Der Nahe Osten brennt. Tunesien: Diktator gestürzt, Situation unklar, interessiert aber auch keinen. Ägypten: Diktator gestürzt, Situation unklar, interessiert uns aber viel mehr, weil der verkürzte Seeweg durch den Suezkanal billiges Öl bedeutet und weil wir uns unter diesem Land wenigstens etwas vorstellen können - sei es auch nur die Cheops-Pyramide. Libyen - das Land, von dem inzwischen auch der letzte Bildungsverweigerer begriffen hat, dass wir es jahrzehntelang falsch aussprachen: Diktator im Sturz begriffen, Situation unklar, interessiert mich persönlich noch am meisten, weil Gaddafi, mein persönlicher Lieblingsdiktator, von dem ich immer erwartete, dass er sich als Helge Schneider im Urlaub entpuppt, der einzige Tyrann war, der den USA noch so richtig übel auf den Wecker ging. Sich vor die UN-Vollversammlung stellen und stundenlang wüst auf die USA einpöbeln, bis deren Vertreter zutiefst entnervt den Raum verlassen - das brachte allenfalls noch Fidel Castro. Das Tolle daran: Es passierte ihm nichts. Irgendwann in den Achtzigern hatte er den Bogen etwas überspannt, einige Terroristen zu offensichtlich unterstützt und daraufhin von ein paar US-Kampfjets Tripolis bombardiert bekommen, aber abgesehen davon konnte Gaddafi munter herumpöbeln, ohne dass es ernsthaft Ärger gab. Na gut, sein Abgang verläuft etwas sehr blutig, aber bis zu diesem Zeitpunkt galt Gaddafi doch bei uns im Prinzip als der lustige Verrückte aus dem Erdölstaat.
Der Nahe Osten brennt also, aber worüber tippen sich die deutschen Journalisten besonders die Finger wund? Über einen abgehalfterten Adligen, der sich an die Reste seiner politischen Karriere klammert wie Dagobert Duck an seinen Glückskreuzer. Auch ich muss zu meiner Schande gestehen, die nordafrikanische Dominoralley zwar interessiert, aber relativ unaufgeregt zu verfolgen. Warum? Weil ich in diesem Punkt inzwischen Optimist bin. Offenbar haben die Leute begriffen, wie man mit Despoten umgeht, die ihr Volk knechten. Dabei ist es völlig egal, was der Westen von der Sache hält, ob er wie in Tunesien gar nicht mitbekommt, dass überhaupt etwas passiert, ob er wie in Ägypten zu bremsen versucht, weil es ihm nicht um Demokratie, sondern in erster Linie um berechenbare Staatschefs geht, oder ob er wie in Libyen kräftig mitschimpft, weil er sich von Gaddafi nicht weiter auf der Nase herumtanzen lassen will. Die Völker Nordafrikas erledigen ihre Diktaturen ganz hervorragend allein, auch ohne westliche Einmischung. Entsprechend wenig Grund zur Sorge besteht aus meiner Sicht. Umso mehr Grund zur Sorge bereitet mir die Realitätsverleugnung, mit der ein - in meinen Augen - des Betrugs überführter Minister die einzig mögliche Konsequenz seines Handelns zu ignorieren versucht.
Dabei hatte alles so vielversprechend begonnen. Als Guttenberg das Amt des Kriegsministers - die Freiheit, als staatlich beglaubigter Pazifist diesen Posten nach dem zu benennen, was meiner Meinung nach seinen Kern bedeutet, nehme ich mir - von seinem in epischer Breite gescheiterten Vorgänger übernahm, konnte er eigentlich nur punkten. Selbst, als er im Kunduz-Skandal ohne genauere Prüfung der Sachlage seine Soldaten in Schutz nahm und dafür reichlich Kritik erntete, fand ich dieses Vorgehen richtig. Ein guter Vorgesetzter hält erst einmal blind zu seinen Leuten und prüft danach, ob die Anschuldigungen berechtigt sind. Auch als Guttenberg anfing, im Zusammenhang mit Afghanistan von "Krieg" zu sprechen, empfand ich Anerkennung. Kriege zu führen, ist schon schlimm genug. Dies auch noch zu leugnen versuchen, ist menschenverachtend. Dinge beim Namen zu nennen, ändert zwar an den Tatsachen nichts, aber es ist wenigstens ehrlich und zeugt von Respekt denen gegenüber, zu denen man ehrlich ist.
Ehrlichkeit - dieses Attribut hätte Guttenbergs Markenzeichen werden können. Statt dessen verlegte sich das eitle Blaublut immer mehr auf effekthascherische Auftritte und immer weniger auf das harte Tagesgeschäft. Dabei gehört beides zusammen: Wer sein Handwerk sauber erledigt, darf auch gern den Ruhm dafür einstreichen. Ärgerlich wird es nur, wenn man Andere für sich arbeiten lässt und dies als eigene Leistung ausgibt.
Merkels Einwand, sie habe Guttenberg nicht wegen seines akademischen Titels der Rechtswissenschaften zum Minister ernannt, mag korrekt sein. Offensichtlich sind die Fähigkeiten, die man zur Erlangung des Dr. jur. besitzen müsste, für das Amt des Kriegsministers nicht zwingend nötig, aber darum geht es auch nicht. Es geht darum, dass hier selbst für einen gutwilligen Beobachter der Eindruck entsteht, Guttenberg habe am vergangenen Wochenende erstmals - wenn überhaupt - in seine eigene Doktorarbeit geblickt. Es geht darum, dass der adlige Minister auf seine gewohnt nassforsche Art zunächst alles abstritt und dann, als sich der Eindruck verfestigte, selbst das Vorwort seiner Arbeit könne aus der Zeitung kopiert worden sein, großzügig vorläufig auf seinen Doktortitel verzichtete - in völliger Verkennung der Tatsache, dass dies gar nicht möglich ist, weil dieser Titel verliehen und gegebenenfalls wieder aberkannt wird. Darauf verzichten kann man ebenso wenig, wie man auf die Masern verzichten kann. Den Gipfel der Dummdreistigkeit erreichte Guttenberg am 21.2. in Kelkheim auf einer CDU-Veranstaltung, auf der er erklärte: "Und nach dieser Beschäftigung habe ich auch festgestellt, wie richtig es war, dass ich am Freitag gesagt habe, dass ich den Doktortitel nicht führen werde." Achten Sie auf die Wortwahl. Es war nicht etwa falsch, diese papierbasierte Raubkopie mit dem eigenen Namen versehen und als wissenschaftliche Arbeit eingereicht zu haben, es war richtig, gnädigerweise auf den daraufhin verliehenen Titel zu verzichten. So fälscht man Geschichte. So stilisiert man Täter zu Opfern.
Es ist beschämend - für die rechtswissenschaftliche Fakultät der Uni Bayreuth, deren Prüfungskommission ein Zettelwerk, das allenfalls als Seminararbeit noch akzeptabel wäre, offenbar ungeprüft als Doktorarbeit durchwinkte und sich so dem Verdacht aussetzt, sich von Titeln, Ämtern oder anderen Verlockungen in ihrer wissenschaftlichen Neutralität beeinflussen zu lassen. Was sollen die vielen Menschen denken, die an dieser Universität für ihren Doktortitel geschuftet und ihn vollkommen zu Recht erlangt haben? Was ist jetzt ein "summa cum laude" dieser Hochschule noch wert?
Es ist beschämend - für einen ruhmessüchtigen Minister, der gute Chancen hat, mit dieser Nummer durchzukommen, der trotz der vollkommenen Demontage seiner wissenschaftlichen Reputation und seines damit verbundenen Herumlavierens meint, seine Glaubwürdigkeit als einer der wichtigsten Minister der Bundesrepublik Deutschland bliebe davon unberührt, der negiert, schauspielert, mit großer Geste nur das offensichtlich Nachgewiesene zugibt - und sich dabei auch noch als Vorbild sieht. Wer soll diesem Minister denn noch glauben, wenn er über die Lage der von ihm befehligten Soldaten spricht? Schlimmer noch: Hier geht es nicht um abstrakte wissenschaftliche Betrachtungen, hier geht es um Menschenleben. Wen setzt Guttenberg gerade aufs Spiel, um seine Karriere in Schwung zu halten?
Es ist beschämend - für die Mehrheit der Deutschen, deren Denkvermögen schlagartig auf die Stammhirnfunktionen zurückfällt, wenn irgendwo ein melodiöser Adelstitel, schön gestriegelte Haare, ein makelloses Lächeln und ein paar knackige Sprüche auftauchen. Sie haben eine Ursula von der Leyen geliebt, als sie mit einer Mischung aus Viertelwahrheiten und zusammenfabulierten Statistiken ein Zensurgesetz durchpeitschte, sie lieben Freiherr zu Guttenberg, der nach wie vor das wahre Ausmaß seines Versagens nicht begreifen kann oder will. Von "Hexenjagd", "Kesseltreiben" oder "Hetze" ist die Rede. Dass der Pöpel die Stirn besitzt, die Ehre blauen Bluts in Frage zu stellen - das gehört sich nicht, auch nicht in einer Republik. Was mich daran besonders erschüttert: Selbst im akademischen Umfeld gibt es Menschen, die einfach nicht verstehen, was an Guttenbergs Doktorarbeit falsch ist. Ich habe mit Studenten diskutiert, die mir sagten, bei ihnen sei es auch so, dass sie möglichst viele Quellen zusammentragen müssen, weil sonst ihre Arbeiten nichts wert sind. Deswegen an dieser Stelle auch noch einmal für Bätschlä-Studenten: Es war nicht etwa ein Fehler, für die Arbeit reichlich verschiedene Quellen herangezogen zu haben. Es war ein Fehler, die Quellen nicht exakt gekennzeichnet zu haben. Grund hierfür ist übrigens weniger die verletzte Eitelkeit der Verfasser oder - wie von im Vor-Internetzeitalter festsitzenden Bundestagsabgeordneten immer wieder beklagt - der "Diebstahl geistigen Eigentums", sondern viel mehr die Möglichkeit, den Originalgedanken nachlesen und prüfen zu können, wie er zustande kam und in welchem Zusammenhang er geäußert wurde. Dies ist umso wichtiger, als es Kern einer Doktorarbeit ist, eine neue wissenschaftliche Erkenntnis so genau wie möglich herzuleiten. Wissenschaftliches Arbeiten besteht vor allem im Erzeugen reproduzierbarer Ergebnisse. Bei Geisteswissenschaften heißt dies, eine getroffene Schlussfolgerung komplett auf Axiome und Definitionen zurückführen zu können. Da man in einer Doktorarbeit nicht jede Gedankenkette bis zurück zur Grundvorlesung hinschreiben kann, muss man abkürzen, dann aber auch klar benennen, worin die Abkürzung besteht.
Beim Thema "Abschreiben" tauchen offenbar bei vielen Bilder aus vierzig Jahre alten Hansi-Kraus-Filmen vor dem geistigen Auge auf. Es mag überraschen, aber zwischen dem Abkupfern bei einer Klassenarbeit und dem Plagiieren bei der Erlangung eines akademischen Titels bestehen Unterschiede. Wenn überkommene Ideen wie Ehrlichkeit, Glaubwürdigkeit, Fleiß und Eigenständigkeit bei Ihnen nicht ziehen, komme ich ganz platt mit Geld: Versuchen Sie einmal, mit einer guten Note in einer Lateinarbeit 10.000 € mehr Jahresgehalt bei ihrem Chef auszuhandeln. Probieren Sie das Gleiche mit einem Doktortitel.
Wer sich zum strahlenden Saubermann aufschwingt, muss sich an seinen eigenen Maßstäben beurteilen lassen. Wer sich anschickt, 80 Millionen Menschen zu regieren, wer die Macht hat, Soldaten in die Welt schicken, damit sie dort mit Waffengewalt die vorgeblichen westlichen Werte vertreten, sollte diese Werte wenigstens ansatzweise verkörpern und kein Schmierentheater veranstalten. Guttenberg verkörpert inzwischen nichts mehr als die Arroganz der Macht und scheint entschlossen, in kohlscher Manier die Sache auszusitzen. Wenn das alles ist, Herr Minister, was Sie zu bieten haben, dann erlaube ich mir, Ihnen in bester arabischer Manier den Schuh zu zeigen. Schuhrücktreten, Guttenberg.
Nachtrag: Nachdem das Potemkimsche Dorf in Ministergestalt mit großer Märthyrergeste den längst überfälligen Rücktritt vollzogen hat, 500.000 Facebooklicker in monarchistischer Denkblockade ihre Solidarität mit dem größten Erlöser seit Jesus von Nazareth bekundeten und die Union an einer Dolchstoßlegende arbeitet, die der des ersten Weltkriegs kaum nachsteht, möchte ich noch einmal präzisieren, warum man mit akademischen Abschlüssen nicht herumschleudern sollte wie mit Karnevalsorden: Ich möchte einen Bewerber wenigstens grob einschätzen können.
Wenn ich eine Mappe mit einem Abiturzeugnis vor mir liegen habe, weiß ich inzwischen allenfalls, dass der Kerl wenigstens bei seinen Abiklausuren halbwegs nüchtern war. Ein Diplom oder Master deutet an, dass sich der Betreffende immerhin auf seine Abschlussprüfungen einigermaßen vorbereitet und Nervenstärke bewiesen hat. Das besagt nicht viel, aber immerhin habe ich einen Eindruck davon, wieviel Wissen sich dieser Mensch in kurzer Zeit aneignen und in geordneter Form wieder absondern kann. Beim Doktor weiß ich zumindest in den Naturwissenschaften, dass dieser Mensch drei Jahre lang hart arbeiten, ernsthaft forschen musste und dass dessen Arbeit die Wissenschaft wahrscheinlich keinen Millimeter voran bringt, aber etwas über die Fähigkeit des Autors verrät, sauber zu arbeiten und das auch aufzuschreiben. Das erworbene Fachwissen ist dabei nicht so wichtig, wirklich von Bedeutung ist die durch die Doktorarbeit unter Beweis gestellte Fähigkeit, komplexe Themen zu verstehen und darzustellen. Wenn man sich auf dieses Kriterium nicht mehr verlassen kann, wenn man nicht mehr sagen kann, ob ein Bewerber schlau oder einfach nur reich ist, fehlt ein wichtiges Kriterium, um von einem persönlich unbekannten Autor wenigstens grob einschätzen zu können, ob sein Text Hand und Fuß hat. Der Titel erspart dem Leser zwar die Recherche nicht, aber er schafft ein gewisses Grundvertrauen.
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