In Tagen, in denen sich für tausende Japaner allenfalls die Frage stellt, ob sie im Lauf eines Erdbebens, eines Tsunamis oder einer Atomkatastrophe sterben, mag es kleinlich erscheinen, sich über sprachliche Feinheiten zu echauffieren, aber diese hier hat ein derart aufdringliches Geschmäckle, dass es meinem Verschwörungstheorien eher abgeneigten Geist schwer fällt, keine Absicht zu vermuten.
Dass viele Journalisten die ihnen im deutschen Schulsystem offerierte Bildung lotosblütenartig an sich abperlen lassen, ist bekannt. Dass viele Journalisten im medialen Aufmerksamkeitsgeheische mit Übersteigerungen wie "der Einzigste", "das Maximalste", "das Optimalste", "das Meistgefragteste" punkten zu müssen meinen, überrascht ebenfalls niemanden. Überrascht war ich allerdings, als ein Wort, das ich für klassischen Journalistensuperlativismus hielt, sich als korrekt entpuppte.
Welches Bild haben Sie vor Ihrem geistigen Auge, wenn ich Ihnen etwas vom "größten anzunehmenden Unfall" erzähle? Wenn Sie in der Grundschule aufgepasst haben, als man die Steigerungsformen von "groß" durchging, irgendetwas von der Art, was Loriot prägnant mit den Worten umschrieb: "Das Atomkraftwerk macht bumm, und alle Kühe fallen um." Das "Größte" ist das nicht mehr Steigerungsfähige, man kann nicht noch etwas draufsetzen. Was meinen Sie also, passiert beim "größten anzunehmenden Unfall", kurz "GAU" genannt, eines Atomkraftwerk?
Nichts.
Nichts? Aber was ist denn das in Japan, wo man es pünktlich zum 25. Tschernobyl-Jubiläum so richtig krachen lässt? Das dürfte doch fast genau das Schlimmste sein, was mit einem Atomkraftwerk geschehen kann. Eine Steigerung ist kaum noch möglich, mehr als einmal kann etwas nicht explodieren. Ganz recht, aber das, wovon wir gerade reden, ist kein GAU, sondern - und jetzt bitte ruhig weiteratmen - ein "Super-GAU". Das, was wir sprachlich korrekt als das Schlimmstmögliche ansehen, stellt nämlich nicht etwa die absolute Katastrophe dar, sondern ist als das definiert, wofür das Kraftwerksgebäude maximal ausgelegt ist, also den Fall, bei dem zwar im Innern alles mehr oder weniger zusammengebrochen ist, aber noch keine Strahlung austritt. Genau das ist der Grund, warum jeder Energieminister, jeder Stromversorger sich feist grinsend vor jede Pressekonferenz setzen und erklären kann, dass alle in seinem Verantwortungsbereich liegenden Atomkraftwerke im GAU dichthalten - nicht etwa, weil die Dinger so unglaublich sicher gebaut sind, sondern weil der GAU entsprechend definiert ist. Mit dieser Logik könnte man Reaktorkammern aus Wellpappe bauen. Sie wären beim GAU sicher.
Ganz so krank ist es natürlich nicht, aber es erscheint mir kein Zufall zu sein, dass man für die sprachlich nicht mehr steigerungsfähige Situation ein Szenario wählt, in dem die Lage noch halbwegs unter Kontrolle ist. Erst das, was tatsächlich die schlimmste anzunehmende Lage darstellt, wir mit einem vollkommen unsinnigen Begriff belegt, nämlich "übergrößter anzunehmender Unfall", kurz "Super-GAU". Wenn man sich gleichzeitig ansieht, welche Mühe sich die Atomkraftbefürworter jahrzehntelang gaben, die Risiken kleinzureden, wird ein Bild daraus.
Als Mathematiker lege ich normalerweise Wert darauf, sich an die Definitionen zu halten - so lange sie sinnvoll und konsistent sind. In diesem Fall jedoch sind sie es nicht. Wer den tatsächlichen GAU als "Super-GAU" bezeichnet, spielt genau denen in die Hände, die sich wieder aus den Löchern wagen, wenn die mediale Aufmerksamkeit für Japan nachgelassen hat und die nächsten Landtagswahlen erfolgreich überstanden sind. Spielen Sie dieses Spiel nicht mit.
3 Kommentare:
http://de.wikipedia.org/wiki/Supergau#Super-GAU
Das seh ich etwas anders. Es heisst ja nicht "groesster unfall" sondern eben "groesster anzunehmender unfall". D.h. auch rein logisch oder von der grammatik her ist das was ganz anderes als "einzigster".
Da es immer naturkatastrophen geben kann, gegen die kein schutz moeglich ist, ist es auch nicht sinnvoll, zu fordern, dass ein kraftwerk gegen jeden unfall abgesichert sein muss. Sondern nur gegen jeden, den man realistischerweise annehmen muss.
Womit man da so rechnen muss, darueber laesst sich natuerlich beliebig streiten... erdbeeben staerke 9 haette man, angesichts der konsequenzen eines super-GAUs, in einer gegend wie Japan IMHO erwarten muessen. Tsunami direkt an der kueste ebenfalls.
Hallo Rob,
gewichten wir das Wort "anzunehmender" etwas mehr als ich es tat, landen wir genau bei Deiner Anmerkung: Was kann man realistischerweise annehmen? Wenn ich abschätzen müsste, was das Schlimmste ist, was ich mir bei einer Atombombe, die ich mit höchstem Aufwand gerade einmal so unter Kontrolle halte, als pessimistisches Szenario vorstellen kann, lautet meine Antwort weiterhin: "Wumm!" Diesen Punkt habe ich ganz offensichtlich nicht mehr unter Kontrolle, also nehme ich ihn als Ausgangspunkt, von dem aus ich mir überlege, wo ich die Grenze ziehe, bis zu der ich reguläre Gegenmaßnahmen ergreife. Dass der Intellekt der Kraftwerkstechniker nicht ausreicht oder aus politischen Gründen nicht ausreichen darf, sich das vorzustellen, was passiert, wenn Atombomben das anstellen, was sie am besten können, nämlich explodieren, steigert mein Misstrauen in diese Technik noch weiter.
Dass der Begriff "GAU" Unfug ist, sehen aber inzwischen selbst die Sicherheitstechniker und verwenden deswegen den Begriff "Auslegungsstörfall" oder englisch "Design Based Accident", kurz "DBA", was in meinen Augen schön verdeutlicht, dass man nicht etwa das Schlimmstmögliche betrachtet, sondern eine Wirtschaftlichkeitsanalyse einbezieht.
Kommentar veröffentlichen