja alles ganz anders: a) Ich war eineinhalb Jahrzehnte Mitglied. b) Es läuft natürlich nicht immer und genau so ab, aber das Handlungsmuster taucht immer wieder auf. Von der Basisdesmokratie ist die SPD jedenfalls so weit entfernt wie Philipp Roesler von einem seriösen Auftreten.
Als die Netzaktivisten auf die SPD zutraten, war dort schon längst alles entschieden. Dieses komische Internet gehört sowieso endlich in die Schranken gewiesen, und wer etwas Anderes meint, ist Terrorist, Kindervergewaltiger oder Räuber. Entsprechend verfuhr man auch mit innerparteilichen Kritikern, die sich sehr schnell ausgegrenzt sahen. Der Versuch, das Zensurgesetz zu stoppen, hatte nie eine Chance.
Hätte sich die SPD im Sommer 2010 weniger tapsig angestellt, hätte sie glaubhaft zu verstehen versucht, was die Netzbewohner wollen, hätte sie die Anfragen nicht so arrogant abgebürstet und das noch als großartige Leistung zu verkaufen versucht, wären die Piraten wahrscheinlich weiterhin unter der Fünf-Prozent-Marke.
Egal, ob Grüne, Linke oder Piraten - sie alle konnten in ihrer Anfangsphase dadurch Profil gewinnen, dass die anderen Parteien sich so vehement von ihnen distanzierten. Die Argumente gleichen sich und gewinnen dadurch nicht gerade an Glaubwürdigkeit: Die sind ja so unerfahren, die haben keine Themen und vor allem: Die wollen nur protestieren. Dass Protest etwas Schlimmes ist, kann auch nur in der Kleingartenmentalität der deutschen Parteienlandschaft jemand sagen, ohne ausgelacht zu werden.
"Das sind nur Protestwähler." Hinter dieser Aussage steht die Haltung, wer protestiere, sei selbst schuld, er könne doch auch brav den Mund halten, und alles sei gut. Das Gegenteil ist wahr. Wer protestiert, hat lang genug dem bisherigen Treiben zugesehen, hat die Diskrepanzen zwischen sich und dem Rest der Welt immer weiter wachsen sehen und sieht sich nun gezwungen, etwas zu unternehmen. Zuerst mag es ihm tatsächlich nur darum gehen, gegen etwas zu sein, beispielsweise gegen die etablierten Parteien. Diese wiederum ziehen daraus den Schluss, es reiche aus, sich gemütlich hinzusetzen und darauf zu warten, dass die verlorenen Kinder reumütig zurückgekrochen kommen. Das hat schon bei den Grünen nicht funktioniert, das funktioniert bei der Linkspartei nicht so richtig, das wird mit einiger Wahrscheinlichkeit bei den Piraten auch nicht funktionieren. Grund dafür ist die Formbarkeit dieser Partei und damit die Möglichkeit, mit seiner Stimme nicht nur gegen das vorhandene System, sondern auch für eine von einem selbst gestaltete Alternative zu votieren.
Wenn die etablierten Parteien herumjammern, die Piraten seien nur ein Haufen Protestwähler, übersehen sie dabei, dass sie es sind, die gegen diesen Protest handeln müssten, die versuchen müssten, die Protestierer zu verstehen und ihnen wieder eine poltische Heimat zu bieten. Einfach nur arrogant lächelnd herumzusitzen und zu meinen, Netzpolitik bestünde darin, eine Webseite aufgesetzt zu haben, ist zu wenig.
Vielleicht ist es wahr, und die Piraten entpuppen sich als eine spinnerte Luftnummer. Auf der anderen Seite: Was haben wir zu verlieren? Ich habe nicht den Eindruck, als hätte irgendeine Partei gerade den Stein der Weisen in ihrem Besitz. Die Piraten haben wenigstens einen interessanten Ansatz zu einer neuen demokratischen Entscheidungsfindung, und ich finde, diesen Ansatz kann man ruhig noch einmal ausprobieren. An mir soll es nicht scheitern.
"Wen meinst du jetzt: CDU, SPD oder Grüne?"
Spätestens an dieser Stelle ist der sachliche Teil der Diskussion zwischen mir und dem Wähler einer "etablierten" Partei vorbei, aber ich muss auch gestehen, dass mir an solchen Diskussionen nicht allzu viel liegt, weil ihnen ein Politikverständnis zu Grunde liegt, das von meinem in so starker Form abweicht, dass es mehr Sätze zum Erklären meiner Position braucht, als das auf simple Parolen getrimmte Wahlkämpferhirn am Informationsstand verkraftet. Zum Glück gibt es ja Blogs.
Programmierte Planlosigkeit
Da wäre zum Beispiel die hartnäckige Legende, die großen, alten Parteien hätten so unglaublich tolle Wahlprogramme. Regelmäßig gönnen sich verschiedene Zeitungen vor Wahlen den Spaß, aus den Wahlprogrammen der Parteien Sätze zu zitieren und die Leser raten zu lassen, von welcher Partei sie stammen. Bei den meisten Passagen ist zwischen Linkspartei und NPD so ziemlich alles möglich, zu beliebig sind die Phrasen. Die Umwelt wollen sie alle retten, Arbeitsplätze sowieso, Bildung muss gefördert werden, das Zusammenleben von Immigranten und Deutschen auch, und die Steuerbelastung kleiner Einkommen ist zu hoch. Die angeblichen Patentrezepte unterscheiden sich im Detail, aber können Sie auf Anhieb sagen, welche Partei sich gerade für Steuersenkungen in welcher Einkommensgruppe einsetzt - wenn überhaupt? Können Sie sagen, welche Partei gerade welche Energieform subventionieren will? Können Sie sagen, welche Partei gerade Hartz IV abschaffen, erhalten, die Sätze senken oder erhöhen will? Wer will welche Schulform? Wer will welche Art von Ausländern unter welchen Bedingungen ins Land holen, hier behalten oder wieder loswerden? Seien Sie vorsichtig mit Ihrer Antwort, das ändert sich ständig.
Hauptsache Klugschwätzen
Die schlichte Wahrheit lautet: Wir wissen vielleicht noch, ob wir an unserer Lieblingskreuzung eine Ampel oder einen Kreisverkehr haben wollen, wir haben vielleicht noch ein diffuses Gefühl dafür, welcher Bildungskanon an den Schulen vermittelt werden soll, aber spätestens, wenn es darum geht, wie das geschieht, argumentieren doch die Meisten aus dem Bauch heraus. Wenn es dann noch darum geht, die Finanzierung solcher Vorhaben zu klären, sind wir vollends im Reich der Ideologie und Spekulation gelandet. Die reichen Manager, die haben's doch. Ja, aber von denen haben wir so wenig, und wir wollen doch den Standort Deutschland (TM) nicht gefährden, lasst uns lieber den Sozialmissbrauch beenden, damit sparen wir genug Geld. Sozialmissbrauch - ist es das, wenn Kommunen mit abenteuerlichen Begründungen monatelang Zahlungen an Bedürftige verweigern, obwohl die Sache vor Gericht schon längst geklärt ist? Sozialmissbrauch - ist es das, wenn reiche Familien Betreuungsgeld bekommen, während armen Familien dieser Betrag vom Hartz-IV-Geld abgezogen wird?
Demographischer Wandel, Eurorettung, Klimakatastrophe - wer hier im Besitz einer Lösung zu sein behauptet, lügt ganz schlicht. Wir haben es hier mit komplexen und chaotischen Interaktionen zu tun, von denen man allenfalls hoffen kann, ihr Wirken verstanden zu haben. Da es aber offenbar ehrenrührig ist, seine eigene Ratlosigkeit einzugestehen, zeigt jetzt alles auf die Piraten: Hey, guck mal, die kommen nicht mit ihrer eigenen, zusammengekoksten Weltformel daher, wie sind die denn davor?
Im Zweifelsfall sind Wahlprogramme ohnehin am Wahlabend Makulatur. Entweder landet man in der Opposition, dann kann man sie ohnehin nicht durchsetzen, oder man landet in einer Regierungskoalition, was heißt, dass man sich mit Anderen zusammenraufen und überlegen muss, welches der eigenen Vorhaben man über Bord wirft. Selbst eine Alleinregierung wird es niemals schaffen, ihre Wahlversprechen exakt umzusetzen. Meist scheitern sie schon an den Grundlagen der Mathematik und dem Hauptsatz der Thermodynamik.
Denn sie wissen nicht, was sie wählen
Natürlich haben die Piraten allein schon aus formalen Gründen nachgelegt und können wie ihre etablierte Konkurrenz inzwischen ganz tolle Wahlprogramme vorweisen. Deswegen geht die Argumentation zur Stufe zwei über und sagt, es möge ja Wahlprogramme geben, aber die lese keiner, was Umfragen vom September 2011 belegen, in denen es heißt, gerade einmal sechs Prozent der Piratenwähler gäben ihre Stimme wegen der politischen Ziele dieser Partei. Wollen wir einmal die gleiche Untersuchung auf die Altparteien loslassen? Gönnen Sie sich doch einmal die Freude und fragen Sie die Leute, warum sie CDU, CSU, SPD, FDP oder Grüne wählen. SPD und CDU, so werden Sie hören, täten "was für die kleinen Leute".
Beide gleichzeitig? Dann braucht man doch eine der beiden nicht.
"Naja die SPD engagiert sich für die Arbeiter."
Die CDU nicht?
"Doch die auch. Die will, dass sich Leistung wieder lohnt."
Aber die SPD will doch auch, dass Arbeit fair entlohnt wird. Oder war das die Linkspartei?
"Ja, die auch."
Die Grünen, wird man Ihnen dann erklären, seien "für die Umwelt".
Das sind die Anderen doch auch.
"Ja, aber die Grünen ein bisschen mehr. Mehr als die FDP auf jeden Fall."
Wofür steht die FDP eigentlich?
"Die steht für völliges Versagen."
Sie sehen schon, besondere programmatische Tiefe haben solche Unterhaltungen nicht. Ich habe schon Sozialdemokraten getroffen, welche die SPD wählen, weil sie das schon seit Jahrzehnten getan haben. Inhaltlich, so sagen sie, seien sie von der SPD schwer enttäuscht, aber von der Sozialdemokratie fiele man nicht ab, nur weil sie seit einigen Jahrzehnten völligen Mist verzapft.
Da sage noch mal einer, die Piratenwähler hätten ein diffuses Weltbild.
Piratennazis
Es gibt in Deutschland ein paar Argumentationskeulen, die immer funktionieren, wenn einem sonst die Worte ausgehen. Dokumentierter Kindesmissbrauch, vulgo "Kinderporno" und Nazis gehören dazu. In die "Kinderporno"-Falle sind die Netzaktivisten im Jahr 2009 prompt getappt, als sie sich gegen den von SPD und CDU vorangetriebenen Versuch, das Internet zu zensieren, wehrten und ein kollektiver Aufschrei durchs Volk lief, diese Internet-Hacker wollten, dass man straffrei Kinder vergewaltigen darf. Daraufhin war es wochenlang nicht möglich, gegen die Internetzensur anzugehen, ohne jedes Mal eine mehrminütige Erklärung abzugeben, dass man natürlich nicht für Kindervergewaltigung sei. Ähnlich ist es mit dem Nazivorwurf. Man kann nahezu jedem unterstellen, ein Nazi zu sein, und statt dass man handfeste Belege für diese Behauptung beibringen muss, ist die Gegenseite gezwungen, zu erklären, warum sie kein Nazi ist - was ungleich schwerer fällt, als Anderen dies vorzuwerfen. Egal, wie geschickt man sich anstellt, man kommt nicht aus der Defensive heraus. Wenn mir gar nichts mehr einfällt, verlange ich einfach lauthals von Ihnen, endlich "ein klares Bekenntnis gegen rechts abzugeben".
"Was? Wie? Wieso, ich bin doch kein -"
Ah, wusst ich's doch, kein klares Bekenntnis, Sie gehören also doch zu denen.
"Nein, ich halte es nur für überflüssig, so eine Selbstverständlichkeit -"
Na, dann erklären Sie's doch endlich. Je mehr Sie sich herumwinden, desto klarer wird doch, dass Sie in Wirklichkeit mit diesem Pack sympathisieren.
Wahrscheinlich werden Sie versuchen, abzuwiegeln, mir zu erklären versuchen, die Gefahr sei doch nicht so, wie ich sie darstelle.
Dann ist es an mir, den Mahner zu spielen. "Wehret den Anfängen", werde ich schreien. Klein habe schon einmal alles angefangen, aber wir hätten aus der Geschichte gelernt, weswegen es unsere heilige Pflicht sei, der Schoß sei fruchtbar noch, aus dem dies kroch.
Merken Sie, wie Sie langsam aggressiv werden, wie meine haltlosen Unterstellungen Sie nerven? Nur zu, lassen Sie Ihrem Ärger freien Lauf, denn genau das will ich. Nazis sind bekanntlich keine sanften Gemüter, und je mehr Sie die Kontrolle verlieren, desto besser passen Sie in die Ecke, in die ich Sie dränge.
In exakt dieser Klemme stecken die Piraten gerade. Man hat bei ihnen das entdeckt, was jede junge Partei mit noch nicht gänzlich geschliffenem Profil aber umso mehr Ideen und Elan mit sich herumschleppt: einen Bodensatz an Idioten. Die Grünen hatten in ihrer Anfangszeit auch mit diesem Phänomen zu kämpfen. Sehen Sie sich beispielsweise an, wo Baldur Springmann am Ende politisch gelandet ist. Trotzdem standen sie nie in Gefahr, von diesen Kräften übernommen zu werden. Hinsichtlich der Piraten sieht man das freilich anders. Auch hier melden sich immer wieder Leute zu Wort, deren politisches Weltbild einfach noch extrem unreif ist oder die tatsächlich eine sehr zweifelhafte Vergangenheit haben. Da im Internetzeitalter jeder über alles schreiben kann und sich immer ein Journalist findet, der genau über solche Texte stolpert, kommt es früher oder später dazu, dass in den Massenmedien Texte von zentralen Figuren der Piratenpartei auftauchen, die zumindest sehr fragwürdig sind. Darüber hinaus wäre das Internet nicht das Internet, wenn sich in solchen Fällen nicht auch einige Piraten fänden, die solche Texte begrüßen. Da bislang alle anderen Versuche, die Piraten zu diskreditieren, nicht so recht wirken wollen, greift man nun zum Nazivorwurf. Das hat bislang immer funktioniert.
Die Strategie hat nur einen Fehler: die Zielgruppe. Die Piraten mögen sich ja langsam aus der Nerdecke heraus bewegen, ihre Klientel bleiben aber weiterhin: relativ junge Menschen, hohe Bildung, internetaffin, die Plakate wie dieses verstehen. Wie werden solche Leute wohl reagieren, wenn man ihnen erzählt, die Piraten seien Nazis? Richtig, sie greifen zum I-Phone, stellen eine kurze Internetrecherche an und fragen Sie dann, woher Sie diesen Blödsinn haben. Die Einzigen, die sich von der Nazinummer beeindrucken lassen, sind diejenigen, die ohnehin niemals Piraten wählen - allen voran Anhänger einer Partei, deren Führungsriege gern einmal Diktatoren zum Geburtstag gratuliert und ihre Stasi-Altlasten nicht loswird.
Die Strategie hat nur einen Fehler: die Zielgruppe. Die Piraten mögen sich ja langsam aus der Nerdecke heraus bewegen, ihre Klientel bleiben aber weiterhin: relativ junge Menschen, hohe Bildung, internetaffin, die Plakate wie dieses verstehen. Wie werden solche Leute wohl reagieren, wenn man ihnen erzählt, die Piraten seien Nazis? Richtig, sie greifen zum I-Phone, stellen eine kurze Internetrecherche an und fragen Sie dann, woher Sie diesen Blödsinn haben. Die Einzigen, die sich von der Nazinummer beeindrucken lassen, sind diejenigen, die ohnehin niemals Piraten wählen - allen voran Anhänger einer Partei, deren Führungsriege gern einmal Diktatoren zum Geburtstag gratuliert und ihre Stasi-Altlasten nicht loswird.
Um Himmels Willen keine Demokratie
"Volksentscheide, was für ein Unsinn. Sieh dir doch an, über welchen Quatsch die abstimmen. Wenn wir heute die direkte Demokratie einführen, haben wir morgen die Todesstrafe."
Ja, es stimmt, wir leben in hysterischen Zeiten. Wurde in meiner Jugend noch jede Woche eine neue Sau durchs Dorf getrieben, spricht man heute schon von Langeweile, wenn nicht jeden Tag ganze Schweinsrudel durch die Straßen hetzen. Wir regen uns immer mehr über immer weniger auf. Ich habe auch meine Bedenken, ob nicht aus einer zufälligen Stimmungsschwankung heraus nicht eine blödsinnige Entscheidung nach der nächsten getroffen wird, wenn wir erst einmal die Möglichkeit dazu haben. Auf der anderen Seite: Im Prinzip geschieht das bereits jetzt, und die Messinstrumente für Volkes Stimme könnten unzuverlässiger nicht sein.
Nehmen wir S 21. Wer die Diskussion um den Bahnhof verfolgte, musste den Eindruck bekommen, dass nahezu das ganze Ländle den Umbau vehement ablehnt. Diese Stimmung dürfte einer der Gründe gewesen sein, warum die normalerweise als drittstärkste Kraft agierenden Grünen auf einmal den Ministerpräsidenten stellten - was mich als Demokraten übrigens sehr freut, weil es das klassische CDU-SPD-Schema aufbricht. Der einige Monate später in deutlich ernüchterter Lage durchgeführte Volksentscheid hingegen zeigte überraschend ein ganz anderes Bild.
Anderes Beispiel: Als vor einem Jahr im fernen Japan ein ungewohnt starkes Erdbeben, ein ungewohnt großer Tsunami und ein nicht optimales Krisenmanagement dazu führten, dass ein an denkbar ungünstiger Stelle aufgebautes Atomkraftwerk explodierte, führte ein kollektiver Aufschrei in Deutschland dazu, dass die Regierung Merkel innerhalb weniger Tage eine komplette Kehrtwende vollführte und die sämtlich in wenig erdbeben- und flutgefährdeten Gegenden stehenden Nuklearanlagen überhastet abschalten ließ. Gegen den Ausstieg aus einer prinzipiell nicht beherrschbaren Technologie habe ich zwar nichts einzuwenden, wohl aber gegen die von Hysterie getriebene Art, die weder das Risiko nennenswert verringerte, noch die Frage beantwortete, wohin man den auf einen Schlag anfallenden, hoch radioaktiven Müll bringen soll, geschweige denn erklärte, welchen Sinn es hat, relativ sichere deutsche Kraftwerke abzuschalten, um sich Atomstrom teuer im Ausland einzukaufen, wo er unter teilweise haarsträubenden Umständen erzeugt wird. Ich wüsste zu gern, was herauskäme, führte man jetzt, da Japan aus den Schlagzeilen verschwunden ist, einen Volksentscheid zum Atomausstieg durch.
Hysterie ist ein schlechter Ratgeber, so viel dürfte klar sein. Dummerweise treffen wir aber aus einer aufgeheizten Stimmung heraus Entscheidungen, die für die nächsten Jahrzehnte, bisweilen sogar Jahrhunderte Auswirkungen haben. Ist das ein Argument gegen Volksentscheide?
Natürlich trifft die Vorstellung, der Deutsche sei quasi aus genetischer Veranlagung zu blöd für die direkte Demokratie, voll den Nerv der die Selbstzerfleischung liebenden und grüblerisch-obrigkeitshörigen Teutonen. Die Schweizer, ja die hättens drauf, da liefe das, aber hier? Niemals. Überhaupt: Selbst den Schweizern unterliefen peinliche Patzer, siehe Minarettverbot.
Ich habe nie behauptet, dass Demokratie eine einfache Sache ist. Ich glaube auch nicht, dass es eine gute Idee wäre, morgen über alles direkt abstimmen zu können. Ich bin mir aber sicher, dass es für das Volk an der Zeit ist, einige Rechte, die es im Lauf der Zeit zu voreilig aufgegeben hat, wieder zurück zu fordern.
Wir haben es uns bequem eingerichtet. Alle vier Jahre werfen wir mit Bleistiftkreuzchen versehene Zettel in Kästen, heben kluge, stets dem Wohlergehen des Volkes dienende Parlamentarier auf ihre Throne, von denen herab sie in der kommenden Legislaturperiode unsere Geschicke lenken. Realitätsabgleich mit der Wählermeinung ist in dieser Zeit weder nötig noch erwünscht, die weisen Abgeordneten wissen sowieso viel besser als wir selbst, was gut für uns ist. Haben sie Erfolg - umso besser. Vermasseln sie es, sind wir schuld, besaßen wir doch die Dummheit, sie zu wählen.
Ich bin froh, nicht jeden Tag über jede politische Frage entscheiden zu müssen. Die meisten Themen interessieren mich nicht einmal besonders, geschweige denn, dass ich mich dort gut auskenne. Bei ein paar Dingen möchte ich gern ein Wörtchen mitreden. Netzpolitik zum Beispiel, Datenschutz, Urheberrecht, Bürgerrechte. Gerade, wenn es um den Lebensraum Internet geht, möchte ich nicht von Lehrern, BWLern und Juristen regiert werden, welche die Parlamente in Scharen bevölkern, sondern von Leuten, die das Netz als Chance begreifen, Ländergrenzen verschwinden und freie Menschen in Austausch treten zu lassen. Im Zweifelsfall will ich die Sache lieber selbst in die Hand nehmen, und vor allem will ich die Entscheidung haben, wann ich wo direkt eingreife. Auf Neudeutsch nennt man das Liquid Democracy.
Wer hat uns verraten?
"Nur sieben Prozent wählen die Piraten wegen des Programms, der Großteil wählt aus Protest." Die Zahlen ändern sich, zum Teil werden auch zwei Jahre alte Studien zitiert, was bei einer Partei, die erst seit drei Jahren auf der politischen Bühne überhaupt wahrgenommen wird, sehr viel Zeit ist. Die angedeutete Schlussfolgerung hinter solchen Aussagen ist klar: Das Phänomen Piraten wird sich bald erledigt haben, weil dem Wähler völlig egal ist, was er aus Protest wählt, so lange er aus Protest wählt. Wenn sich sein Ärger verzogen hat, wird er brav wieder das wählen, was die kosmische Ordnung vorsieht: CDU oder SPD.
Mit genau diesen Selbsttäuschungen lügen sich die beiden ehemaligen Volksparteien seit Jahrzehnten die Lage schön. Die CDU hat dabei sogar noch halbwegs Erfolg, weil sich in ihrem politischen Lager keine ernsthafte Konkurrenz etablieren konnte, obwohl rechts von ihr nach ihrem angeblichen Linksruck doch angeblich so viel Platz ist. Was aber auch aufkam - Republikaner, DVU, NPD, um nur die erfolgreichsten zu benennen - mehr als zu gelegentlichen Achtungserfolgen in einigen Landtagen reichte es nicht. Selbst, wenn man die Stimmanteile der rechten Splittergruppen zusammenzählt, erreicht die Summe selten beeindruckende Werte. Kurz gesagt: Die CDU blutet an ihrem rechten Rand nicht aus.
Wohl aber die SPD, was vielleicht daran liegen mag, dass man im linken Spektrum naturgemäß zu einer gewissen Eigensinnigkeit neigt. Die SPD wiederum sieht sich als Volkspartei, als die große linke Kraft, die mit einer Stimme machtvoll auftritt. Das mag zu Zeiten der Industrialisierung noch funktioniert haben, als Heerscharen von Fabrikarbeitern mit weitgehend gleichen Interessen jemanden brauchten, der sie gegen einen Block bürgerlich Situierter, die um ihre Pfründe fürchteten, vertrat, aber wer sich heute in der deutschen Arbeitslandschaft umsieht, findet nicht mehr viel von den riesigen Kohlezechen, Stahlhütten und Schiffswerften. Selbst die Automobilindustrie hat viel von ihrer ehrfurchtseinflößenden Größe verloren, seit die weltweite Konkurrenz qualitativ gleichwertig und preislich günstiger herstellt. Wer heute durchs Ruhrgebiet fährt, findet statt rauchender Schlote meist nur noch rostende Stahlskelette. Die malochenden Arbeiterscharen sind durch Fortbildungen gegangen, programmieren heute Fertigungsroboter oder arbeiten irgendwo anders. Mit einer Stimme sprechen sie längst nicht mehr. Ihre Interssen sind inzwischen vielfältig.
Das hätte die SPD ahnen können, als in den Achtzigern mit den Grünen eine Partei entstand, die linke Gedanken mit bürgerlich-akademischem Milieu verbanden. Doch wie reagierte die SPD? Mit Verachtung. Die linken Zausel kämen schon zurück, wenn sie sich ausgetobt hätten. Grün - was sei das schon im Vergleich zur ruhmreichen, hundertjährigen Geschichte der Sozialdemokratie?
Das kostete die SPD rund ein Viertel ihrer Wähler.
In den Neunzigern wiederholte sich das Schema. Die SPD führte sich immer noch als die große linke Volksstimme auf, verabschiedete sich allerdings immer mehr von klassischen Vorstellungen der Arbeiterbewegung. Das brachte ihr am Ende des Jahrzehnts sogar noch einmal die Kanzlerschaft ein, verprellte aber die traditionellen Sozialdemokraten, die sich in Parteien wie der WASG oder der PDS zu sammeln begannen. Wieder reagierte die SPD mit der arroganten Haltung der großen Traditionspartei seit 1863.
Auch das kostete die SPD Wähler. Ein wenig Glück im Unglück hatte sie, weil sich das Zusammengehen klassischer Sozialdemokraten mit Steinzeitkommunisten aus dem Osten und die Garnierung dieses Haufens mit einem Kampfkläffer wie Lafontaine als taktischer Fehler erwies. Doch die Gefahr war nicht vorbei.
Spezialdemokraten
Im Jahr 2009 - die SPD hatte inzwischen mit der Einführung von Hartz IV und Studiengebühren sowie einem ständig die Grundrechte verletzenden Innenminister den Eindruck hinterlassen, jetzt vollkommen durchgeknallt zu sein - kam die damalige Familienministerin von der Leyen im Rahmen eines wahltaktischen Manövers auf die Idee, das Internet zensieren zu wollen. "Spitzenidee", sagte die SPD, "lass uns gleich ein ganzes Gesetz dazu schreiben."
Ich halte es für historischen Zufall, dass es ausgerechnet dieses Gesetz war, das die bis dahin im analogen Leben weitgehend stillen Netzbewohner auf die Palme brachte. Innerhalb weniger Wochen formierte sich ein Protest. Im Verlauf des Protests begann sich eine Partei zu profilieren, die bis dahin vollkommen irrelevant war, ein Ableger einer skandinavischen Nerdidee, irgendwelche Leute, die im Netz Filme kopieren wollen. In Deutschland bekamen sie mit Mühe und Not die Pflichtposten ihrer Partei besetzt, aber von ernsthafter politischer Arbeit konnte kaum die Rede sein. Selbst Hardcore-Nerds kannten von dem Haufen kaum mehr als den Namen: Piratenpartei.
Kein Mensch wäre auf die Idee gekommen, in dieses Grüppchen irgendeine Hoffnung zu setzen. Hoffnung setzte man hingegen auf die SPD - die Partei, die trotz aller Enttäuschungen noch am ehesten als die Kraft gesehen wurde, die der Idiotie eines Internetzensurgesetzes Einhalt gebieten konnte.
Das musste scheitern - aus mehreren Gründen: Erstens denkt die SPD in Mitgliedern, bestenfalls Wählern. Wer von der Partei etwas will, soll gefälligst erst einmal ein paar Jahre Mitgliedsbeiträge gezahlt haben. Darüber hinaus muss er sich stundenlang in Ortsvereinsversammlungen zu Tode gelangweilt, Plakate geklebt, Flugzettel verteilt, Wahlkampfstände betreut haben. So stellt sich die SPD einen Menschen vor, der das Recht hat, mit ihr zu reden. Vielleicht, ganz vielleicht und auch nur in Ausnahmesituationen ist man bereit, jemandem zuzuhören, der glaubhaft belegen kann, seit jeher und bis in alle Ewigkeit SPD zu wählen. Ansonsten, und damit kommen wir zu Punkt zwei, entscheidet die Partei nicht von unten nach oben. Statt dessen betet sie Hierachen an - Brandt, Schmidt, Rau, von solchen Leuten reden wir. Gucken Sie sich die aktuelle Führungsriege an: Steinmeier, Beck, Gabriel, dicke, alte Männer, politische Sumoringer. Wenn die etwas sagen, sickert das die Gremien runter bis zum Ortsverein Ingeln-Oesselse, der dann pflichtschuldig seine Delegierten so auswählt, dass genau das Ergebnis in der Kaskade hoch gereicht wird, welches die Parteispitze vorgab.
Bevor Sie mir jetzt entsetzte E-Mails schreiben, das sei ja alles ganz anders: a) Ich war eineinhalb Jahrzehnte Mitglied. b) Es läuft natürlich nicht immer und genau so ab, aber das Handlungsmuster taucht immer wieder auf. Von der Basisdesmokratie ist die SPD jedenfalls so weit entfernt wie Philipp Roesler von einem seriösen Auftreten.
Als die Netzaktivisten auf die SPD zutraten, war dort schon längst alles entschieden. Dieses komische Internet gehört sowieso endlich in die Schranken gewiesen, und wer etwas Anderes meint, ist Terrorist, Kindervergewaltiger oder Räuber. Entsprechend verfuhr man auch mit innerparteilichen Kritikern, die sich sehr schnell ausgegrenzt sahen. Der Versuch, das Zensurgesetz zu stoppen, hatte nie eine Chance.
Hätte sich die SPD im Sommer 2010 weniger tapsig angestellt, hätte sie glaubhaft zu verstehen versucht, was die Netzbewohner wollen, hätte sie die Anfragen nicht so arrogant abgebürstet und das noch als großartige Leistung zu verkaufen versucht, wären die Piraten wahrscheinlich weiterhin unter der Fünf-Prozent-Marke.
Das Wesen des Protests
Egal, ob Grüne, Linke oder Piraten - sie alle konnten in ihrer Anfangsphase dadurch Profil gewinnen, dass die anderen Parteien sich so vehement von ihnen distanzierten. Die Argumente gleichen sich und gewinnen dadurch nicht gerade an Glaubwürdigkeit: Die sind ja so unerfahren, die haben keine Themen und vor allem: Die wollen nur protestieren. Dass Protest etwas Schlimmes ist, kann auch nur in der Kleingartenmentalität der deutschen Parteienlandschaft jemand sagen, ohne ausgelacht zu werden.
"Das sind nur Protestwähler." Hinter dieser Aussage steht die Haltung, wer protestiere, sei selbst schuld, er könne doch auch brav den Mund halten, und alles sei gut. Das Gegenteil ist wahr. Wer protestiert, hat lang genug dem bisherigen Treiben zugesehen, hat die Diskrepanzen zwischen sich und dem Rest der Welt immer weiter wachsen sehen und sieht sich nun gezwungen, etwas zu unternehmen. Zuerst mag es ihm tatsächlich nur darum gehen, gegen etwas zu sein, beispielsweise gegen die etablierten Parteien. Diese wiederum ziehen daraus den Schluss, es reiche aus, sich gemütlich hinzusetzen und darauf zu warten, dass die verlorenen Kinder reumütig zurückgekrochen kommen. Das hat schon bei den Grünen nicht funktioniert, das funktioniert bei der Linkspartei nicht so richtig, das wird mit einiger Wahrscheinlichkeit bei den Piraten auch nicht funktionieren. Grund dafür ist die Formbarkeit dieser Partei und damit die Möglichkeit, mit seiner Stimme nicht nur gegen das vorhandene System, sondern auch für eine von einem selbst gestaltete Alternative zu votieren.
Wenn die etablierten Parteien herumjammern, die Piraten seien nur ein Haufen Protestwähler, übersehen sie dabei, dass sie es sind, die gegen diesen Protest handeln müssten, die versuchen müssten, die Protestierer zu verstehen und ihnen wieder eine poltische Heimat zu bieten. Einfach nur arrogant lächelnd herumzusitzen und zu meinen, Netzpolitik bestünde darin, eine Webseite aufgesetzt zu haben, ist zu wenig.
Der Versuch ist es wert
Vielleicht ist es wahr, und die Piraten entpuppen sich als eine spinnerte Luftnummer. Auf der anderen Seite: Was haben wir zu verlieren? Ich habe nicht den Eindruck, als hätte irgendeine Partei gerade den Stein der Weisen in ihrem Besitz. Die Piraten haben wenigstens einen interessanten Ansatz zu einer neuen demokratischen Entscheidungsfindung, und ich finde, diesen Ansatz kann man ruhig noch einmal ausprobieren. An mir soll es nicht scheitern.
Samstag, 21. April 2012
FrOSCon 2012 startet Beitragsaufruf
Ausnahmsweise einmal kein Genörgel, sondern der Hinweis auf eine sehr schöne Open-Source-Messe in St. Augustin bei Bonn. Diesmal liegt einer der thematischen Schwerpunkte beim Datenschutz, was mich wiederum veranlasst, Sie zu fragen, ob Sie nicht einen Vortrag einreichen wollen. Details siehe unten oder auf den Seiten der FrOSCon.
# Call for Papers FrOSCon 2012 # Die FrOSCon, eine zweitägige Konferenz für NutzerInnen und EntwicklerInnen von Freier und Open Source Software, findet dieses Jahr zum siebten Mal an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg in Sankt Augustin bei Bonn statt. Veranstaltet wird sie vom Fachbereich Informatik in Zusammenarbeit mit der Linux/Unix User Group Sankt Augustin, der Fachschaft Informatik und dem FrOSCon e.V. Im Vordergrund steht ein reichhaltiges Vortragsprogramm, das aktuelle Themen aus dem Bereich Freie Software und Open Source beleuchtet. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, dass Aktive der großen Freien Software- oder OpenSource-Initiativen, Räume und Einrichtung für eigene Treffen nutzen oder auch ein eigenes Programm / eine eigene Subkonferenz organisieren. Abgerundet wird die Veranstaltung durch einen Marktplatz mit Ständen von FLOSS-Projekten und -Unternehmen. # Thematische Schwerpunkte # Wir suchen Beiträge zu aktuellen Entwicklungen aus dem gesamten Bereich Freie Software und Open Source, wie z.B.: - Betriebssysteme Entwicklung - Administration - Sicherheit - Rechtliche Fragen - Desktop - Bildung Insbesondere würden wir uns über Beiträge zu folgenden Themen freuen: OpenData - Freie Software Anwendungen und Entwicklungen im Bereich Open Science und Open Government Big Data - Erfahrungberichte und Vorträge über Semantische Technologien, Geo-Mapping, Deduplication, Visualisierung Digital Privacy - Best Practices for users and developers, Distributed Privacy, Data Leakage Bis zum 23. Mai 2012 können EntwicklerInnen und ExpertInnen, die interessiert sind einen Vortrag oder Workshop zu halten, ihre Beiträge einreichen. Die Auswahl durch das Programmkomitee erfolgt Anfang Juni. # Einreichung von Beiträgen # Die Registrierung und die Einreichung von Beiträgen erfolgt ausschließlich webbasiert über das Frontend unter http://cfp.froscon.org. Zur Teilnahme am Call for Papers ist es notwendig, eine kurze Zusammenfassung, sowie eine ausführlichere Beschreibung einzureichen. Für die Teilnahme an der Konferenz ist es zudem notwendig, Vortragsfolien einzureichen. # Sprache # Beiträge können sowohl in Deutsch als auch in Englisch eingereicht werden. Welche der beiden Sprachen gewählt wird, sollte nur danach entschieden werden, in welcher Sprache man das jeweilige Thema besser präsentieren kann. Die Sprache der eingereichten Texte und des Vortrags sollten dabei übereinstimmen. # Länge der Beiträge # Das Abstract sollte möglichst genau und prägnant die geplanten Inhalte des Vortrags darstellen. Es wird daher kein genauer Umfang vorgegeben. Die Vorträge hingegen sollten im Regelfall 45 Minuten nicht überschreiten, um in insgesamt 60 Minuten Raum für Fragen und Umbau für den nachfolgenden Redner zu erlauben. In Einzelfällen können auch längere Beiträge akzeptiert werden. Wir bitten in diesen Fällen um eine gesonderte Begründung für den größeren Umfang. # Formate # Die Zusammenfassung und die Beschreibung müssen als plain text in das Webfrontend eingetragen werden. Vortragsfolien bitten wir als PDF einzureichen. In Absprache können auch andere offene Dokumentenformate wie beispielsweise OpenOffice akzeptiert werden. # Lizenzen # Die Zusammenfassung, die Beschreibung und die Folien werden auf der Webseite veröffentlicht, die Zusammenfassung zudem noch im Konferenzprogramm abgedruckt. Daher müssen wir darauf bestehen, dass die Einreichungen zumindest unter die Creative Commons Attribution-NonCommercial 2.0 Germany (http://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/de/) Lizenz gestellt werden. Sofern bei der Einreichung keine Aussage zur Freigabe gemacht wird, gehen wir von dieser Lizenz aus. Wer seine Werke unter eine weniger restriktive Lizenz stellen möchte, muss bei der Einreichung darauf hinweisen. # Auswahl der Beiträge # Die Auswahl der Beiträge erfolgt auf Basis des Inhalts durch ein Programmkomitee. Wir bitten um Verständnis, dass wir je nach Anzahl und Qualität der Einreichungen nicht alle Beiträge in unser Programm aufnehmen können. Bei der Auswahl werden solche Beiträge bevorzugt, die zu den o.g. Themenschwerpunkten passen. # Sonstiges Vergütung für Beiträge # Die FrOSCon wird ehrenamtlich organisiert und finanziert sich im Wesentlichen durch Sponsoring. Wir bitten daher um Verständnis, dass keine Aufwandsentschädigung für Beiträge gezahlt werden kann. # Unterkünfte # Es wird für die ReferentInnen ein Kontingent von Zimmern in einem naheliegenden Hotel reserviert. Die Einzelheiten dazu teilen wir mit, sobald der Beitrag angenommen wurde. # Social Event # Für den Abend des 25.8. planen wir einen Social Event. Alle ReferentInnen sind selbstverständlich herzlich eingeladen, hieran teilzunehmen. # Wichtige Termine und Kontaktdaten # 23.05.2012 Ende des Call for Papers. Alle Beiträge müssen bis zu diesem Termin eingegangen sein, um berücksichtigt werden zu können. 06.06.2012 Benachrichtigung über Annahme oder Ablehnung der Beiträge. 24.06.2012 Endgültige Zusage. Um eine endgültige Zusage der eingeladenen ReferentInnen wird bis zu diesem Termin gebeten. 03.08.2012 Letzter Termin für die Abgabe der Vortragsfolien. 25.08.2012 Beginn FrOSCon 2012 Alles weitere findet sich im Web unter http://www.froscon.de. Fragen zum Call for Papers per E-Mail bitte an: programm@froscon.de Kontakt zum Organisationsteam per E-Mail: kontakt@froscon.de Postanschrift: FrOSCon e.V. c/o Hochschule Bonn-Rhein-Sieg Grantham-Allee 20 53757 Sankt Augustin # Kids Track / FrogLabs # Bei den so genannten FrogLabs, dem Kinder- und Jugendprogramm der FrOSCon, möchten wir Kinder und Jugendliche dieses Jahr auch zum eigenständigen Leiten von Workshops motivieren. Den seperaten Call for Projects werden wir demnächst ankündigen, alle weiteren Informationen stehen bald unter http://kids.froscon.org zur Verfügung.
Samstag, 14. April 2012
Meine unpassende Metapher gehört mir
"Mein Kopf gehört mir." Na zum Glück, ich will diese Sondermülldeponie auch gar nicht haben. Jetzt ist also das eingetreten, wovor die selbsternannten Qualitätsjournalisten seit Beginn des Blogzeitalters immer wieder warnten: Jeder Schwätzer kann ungehindert jeden Blödsinn ins Netz krakeelen. So zum Beispiel "mehr als 160 Vertreter aus Kunst, Medien, Wirtschaft, Wissenschaft und Politik", wie das "Handelsblatt" stolz posaunt, und um gar nicht erst den Verdacht einer differenzierten thematischen Auseinandersetzung aufkommen zu lassen, greift man einmal ganz tief in die Mottenkiste vergangener Kampagnen und wandelt den Slogan einer über 40 Jahre alten Bewegung für seine Zwecke um. Schade, dass die intellektuelle Schaffenselite unseres Landes nicht eine Sekunde damit verbrachte, sich über den historischen Hintergund der Parole zu informieren, denn sonst hätte sie gemerkt, wie grandios sie sich vergriffen hat.
Worum ging es? Vor 40 Jahren war Abtreibung pauschal verboten. Um den gesellschaftlichen Diskurs anzustoßen, bekannten sich im "Stern" über 374 Frauen zur Straftat, abgetrieben zu haben. Die sich daraufhin entwickelnde Aktion gegen den § 218 gab sich das Motto "Mein Bauch gehört mir". Es ging also um die Frage, ob und in welchem Umfang eine Frau über den Fortbestand eines Lebens bestimmen darf, das meist mit ihrem Zutun in ihrem Körper begann und sich dort entwickelt - ob sie es nun will oder nicht. Es gibt Situationen, in denen eine Frau es als unzumutbare Belastung empfindet, dieses Leben zur Welt zu bringen. Ich unterstelle den meisten Frauen, dass ihnen diese Entscheidung nicht leicht fällt, dass ihnen die moralischen Implikationen bewusst sind und dass sie nicht aus einer Tageslaune heraus diesen unumkehrbaren Entschluss treffen.
So, und diese Entscheidung über Leben und Tod soll was bitte noch einmal mit dem Verfassen eines Popsongs zu tun haben? Haben Sie mitgezählt, an wie vielen Stellen dieses Bild nicht stimmt?
Entwickeln wir die Parallele etwas weiter: Am Zeugen eines Kindes ist auf jeden Fall ein weiterer Mensch beteiligt - so wie keine kreative Idee zustande kommt, ohne dass man sich vorher von anderer Stelle Anregungen geholt hat, aber jetzt, da diese aus fremden Gedanken entstandene Idee in meinem Kopf ist, gehört sie plötzlich mir allein. Nun gut, das mag man meinen. Was aber, wenn diese Idee wieder meinen Kopf verlässt, so wie ein Kind geboren wird? Beim Kind passiert dann nämlich etwas, was Künstler und Autoren beunruhigen dürfte: Es gehört nicht mehr allein der Mutter. Es gehört in allererster Linie sich selbst, hat einen eigenen Willen und ein Recht darauf, sich selbst weiter zu entwickeln. Etwas allgemeiner gehört es seinen Eltern, die Verantwortung für die Pflege und Erziehung des Kindes tragen, aber auch sie können nicht willkürlich entscheiden. Noch beunruhigender: Dieses Kind wird rasch älter. Schon sehr bald werden wir es als unnatürlich empfinden, wenn es noch immer gesäugt wird. Es wird zur Schule gehen, mit vielen anderen Menschen zusammentreffen, und irgendwann wird der Punkt gekommen sein, an dem das Kind erwachsen ist und das Elternhaus verlässt. Gucken Sie mal nach, wie lächerlich wir es finden, wenn man ewig im "Hotel Mama" wohnt. Nein, man soll in die Welt hinaus, meist viele Jahrzehnte vor dem Tod der Eltern. Ach ja, und dass Kinder für ihre Eltern Geld anschaffen gehen, sieht der deutsche Gesetzgeber mit äußerster Skepsis.
Überlegen Sie mal, welche Implikationen diese Parallele auf das Urheberrecht hätte.
Worum ging es? Vor 40 Jahren war Abtreibung pauschal verboten. Um den gesellschaftlichen Diskurs anzustoßen, bekannten sich im "Stern" über 374 Frauen zur Straftat, abgetrieben zu haben. Die sich daraufhin entwickelnde Aktion gegen den § 218 gab sich das Motto "Mein Bauch gehört mir". Es ging also um die Frage, ob und in welchem Umfang eine Frau über den Fortbestand eines Lebens bestimmen darf, das meist mit ihrem Zutun in ihrem Körper begann und sich dort entwickelt - ob sie es nun will oder nicht. Es gibt Situationen, in denen eine Frau es als unzumutbare Belastung empfindet, dieses Leben zur Welt zu bringen. Ich unterstelle den meisten Frauen, dass ihnen diese Entscheidung nicht leicht fällt, dass ihnen die moralischen Implikationen bewusst sind und dass sie nicht aus einer Tageslaune heraus diesen unumkehrbaren Entschluss treffen.
So, und diese Entscheidung über Leben und Tod soll was bitte noch einmal mit dem Verfassen eines Popsongs zu tun haben? Haben Sie mitgezählt, an wie vielen Stellen dieses Bild nicht stimmt?
Entwickeln wir die Parallele etwas weiter: Am Zeugen eines Kindes ist auf jeden Fall ein weiterer Mensch beteiligt - so wie keine kreative Idee zustande kommt, ohne dass man sich vorher von anderer Stelle Anregungen geholt hat, aber jetzt, da diese aus fremden Gedanken entstandene Idee in meinem Kopf ist, gehört sie plötzlich mir allein. Nun gut, das mag man meinen. Was aber, wenn diese Idee wieder meinen Kopf verlässt, so wie ein Kind geboren wird? Beim Kind passiert dann nämlich etwas, was Künstler und Autoren beunruhigen dürfte: Es gehört nicht mehr allein der Mutter. Es gehört in allererster Linie sich selbst, hat einen eigenen Willen und ein Recht darauf, sich selbst weiter zu entwickeln. Etwas allgemeiner gehört es seinen Eltern, die Verantwortung für die Pflege und Erziehung des Kindes tragen, aber auch sie können nicht willkürlich entscheiden. Noch beunruhigender: Dieses Kind wird rasch älter. Schon sehr bald werden wir es als unnatürlich empfinden, wenn es noch immer gesäugt wird. Es wird zur Schule gehen, mit vielen anderen Menschen zusammentreffen, und irgendwann wird der Punkt gekommen sein, an dem das Kind erwachsen ist und das Elternhaus verlässt. Gucken Sie mal nach, wie lächerlich wir es finden, wenn man ewig im "Hotel Mama" wohnt. Nein, man soll in die Welt hinaus, meist viele Jahrzehnte vor dem Tod der Eltern. Ach ja, und dass Kinder für ihre Eltern Geld anschaffen gehen, sieht der deutsche Gesetzgeber mit äußerster Skepsis.
Überlegen Sie mal, welche Implikationen diese Parallele auf das Urheberrecht hätte.
Montag, 9. April 2012
Deutsche Riten Teil 2 - Vordenker
"Günter - wer?" - "Grass." - "Und wer soll das sein?" - "Weiß nicht genau, irgendosein Typ halt."
Dieser Dialog wird wohl leider nie stattfinden, allenfalls in ein paar Jahrzehnten, wenn dieser Mann und diejenigen, die so einen Popanz um ihn veranstalten, den Weg alles Irdischen gegangen sein werden und die Zeit dazu beitrug, seine Bedeutung auf die ihm angemessene Größe schrumpfen zu lassen.
Gut, er hat einen Literaturnobelpreis, aber erstens bekam er den nicht für jede seiner vor Selbstgefälligkeit strotzenden Äußerungen, sondern für das eine, Ende der Fünzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts geschriebene Buch, dem man eine gewisse Relevanz nicht absprechen kann: die "Blechtrommel".
Das reicht dem Deutschen natürlich nicht. Er braucht Superhelden, geistige Führer, intellektuelle Lichtgestalten, die stellvertretend für ihn die Fahne der "Dichter und Denker" hochhalten. Das allein erklärt, wie ein ehemaliger, in den frühen Achtzigern gestürzter Bundeskanzler nahezu Heiligenstatus genießt. Das erklärt, warum ein Literaturkritiker, der wahrscheinlich deswegen irgendwelche unlesbaren Schinken in den Rang ewiger Meisterwerke erhebt, weil er sicher sein kann, dass niemals jemand den Blödsinn lesen und den Kritiker einen Scharlatan zeihen wird, unangefochten ganze Fernsehsendungen bestreitet. Das erklärt, warum eine ehemalige EKD-Ratsvorsitzende neben aller berechtigten Anerkennung blindlings wie ein Popstar verehrt wird.
Nun hat also der selbsternannte Enkel Thomas Manns wieder die Sehnsucht nach Schlagzeilen verspürt. Wahrscheinlich liegt bei Gelegenheit ein neues Buch an, und da ist es nicht falsch, sich in Erinnerung zu rufen. Heraus kam etwas, das bei jedem Deutschlehrer binnen Sekunden eine Fünf kassiert hätte, wäre es ohne Namensnennung veröffentlicht worden. Selbst die kritikloseste Schülerzeitung hätte sich dreimal überlegt, ob sie wirklich jedes Pennälergekritzel abdrucken will. Trägt der Pennäler jedoch einen Nobelpreis, muss das, was er von sich gibt, irgendeine Relevanz besitzen.
Was folgte, ist das typische deutsche Empörungsritual, vermischt mit dem ungläubigen Entsetzen darüber, dass der teutonische Denktitan so daneben greifen konnte. Nachdem sich jetzt auch der letzte Schwätzer darüber auslassen durfte, dass ein ehemaliges Mitglied der Waffen-SS einen solchen Text verfasst, gehen wir langsam zur Phase 2 über - zur Relativierung.
Eingeleitet wird diese Phase dadurch, dass irgendeiner der Kritiker die Sache übertreibt. In diesem speziellen Fall ist es das Einreiseverbot nach Israel nebst der vom israelischen Innenminister erhobenen Forderung nach Aberkennung des Nobelpreises. Das wirkt selbst auf die schärfsten Gegner langsam etwas albern, und da es andrenalindurchtränkten Köpfen schwer fällt, zwischen Aussage und Person, Ursache und Wirkung, Reaktion und dem eigentlichen Kern des Streits zu differenzieren, wird mit dem Unverständnis über die Reaktion der israelischen Regierung auch eine Rehabilitation der umstrittenen Äußerungen stattfinden. "Was gesagt werden muss" - das klingt doch schon so nach "Man wird ja wohl noch mal sagen dürfen." Angesichts des Fäkalsturms bekommen einige Leute Mitleid, und irgendwann trauen sich dann auch wieder diejenigen aus der Deckung hervor, denen der Gescholtene aus dem Herzen sprach. Als Ergebnis kommt ein "irgendwo hat er ja doch Recht" heraus. Das funktionierte fantastisch bei einer ehemaligen Tagesschausprecherin und einem ehemaligen Bundesbanker, die beide mit einigen gut dosierten Provokationen ihre Buchverkäufe ankurbelten - wissend, dass sie nur stoisch den automatisch einsetzenden Entrüstungssturm erdulden mussten, um daraus als Märthyrer für die Wahrheit hervor zu gehen.
Das Verhältnis des Deutschen zu seinen Vordenkern hat borderlineartige Züge. Entweder Lichtgestalt oder Teufel, dazwischen gibt es nicht viel. Hat man erst einmal eine Rolle zugeteilt bekommen, ist es aufgrund der darauf einsetzenden selektiven Wahrnehmung fast unmöglich, aus ihr auszubrechen. So musste Richard von Weizsäcker exakt eine wirklich gute Rede halten, um zu erreichen, dass die vielen relativ belanglosen Reden, die er in der Folge hielt, nur im Licht seiner zu Recht gerühmten Worte zum 8. Mai gesehen wurden. Ähnlich geht es Päpsten. Wenn Ratzinger eine Rede hält, flüstern wir ehrfurchtsvoll, wir werden wohl Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte brauchen, um die volle Bedeutung seiner Worte zu erfassen. Unsinn, der Kerl bringt es einfach nicht fertig, sich verständlich auszudrücken, schwaches Bild für den Inhaber eines akademischen Lehramts, aber so ist es nun einmal.
Will man die Seite wechseln, reicht es also nicht aus, einfach mal etwas Dummes zu sagen, da müssen die Reizthemen her, mit denen man zuverlässig seine Fanboys irritieren kann. Wichtig ist auch: Ist man erst einmal auf der dunklen Seite der Macht, gibt es kein Zurück mehr. Die neuen Freunde müssen einen für den Rest der Zeit durchfüttern.
Damit die Schlauköpfe unserer Nation auch zuverlässig von den Dummerles unterschieden werden können, bedarf es natürlich einiger Insignien. Rauchen (Grass, Schmidt) ist schon einmal ein guter Ansatz, Schnurrbart (Biermann, Grass) kommt auch immer gut, ganz wichtig sind aber auch bizarre Kleidung (Grass, Papst) und narzisstisches Auftreten (Schmidt, Reich-Ranicki, Biermann, Grass). Haben Sie gesehen, wer in allen Klammern vorkam? Wissen Sie jetzt, warum der Mann einfach intellektuell sein muss?
Allein schon aus statistischen Gründen ist es äußerst wahrscheinlich, dass im deutschsprachigen Raum mindestens 10 Millionen Menschen erheblich schlauer als man selbst sind. Doch Vorsicht: Erstens sind sie es nicht immer und vor allem auch nicht in allen Disziplinen. Ein Heiliger ist nicht rund um die Uhr heilig. Die meiste Zeit über verzapft er sogar unfassbaren Unsinn. Das ändert nichts daran, dass wir ihn für seine großen Momente bewundern können, so lange wir den Rest ebenfalls wahrnehmen und sauber einordnen. Wer seine Heiligenbilder nicht auf zu hohe Sockel stellt, riskiert auch nicht, dass diese beim Herunterfallen zu hart aufkommen.
Was das für Grass heißt? Nun, lassen Sie es mich mit den folgenden Zeilen sagen, die ich Sie mit bedächtiger Stimme im Ledersessel Ihrer Bibliothek zu lesen bitte, die Halbbrille auf der Nasenspitze sitzend:
Gedicht
entsteht nicht allein
dadurch,
dass man einen albernen Schnurrbart
eine schlecht sitzende Strickjacke
und eine Pfeife in der Hand trägt.
Manchmal
entsteht es auch
durch eine klemmende
Returntaste.
Dieser Dialog wird wohl leider nie stattfinden, allenfalls in ein paar Jahrzehnten, wenn dieser Mann und diejenigen, die so einen Popanz um ihn veranstalten, den Weg alles Irdischen gegangen sein werden und die Zeit dazu beitrug, seine Bedeutung auf die ihm angemessene Größe schrumpfen zu lassen.
Gut, er hat einen Literaturnobelpreis, aber erstens bekam er den nicht für jede seiner vor Selbstgefälligkeit strotzenden Äußerungen, sondern für das eine, Ende der Fünzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts geschriebene Buch, dem man eine gewisse Relevanz nicht absprechen kann: die "Blechtrommel".
Das reicht dem Deutschen natürlich nicht. Er braucht Superhelden, geistige Führer, intellektuelle Lichtgestalten, die stellvertretend für ihn die Fahne der "Dichter und Denker" hochhalten. Das allein erklärt, wie ein ehemaliger, in den frühen Achtzigern gestürzter Bundeskanzler nahezu Heiligenstatus genießt. Das erklärt, warum ein Literaturkritiker, der wahrscheinlich deswegen irgendwelche unlesbaren Schinken in den Rang ewiger Meisterwerke erhebt, weil er sicher sein kann, dass niemals jemand den Blödsinn lesen und den Kritiker einen Scharlatan zeihen wird, unangefochten ganze Fernsehsendungen bestreitet. Das erklärt, warum eine ehemalige EKD-Ratsvorsitzende neben aller berechtigten Anerkennung blindlings wie ein Popstar verehrt wird.
Nun hat also der selbsternannte Enkel Thomas Manns wieder die Sehnsucht nach Schlagzeilen verspürt. Wahrscheinlich liegt bei Gelegenheit ein neues Buch an, und da ist es nicht falsch, sich in Erinnerung zu rufen. Heraus kam etwas, das bei jedem Deutschlehrer binnen Sekunden eine Fünf kassiert hätte, wäre es ohne Namensnennung veröffentlicht worden. Selbst die kritikloseste Schülerzeitung hätte sich dreimal überlegt, ob sie wirklich jedes Pennälergekritzel abdrucken will. Trägt der Pennäler jedoch einen Nobelpreis, muss das, was er von sich gibt, irgendeine Relevanz besitzen.
Was folgte, ist das typische deutsche Empörungsritual, vermischt mit dem ungläubigen Entsetzen darüber, dass der teutonische Denktitan so daneben greifen konnte. Nachdem sich jetzt auch der letzte Schwätzer darüber auslassen durfte, dass ein ehemaliges Mitglied der Waffen-SS einen solchen Text verfasst, gehen wir langsam zur Phase 2 über - zur Relativierung.
Eingeleitet wird diese Phase dadurch, dass irgendeiner der Kritiker die Sache übertreibt. In diesem speziellen Fall ist es das Einreiseverbot nach Israel nebst der vom israelischen Innenminister erhobenen Forderung nach Aberkennung des Nobelpreises. Das wirkt selbst auf die schärfsten Gegner langsam etwas albern, und da es andrenalindurchtränkten Köpfen schwer fällt, zwischen Aussage und Person, Ursache und Wirkung, Reaktion und dem eigentlichen Kern des Streits zu differenzieren, wird mit dem Unverständnis über die Reaktion der israelischen Regierung auch eine Rehabilitation der umstrittenen Äußerungen stattfinden. "Was gesagt werden muss" - das klingt doch schon so nach "Man wird ja wohl noch mal sagen dürfen." Angesichts des Fäkalsturms bekommen einige Leute Mitleid, und irgendwann trauen sich dann auch wieder diejenigen aus der Deckung hervor, denen der Gescholtene aus dem Herzen sprach. Als Ergebnis kommt ein "irgendwo hat er ja doch Recht" heraus. Das funktionierte fantastisch bei einer ehemaligen Tagesschausprecherin und einem ehemaligen Bundesbanker, die beide mit einigen gut dosierten Provokationen ihre Buchverkäufe ankurbelten - wissend, dass sie nur stoisch den automatisch einsetzenden Entrüstungssturm erdulden mussten, um daraus als Märthyrer für die Wahrheit hervor zu gehen.
Das Verhältnis des Deutschen zu seinen Vordenkern hat borderlineartige Züge. Entweder Lichtgestalt oder Teufel, dazwischen gibt es nicht viel. Hat man erst einmal eine Rolle zugeteilt bekommen, ist es aufgrund der darauf einsetzenden selektiven Wahrnehmung fast unmöglich, aus ihr auszubrechen. So musste Richard von Weizsäcker exakt eine wirklich gute Rede halten, um zu erreichen, dass die vielen relativ belanglosen Reden, die er in der Folge hielt, nur im Licht seiner zu Recht gerühmten Worte zum 8. Mai gesehen wurden. Ähnlich geht es Päpsten. Wenn Ratzinger eine Rede hält, flüstern wir ehrfurchtsvoll, wir werden wohl Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte brauchen, um die volle Bedeutung seiner Worte zu erfassen. Unsinn, der Kerl bringt es einfach nicht fertig, sich verständlich auszudrücken, schwaches Bild für den Inhaber eines akademischen Lehramts, aber so ist es nun einmal.
Will man die Seite wechseln, reicht es also nicht aus, einfach mal etwas Dummes zu sagen, da müssen die Reizthemen her, mit denen man zuverlässig seine Fanboys irritieren kann. Wichtig ist auch: Ist man erst einmal auf der dunklen Seite der Macht, gibt es kein Zurück mehr. Die neuen Freunde müssen einen für den Rest der Zeit durchfüttern.
Damit die Schlauköpfe unserer Nation auch zuverlässig von den Dummerles unterschieden werden können, bedarf es natürlich einiger Insignien. Rauchen (Grass, Schmidt) ist schon einmal ein guter Ansatz, Schnurrbart (Biermann, Grass) kommt auch immer gut, ganz wichtig sind aber auch bizarre Kleidung (Grass, Papst) und narzisstisches Auftreten (Schmidt, Reich-Ranicki, Biermann, Grass). Haben Sie gesehen, wer in allen Klammern vorkam? Wissen Sie jetzt, warum der Mann einfach intellektuell sein muss?
Allein schon aus statistischen Gründen ist es äußerst wahrscheinlich, dass im deutschsprachigen Raum mindestens 10 Millionen Menschen erheblich schlauer als man selbst sind. Doch Vorsicht: Erstens sind sie es nicht immer und vor allem auch nicht in allen Disziplinen. Ein Heiliger ist nicht rund um die Uhr heilig. Die meiste Zeit über verzapft er sogar unfassbaren Unsinn. Das ändert nichts daran, dass wir ihn für seine großen Momente bewundern können, so lange wir den Rest ebenfalls wahrnehmen und sauber einordnen. Wer seine Heiligenbilder nicht auf zu hohe Sockel stellt, riskiert auch nicht, dass diese beim Herunterfallen zu hart aufkommen.
Was das für Grass heißt? Nun, lassen Sie es mich mit den folgenden Zeilen sagen, die ich Sie mit bedächtiger Stimme im Ledersessel Ihrer Bibliothek zu lesen bitte, die Halbbrille auf der Nasenspitze sitzend:
Was beklagt werden muss
EinGedicht
entsteht nicht allein
dadurch,
dass man einen albernen Schnurrbart
eine schlecht sitzende Strickjacke
und eine Pfeife in der Hand trägt.
Manchmal
entsteht es auch
durch eine klemmende
Returntaste.
Obsolete Dreckstechnik Teil 3 - Recyclingcontainer
Auf Twitter las ich vor einiger Zeit die Nachricht: "Deutschland ist, wenn neben dem Container für Grün-, Weiß- und Braunlglas einsam eine kleine, blaue Flasche steht." Treffender kann man es nicht schreiben.
Das Irre ist nur: Die meisten Leute finden das nicht komisch, das ist für sie ein ernsthaftes Problem. Suchen Sie im Internet nach dem Einleitungssatz dieses Artikels, und Sie finden reichlich, lange und engagierte Forendiskussionen zu genau diesem Thema.
Können Sie sich noch erinnern, wie seinerzeit die Mülltrennung eingeführt wurde? Natürlich gab es den üblichen Proteststurm, wie immer, wenn der Deutsche auch nur marginal seinen zwanghaften Lebensstil ändern muss. Auffällig war nur: Die Aufregung legte sich schneller als sonst, bot die Neuerung dem Deutschen doch das, was er immer schon liebte: die Möglichkeit zu sortieren. Selektieren, Gutes von Schlechtem trennen, Kategorien finden und Dinge dort einordnen, bloß kein Durcheinander, das liebt der Deutsche, egal, welcher sozialen, politischen oder ethischen Strömung er sonst angehört. Erinnern Sie sich noch, als die Piraten ihre ersten lautstarken Gehversuche auf der politischen Bühne unternahmen? Ja, natürlich ging es da auch ein wenig um Inhalte, aber was vor allem geklärt werden musste, war die Frage: Sind die nun links oder rechts? Sehen Sie sich an, was passiert, wenn politische Ämter zu vergeben sind. Am Rande kümmert man sich auch etwas darum, ob die Kandidaten etwas können, aber viel wichtiger ist doch: Mann oder Frau? Ausländer oder Deutscher? Ostdeutsch oder westdeutsch? Evangelisch oder Katholisch? Bayer oder Franke? Homo oder hetero? Erst wenn die Quote geklärt ist, kümmert man sich um Nebensächlichkeiten wie politische Programme.
Die Mülltrennung traf also mitten in die deutsche Volksseele hinein. Neue Mülltonnen wurden angeschafft - Ordnung muss sein. Merkblätter wurden herausgegeben, in denen genau geschildert wurde, wie der wertvolle Sekundärrohstoff zu behandeln sei: Schraubverschlüsse müssen selbstverständlich von den Flaschen runter, bevor sie im Container landen. Anders ist es bei Pfandflaschen, da muss der Verschluss drauf bleiben, um das Gewinde zu schützen. Joghurtbecher - ganz wichtig! - vorher auswaschen. Man kann den Müllmännern ja keinen dreckigen Müll zumuten. Ich möchte lieber nicht wissen, wieviele Kubikkilometer Spülwasser jedes Jahr bei der Reinigung von Joghurtbechern entstehen - der Umwelt zuliebe. Hat eigentlich jemals jemand darüber nachgedacht, was passiert, wenn man so einen Becher einschmilzt? Glauben Sie mir, das sind Temperaturen, bei denen etwas angekrustete Milch keine Chance hat. Davon abgesehen: Wissen Sie, was passiert, wenn die Müllwagen in die Abfallbetriebe fahren? Die sortieren den Kram, aber diesmal richtig.
In den späten Achtzigern, da mag die Vorsortiererei noch ansatzweise Sinn ergeben haben, und selbst da habe ich Glascontainer gesehen, die außen drei verschiedene Einwurflöcher, drinnen aber keine Trennwände besaßen. Ich hatte vor einem Jahr die Gelegenheit, mit einem relativ weit oben sitzenden Mitarbeiter unserer örtlichen Müllbetriebe zu reden. Wissen Sie, was der sagte: "Gelbe, blaue, braune, graue Tonne - alles Unsinn. Sie können getrost alles zusammenkippen, wir kriegen das schon getrennt. Wir planen sogar, diese ganzen verschiedenen Tonnen abzuschaffen und nur noch eine hinzustellen." Warum das nicht geschieht? Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich, um die Massenpanik zu vermeiden, die ausbricht, wenn der Deutsche nicht mehr sortieren darf.
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