Dienstag, 26. März 2019

Dagegen und doch dafür

Heute ist der Tag, an dem das EU-Parlament das neue Urheberrecht verabschieden wird.

"Wie kannst du so etwas sagen, wir waren doch zu Hunderttausenden auf der Straße, wir haben Millionen Unterschriften gesammelt, wir haben wochenlang Kampagnen laufen lassen, das muss die EU-Abgeordneten doch beeindruckt haben."

Nein, hat es nicht. Wie wenig es sie beeindruckt hat, seht ihr daran, dass die CDU weiterhin von Bots spricht, von Algorithmen und gekauften Demonstrantinnen. Die Absurdität der Verschwörungstheorien nimmt inzwischen so bizarre Züge an, dass es selbst den Leuten aus den eigenen Reihen langsam peinlich wird und vereinzelt CDU-Abgeordnete ihre Kolleginnen zur Besinnung mahnen. Doch die CDU ist die letzte Partei, die irgendeinen Grund zur Sorge hat. Ein Großteil derer, die in den vergangenen Wochen demonstrierten, darf noch gar nicht wählen. Der Rest dürfte nicht gerade das klassische Wählerklientel darstellen. Die Gefahr, durch das heutige Abstimmungsverhalten Stimmverluste bei der Europawahl im Mai herbeizuführen, ist nahezu ausgeschlossen.

"Aber in 5 Jahren..."

Genau, wird sich niemand an heute erinnern, weil wir bis dahin hunderte Säue durchs Dorf getrieben haben. Außerdem interessiert es eine Abgeordnete nicht, ob sie in 5 Jahren wiedergewählt wird, wenn sie es in diesem Jahr nicht schafft. Die CDU können wir also in dieser Situation abschreiben.

"Aber die SPD..."

...hat uns die Internetzensur gebracht, die Vorratsdatenspeicherung, ein ganzes Bündel Überwachungsgesetze, die vom Bundesverfassungsgericht zwischenzeitlich für ungültig erklärt werden mussten und nicht zuletzt Hartz IV. Hat sie für die Urheberrechtsreform gestimmt?"

"Katarina Barley klingt so, als wäre die dagegen gewesen."

Dieser Link verweist inzwischen auf die deutsche Wikipedia.
Sie hat dafür abgestimmt, und hier kommen wir zu einen immer wieder auftauchenden Verhaltensmuster der SPD: Große Töne spucken, Sympathien sammeln, um im entscheidenden Moment einzuknicken. Erinnert sich noch jemand, wie Martin Schulz nach der letzten Bundestagswahl verkündete, es gäbe nicht noch einmal eine "Große" Koalition, nur um wenige Wochen später das Gegenteil einzuleiten. Das war allerdings selbst für spezialdemokratische Verhältnisse kühne Volte, so dass er hierfür zurücktreten musste. Nicht zurücktreten musste der frühere Bundestagsabgeordnete und heutige Bundesdatenschutzbeauftragte Ulrich Kelber, als er ein Mitgliederbegehren gegen die
Auch dieser Link verweist inzwischen auf die Wikipedia.
Vorratsdatenspeicherung initiierte, das leiderleider scheiterte und mit einer der Gründe gewesen sein mag, warum er sich schließlich doch entschloss, für die Vorratsdatenspeicherung zu stimmen. Das begründete er auch wortreich auf seiner Webseite - ein Statement, das dem heutigen Bundesdatenschutzbeauftragten offensichtlich unangenehm ist, weswegen der Text zwischenzeitlich gelöscht wurde. Was der diplomierte Informatiker dabei übersah: Es gibt archive.org, wo der Text sich weiterhin lesen lässt.

Upps.
Es interessiert mich deshalb weniger, was die SPD in Talkshows, auf Rednerbühnen und in Tweets verkündet. Wenn ich weiß, dass ich mich kuschlig hinter einer gegen mich gerichteten Mehrheit verstecken und auf die böse CDU oder die mich überstimmende eigene Partei schimpfen kann, fällt es leicht, große Forderungen zu erheben. Andrea Nahles mag in der ihr eigenen, mit "dezent" nicht ganz treffend bezeichneten Weise gern erzählen, jetzt habe die SPD, aber sowas von, also einen derartigen Linksschwenk vollzogen - so lange sie nur darüber spricht und keine glaubwürdigen Anstrengungen unternimmt, beispielsweise Hartz IV abzuschaffen, sehe ich darin nicht viel mehr als den Versuch, sich mit schönen Versprechungen aus dem Umfragetief zu heucheln.

Deswegen können die Vertreterinnen der SPD auch jetzt viel erzählen, sie seien ja eigentlich gegen Uploadfilter, wie zum Beispiel der Abgeordnete Rabanus am 14.3. in der Aktuellen Stunde des Deutschen Bundestags:
In meiner Bewertung komme ich zu dem Schluss – letzter Satz –, dass die Neuordnung des europäischen Urheberrechts wichtig und richtig ist, dass der Mechanismus nach Artikel 13 vertretbar ist; deswegen wünsche ich mir persönlich, dass er am Ende auf europäischer Ebene auch wirksam wird. 
Äh, Sekunde, der ist ja gar nicht dagegen, der ist ja dafür. Ist ja ein Ding. Dann doch aber bestimmt die Abgeordnete Scheer:
Wir führen eine kritische Diskussion über die Uploadfilter und den Artikel 13
Ich mag mich täuschen, aber ein "Nein" hört sich für mich anders an. Gut, es bleibt ja noch der Kollege Zimmermann, ebenfalls SPD. Der erklärt, warum die SPD in Brüssel für Artikel 13 gestimmt hat:
Die Bundesregierung hätte das in Brüssel einfach durchziehen können. Dann wäre aber das gesamte Paket gescheitert.
Das ist übrigens genau die Argumentation, mit der die SPD im Jahr 2009 für die Internetzensur gestimmt hat: Wären wir nicht dafür gewesen, wäre es noch viel schlimmer gekommen. Immerhin ringt sich der Abgeordnete Zimmermann dann doch zu einem flammenden Appell gegen Uploadfilter durch:
Ja, ich tue mich mit den Uploadfiltern sehr, sehr schwer.
Uiuiui, da zittert aber der Saal. Nicht einfach "schwer" oder "sehr schwer", sondern "sehr, sehr schwer" geht es ihm damit. Da muss man auch Verständnis haben, wenn er am Ende doch dafür ist.

Natürlich wird die SPD heute für die Urheberrechtsreform und für Artikel 13 stimmen. Die Ausreden, mit denen sie die Diskrepanz zwischen den inzwischen sogar auf den Demonstrationen gehaltenen Reden und dem Abstimmungsverhalten erklären wird, werden lauten:

  1. Wir waren ja dagegen, aber die CDU war dafür.
  2. Mag ja sein, dass wir dafür waren, aber wir haben uns sowas von schwer damit getan, das glaubt ihr nicht.
  3. Wir haben immer nur gesagt, wir seien gegen Uploadfilter, nicht gegen die Reform an sich, und da mussten wir Artikel 13 wohl oder übel mit akzeptieren.
  4. Wenn wir die Reform abgelehnt hätten, wäre es noch schlimmer gewesen.
  5. Da steht doch nirgendwo etwas von Uploadfiltern.
  6. Ach, wenn wir das in Bundesgesetze gießen, biegen wir das schon irgendwie hin.
  7. Ihr müsst uns unbedingt wählen, dann wird's beim nächsten Mal viel, viel besser!
Schreibt mir, wenn ihr die Liste einmal komplett abhaken konntet.

Nachtrag

Was das Gesamtabstimmungsergebnis angeht, lag ich richtig, was das Abstimmungsverhalten der deutschen Sozialdemokratinnen angeht, lag ich falsch:
Es überrascht und freut mich, dass die SPD nach vielen Jahren wieder so etwas wie eine Haltung entwickelt hat. Das heißt allerdings nicht, dass ich jetzt aufspringe, um schnell mein Kreuzchen bei der Europawahl für die SPD zu malen. Dafür brauche ich mehr als eine einzige Abstimmung im Europaparlament. Es ist ja auch nicht so, als wären die obigen Zitate damit ungesagt und das Verhalten Kelbers damit ungeschehen. Dass ein Bundesdatenschutzbeauftragter, der zu seiner Abgeordnetenzeit vom "gläsernen MdB" tönte, jetzt nicht einmal den Mumm hat, zu seinen eigenen Worten zu stehen, sondern verschämt auf eine Wikipediaseite verlinkt. Da war seine Amtsvorgängerin, von der viele gar nicht wissen, dass der Posten zu dieser Zeit überhaupt besetzt war, schon ehrlicher. Sie gab offen zu, für die Vorratsdatenspeicherung, für die Internetzensur und für ACTA gestimmt zu haben - alles Gesetze, zu denen sie nun als Bundesdatenschutzbeauftragte von Amts wegen kritisch stehen und erst einmal lernen müsse, warum.

Während die SPD erste Anzeichen der Erkenntnis zeigte, dass sich aus dem Rectum der CDU heraus kein Wahlkampf führen lässt, zeigte sich der Rest der S&D-Fraktion im Europaparlament wenig von den Protesten beeindruckt und stimmte mehrheitlich für die Reform:
Theoretisch könnte noch der Europäische Rat das Vorhaben noch stoppen, aber bei dessen Zusammensetzung halte ich das für ausgeschlossen. Es bleibt also das deutsche Gesetzgebungsverfahren, und hier hoffe ich, dass diejenigen, die in den vergangenen Wochen viel Energie in die Proteste gesteckt haben, sich einmischen werden.