Man sollte meinen, dass die Leute nach 11 Jahren ungefähr begriffen haben, wie Twitter funktioniert. Bestimmte Missverständnisse sollten eigentlich nicht mehr vorkommen. Sollten. Eigentlich. Tatsächlich aber kommt es immer wieder zu Zwischenfällen, die mich erheblich an der Medienkompetenz der Akteuere zweifeln lassen. So geschehen am 25. Mai 2017 um 8:27 Uhr. Da twitterte @kirchentag_de von einem Podium des Berliner Kirchentags:
"Durch die Zuwanderung sind 15.000 bis 20.000 Terroristen nach Deutschland gekommen" meint @AnetteSchultner von der AfD
Das sind 120 Zeichen. Von 140 erlaubten. Was folgte, war ein einhelliger Aufschrei der Empörung der üblichen Maulaufreißer. Was dem Kirchentag denn einfiele. So ein Skandal. Einfach so eine Aussage zu posten. Eins zu eins. Ohne Distanzierung. Die Antwort von @kirchentag_de fiel nicht unbedingt professionell aus, war aber offensichtlich von der Heftigkeit der Reaktion überrascht. Man habe die Aussage "redaktionell eingeordnet", soll heißen: als Zitat gekennzeichnet. Das war aber den Meisten nicht genug. Man hätte eindeutig klarstellen müssen, wie sehr man solche Sätze verurteilt.
Jetzt verrate ich euch ein Geheimnis. Beiden Seiten, @kirchentag_de und den ganzen Berufsempörten: Twitter lässt maximal 140 Zeichen pro Tweet zu. Mit allen Interpunktionszeichen umfasste dieser Tweet 120 Zeichen. Was bitteschön erwartet ihr in den noch verbleibenden 20 Zeichen? Ein flammendes Bekenntnis zur Genfer Menschenrechtskonvention? Eine zweiseitige Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz, welche diese Äußerung aufs Schärfste verurteilt? Leute, habt ihr noch nie in eurem Leben Twitter benutzt? Da berichten ständig Leute auf diese Weise von Veranstaltungen. Sie schreiben, was verschiedene Podiumsgäste sagen, verdeutlichen, dass sie nur berichten und nicht etwa sich die Aussagen aneignen. Kein Mensch, jedenfalls keiner mit nur Ansätzen von Grips im Kopf, käme auf die Idee, sich darüber aufzuregen, dass jemand ein Zitat korrekt wiedergibt. Im Gegenteil, die Meisten freuen sich, auf diese Weise die wichtigsten Äußerungen einer Veranstaltung mitzubekommen.
Auf der anderen Seite: Liebe @kirchentag_de-Redaktion (und ich meine das "liebe" nicht, wie in solchen Kontexten üblich, ironisch, sondern ich habe trotz aller Kritik, die man an dem alle zwei Jahre ausgetragenen Massenauflauf der Realitätsgeflüchteten haben kann, Respekt vor dem nötigen organisatorischen Können und finde die meisten Leute auf dem Kirchentag auch wirklich nett), konntet Ihr nicht ahnen, dass Ihr mit diesem Tweet einen (verzeiht mir das dümmliche Modewort) Shitstorm lostreten werdet? Mir ist schon klar, dass in den Tweet nur das Zitat und nicht noch ein langer Lex hineinpasste, wie doof Ihr diese Äußerung findet, aber vielleicht wäre es besser gewesen, so ein Zitat gar nicht erst zu twittern, sondern auf einer Plattform abzusetzen, die ein wenig mehr Einordnung erlaubt. Es mag Euch in Eurer Filterblase nicht auffallen, aber auf Twitter gibt es sehr viele Leute mit einem, sagen wir, sehr schlichten Gemüt und umso klareren Feindbild. Über die Kirche, sei sie evangelisch oder katholisch, denken sie ähnlich differenziert wie die AfD über den Islam. Kirche ist böse, BÖHÖSE. Das sind die mit der Inquisition (ach, da gab's die Protestanten noch gar nicht? Egal) und der Hexenverbrennung, die den ganzen Tag damit verbringen, zu einer nichtexistenten (da sind sie GANZ sicher) Entität zu beten und kleine Jungs zu vergewaltigen. DEN GANZEN TAG. Und zwischendurch hassen sie die Homosexuellen, obwohl sie doch selbst alle schwul sind. Und frauenfeindlich. Der Luther, das ist der allerschlimmste von denen. Der und sein Antisemitismus, die haben Auschwitz doch erst ermöglicht. So, und jetzt heizt diesen brodelnden Kessel noch mit dem Zunder eines, zugegebenermaßen unglücklich platzierten, AfD-Zitats, und das Ding geht ab wie eine Rakete. Da werden doch gleich alle Vorurteile auf einmal bedient. Es gibt Leute, bei die sich bei Tweets wie diesem wahnsinnig progressiv, intelligent und revolutionär vorkommen und wahrscheinlich wochenlang gewartet haben, bis sie endlich ganz mutig und provokant Tweets wie den hier absetzen konnten. Es hätte Euch doch klar sein müssen, dass die fast vor Dankbarkeit gebetet haben, dass Ihr ihnen diesen Brocken vor die Füße geknallt habt.
Und nun zu Euch, ihr Intelligenzbestien, die auf Twitter ihren heiligen Krieg gegen eine der Bedeutungslosigkeit entgegenschliddernden Minderheitenreligion kämpft. Meint Ihr nicht, Ihr seid ein bisschen zu alt für sowas? Habt Ihr das früher in der Schule auch so mutig gefunden, dem Typen, den ein Anderer vermöbelt hat und der jetzt am Boden liegt, noch einen saftigen Tritt mitzugeben, am besten der Stelle am Fußboden, wo er lag, fünf Minuten, nachdem er abtransportiert worden war, damit er sich ganz bestimmt nicht mehr wehren kann und ihr keinen Ärger mit der Schulleitung bekommt? Kamt Ihr Euch dabei auch total stark vor? Toll, Ihr seid die Größten. Ich bin so stolz auf Euch.
Es ist ja nicht so, als seien Eure Vorwürfe gegen die beiden deutschen Staatskirchen (oh, das hören die gar nicht gern, aber wie nennt man eine Kirche, die sich ihre Mitgliedsbeiträge vom Staat eintreiben lässt, und das sogar von Leuten, die gar nicht Mitglied sind?) komplett aus der Luft gegriffen, aber stellt Euch vor, irgendwer hätte eine ähnlich platte Sicht gegen den Islam oder das Judentum vertreten, hätte nur deren dunkle Seiten aufgezählt und so getan, als bestünden diese Religionen nur aus den so sorgfältig herausgepickten Schandflecken. Uiuiui, was hättet Ihr Euch ins Zeug geworfen, einen -ismus nach dem nächsten heraufbeschworen. Da müsse man doch differenzieren, hättet ihr empört geschrieen. Stellt Euch vor, jemand hätte Euch zu Antisemiten erklärt, weil Ihr die Siedlungspolitik Israels kritisiert, dem hättet ihr aber was erzählt. Und die Israelfahne, die damals auf der Demonstration verbrannt wurde, das war erstens eine Staatsflagge, zweitens habt Ihr bestenfalls daneben gestanden und mutig dagegengeklatscht, und drittens war es nur eine ganz kleine Flagge.
Merkt Ihr jetzt, wie es sich anfühlt, undifferenziert angeblökt zu werden?
Schaut Euch doch einmal die Mitgliederzahlen an. Waren 1950 noch 96,4 Prozent in der Kirche, sind es jetzt gerade einmal 56 Prozent. Allein die evangelische Kirche verlor zwischen 1990 und 2015 ganze 7.150.000 Mitglieder, das sind 286.000 pro Jahr. Sie liegt damit bei 27,1 Prozent der in der Bundesrepublik wohnenden Menschen. Nur zum Vergleich: Konfessionslose stellen die größte Gruppe mit 36 Prozent. Ihr braucht einfach nur zu warten, und Euer Lieblingsgegner verschwindet von selbst. Ihr braucht nicht einmal Twitter dafür.
So, und jetzt setzen wir uns alle hin, atmen einmal tief durch und schreiben alle hundert mal auf: Twitter hat nur 140 Zeichen. Get used to it.
Dienstag, 30. Mai 2017
Mittwoch, 17. Mai 2017
Wuchtig tönendes Wischiwaschi
Bei drei Wahlen abgestraft, dazu bei einer in Nordrhein-Westfalen, dem Bundesland, in dem die SPD ähnlich wie die CDU in Bayern sich einst nur fragen musste, wie hoch, nicht ob sie gewinnt. Die Bundestagswahl rückt deutlich näher, und man muss kein Hellseher sein, wenn man behauptet: Eher schafft es Mario Barth, einen lustigen Satz zu sagen, als Martin Schulz es in die Nähe des Kanzleramts.
Von Reflexionsfähigkeit ist in der SPD nicht viel zu sehen. OK, der Fairness halber sei gesagt, dass Hannelore Kraft nicht lang gefackelt und gleich am Wahlabend alle Parteiämter niedergelegt hat. Ganz anders Amtskollege Thorsten Albig. Der brauchte satte 10 Tage, um dann mit der sauertöpfischen Bemerkung, er werde, um "jedweder weiteren substanzlosen aber dennoch für mich und mein persönliches Umfeld ehrverletzenden Unterstellung der Vermischung öffentlicher und privater Interessen den Boden zu entziehen", das Handtuch werfen. Ich weiß ja nicht, wie intensiv dieser Mann sein eigenes Geschwätz und dessen Auswirkungen ignoriert, aber wenn er einen Blick auf die Umfragewerte wirft, wir es sehen, wie sehr sie nach der unsäglichen "Bunte"-Homestory durchsackten, in der er erklärte, wie er sich von seiner vorherigen Frau trennte, weil sie als Hausfrau und Mutter nicht mehr mit ihm auf Augenhöhe reden konnte. So etwas kann man denken, man kann es unter Vertrauten sagen, aber man darf nicht die Blödheit besitzen, es in einem auflagestarken Klatschblatt drucken zu lassen. Ich hoffe zwar und gehe auch davon aus, dass dieses Interview nicht der alleinige Grund war, warum Albig abgewählt wurde, aber es war mit Sicherheit ein Grund, warum es so heftig ausfiel.
Insgesamt scheint die SPD nicht zu begreifen, was die Leute an ihr so wenig leiden können, dass selbst die CDU für sie wie eine Alternative erscheint. Zum Glück stolperte ich in dieser Woche über einen Tweet, der die ganze Unerträglichkeit der deutschen Spezialdemokratie in wenigen Zeichen zusammenfasst.
Wir lehnen die Vorratsdatenspeicherung nach wie vor grundsätzlich ab - jetzt Ausweitung verhindern!
Fast hört man das Großmaul von Sigmar Gabriel vom Rednerpult dröhnen, selbstgefällig, aufgeblasen, vor Ehfurcht der eigenen Wichtigkeit gegenüber kaum zu reden fähig. Nun käme der oben zitierte Satz niemals von ihm, weil Gabriel ganz feuchte Hände bekommt, wenn er nur an den Überwachungsstaat denkt. Die Rhetorik hingegen ist die gleiche. Der erste Satz: Schaut her! Ecce homo! No pasaran! Kampf bis zum letzten Mann. Und dann der zweite: Was kümmert uns unser Geschwätz des letzten Satzes? Wir weichen zurück! Tapfer! Alle voran zum Rückzug!
Wahrscheinlich bekommen die Wichtigtuer von d64 die Erbärmlichkeit, die vollendete Lächerlichkeit ihres Zwergenaufstands gar nicht selber mit. Wahrscheinlich merken sie gar nicht, dass "grundsätzliche Ablehnung" und "Ausweitung verhindern" miteinander, wenn schon nicht unvereinbar, dann doch sehr schwer in Einklang zu bringen sind. Ich kann nicht auf der einen Seite etwas grundsätzlich ablehnen, um mich im nächsten Satz damit abzufinden und nur zu fordern, dass es nicht noch schlimmer wird. Gerade die Digitalexperten von d64 sollten wissen, dass Vorratsdatenspeicherung nicht einfach irgendeine Überwachungsmaßnahme unter vielen ist. Vorratsdatenspeicherung ist die grundsätzliche Abkehr von der Unschuldsvermutung zum Generalverdacht. Sie bedeutet die anlasslose Erfassung, wann wer wo mit wem wie lang mobil telefoniert hat. Sie registriert, wann wer wie lang online war. Inzwischen gibt es Studien, die belegen, dass auf diese Weise erhobene Metadaten keineswegs harmloser Datenmüll sind, sondern fast so viel über den Inhalt verraten, als hätte man ihn auch mitgeschnitten. Anders gesagt: Warum, glauben Sie, sind die Sicherheitsfetischisten von Union und SPD so wild auf diese Daten, wenn sie angeblich völlig harmlos sind?
Ein bisschen Vorratsdatenspeicherung gibt es ebenso wenig wie ein bisschen Schwangerschaft. Wer sie grundsätzlich bekämpft, muss natürlich insbesondere deren Ausweitung bekämpfen, aber das ist allenfalls ein Minimalziel, auf das man sich in größter Not herunterhandeln lässt. Das ist keinesfalls eine Forderung, die man am Anfang erhebt. Wer mit dieser Position in den politischen Diskurs einsteigt, muss damit rechnen, sich im weiteren Verlauf zu einem Kompromiss überreden zu lassen, der die Erweiterung sehr wohl zulässt und gerade einmal die Bedingungen ändert. Im konkreten Fall heißt das: Vorratsdatenspeicherung ist nicht nur zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus OK, sondern auch, um Junkies zu erwischen, die mit einem Wohnungseinbruch ihren nächsten Schuss finanzieren wollen. Dafür stellt man doch gern ein komplettes Volk unter Generalverdacht. Liest man sich die Presseerklärung der d64-Wohnzimmerhelden durch, findet man auch die Erklärung, dass sie vor genau dieser schleichenden Ausweitung immer gewarnt haben. Statt aber konsequent zu bleiben, kommt von d64 eine Erklärung, wie sozialdemokratischer sie nicht sein kann: Man bedient alle. Die Gegner der Vorratsdatenspeicherung bekommen ihren Passus, der vollmundig den Kampf gegen die Überwachung verkündet. Die Befürworter bekommen ihren Passus, der die vorhandene Überwachung akzeptiert und nur in Feinheiten einige Änderungen vorschlägt. Man versucht, alle Parteien zufrieden zu stellen und sich mit niemandem ernsthaft anzulegen. Der doofe Wähler wird schon nicht merken, dass wir uns auf nichts festnageln lassen.
Doch, merkt er. Er merkt, wenn er für dumm verkauft wird. Parteien, die allen alles versprechen und am Ende nur laue Ausreden haben, warum sie für ein paar schöne Posten ihre Positionen verraten, sind ihnen suspekt. Die CDU mag vielleicht eine Bande böser Buben sein, aber wenigstens sagt sie das ehrlich. Eine Partei, die glaubt, sich mit wuchtig tönendem Wischiwaschi durchschummeln zu können, braucht niemand.
Von Reflexionsfähigkeit ist in der SPD nicht viel zu sehen. OK, der Fairness halber sei gesagt, dass Hannelore Kraft nicht lang gefackelt und gleich am Wahlabend alle Parteiämter niedergelegt hat. Ganz anders Amtskollege Thorsten Albig. Der brauchte satte 10 Tage, um dann mit der sauertöpfischen Bemerkung, er werde, um "jedweder weiteren substanzlosen aber dennoch für mich und mein persönliches Umfeld ehrverletzenden Unterstellung der Vermischung öffentlicher und privater Interessen den Boden zu entziehen", das Handtuch werfen. Ich weiß ja nicht, wie intensiv dieser Mann sein eigenes Geschwätz und dessen Auswirkungen ignoriert, aber wenn er einen Blick auf die Umfragewerte wirft, wir es sehen, wie sehr sie nach der unsäglichen "Bunte"-Homestory durchsackten, in der er erklärte, wie er sich von seiner vorherigen Frau trennte, weil sie als Hausfrau und Mutter nicht mehr mit ihm auf Augenhöhe reden konnte. So etwas kann man denken, man kann es unter Vertrauten sagen, aber man darf nicht die Blödheit besitzen, es in einem auflagestarken Klatschblatt drucken zu lassen. Ich hoffe zwar und gehe auch davon aus, dass dieses Interview nicht der alleinige Grund war, warum Albig abgewählt wurde, aber es war mit Sicherheit ein Grund, warum es so heftig ausfiel.
Insgesamt scheint die SPD nicht zu begreifen, was die Leute an ihr so wenig leiden können, dass selbst die CDU für sie wie eine Alternative erscheint. Zum Glück stolperte ich in dieser Woche über einen Tweet, der die ganze Unerträglichkeit der deutschen Spezialdemokratie in wenigen Zeichen zusammenfasst.
Wir lehnen die Vorratsdatenspeicherung nach wie vor grundsätzlich ab - jetzt Ausweitung verhindern!
Fast hört man das Großmaul von Sigmar Gabriel vom Rednerpult dröhnen, selbstgefällig, aufgeblasen, vor Ehfurcht der eigenen Wichtigkeit gegenüber kaum zu reden fähig. Nun käme der oben zitierte Satz niemals von ihm, weil Gabriel ganz feuchte Hände bekommt, wenn er nur an den Überwachungsstaat denkt. Die Rhetorik hingegen ist die gleiche. Der erste Satz: Schaut her! Ecce homo! No pasaran! Kampf bis zum letzten Mann. Und dann der zweite: Was kümmert uns unser Geschwätz des letzten Satzes? Wir weichen zurück! Tapfer! Alle voran zum Rückzug!
Wahrscheinlich bekommen die Wichtigtuer von d64 die Erbärmlichkeit, die vollendete Lächerlichkeit ihres Zwergenaufstands gar nicht selber mit. Wahrscheinlich merken sie gar nicht, dass "grundsätzliche Ablehnung" und "Ausweitung verhindern" miteinander, wenn schon nicht unvereinbar, dann doch sehr schwer in Einklang zu bringen sind. Ich kann nicht auf der einen Seite etwas grundsätzlich ablehnen, um mich im nächsten Satz damit abzufinden und nur zu fordern, dass es nicht noch schlimmer wird. Gerade die Digitalexperten von d64 sollten wissen, dass Vorratsdatenspeicherung nicht einfach irgendeine Überwachungsmaßnahme unter vielen ist. Vorratsdatenspeicherung ist die grundsätzliche Abkehr von der Unschuldsvermutung zum Generalverdacht. Sie bedeutet die anlasslose Erfassung, wann wer wo mit wem wie lang mobil telefoniert hat. Sie registriert, wann wer wie lang online war. Inzwischen gibt es Studien, die belegen, dass auf diese Weise erhobene Metadaten keineswegs harmloser Datenmüll sind, sondern fast so viel über den Inhalt verraten, als hätte man ihn auch mitgeschnitten. Anders gesagt: Warum, glauben Sie, sind die Sicherheitsfetischisten von Union und SPD so wild auf diese Daten, wenn sie angeblich völlig harmlos sind?
Ein bisschen Vorratsdatenspeicherung gibt es ebenso wenig wie ein bisschen Schwangerschaft. Wer sie grundsätzlich bekämpft, muss natürlich insbesondere deren Ausweitung bekämpfen, aber das ist allenfalls ein Minimalziel, auf das man sich in größter Not herunterhandeln lässt. Das ist keinesfalls eine Forderung, die man am Anfang erhebt. Wer mit dieser Position in den politischen Diskurs einsteigt, muss damit rechnen, sich im weiteren Verlauf zu einem Kompromiss überreden zu lassen, der die Erweiterung sehr wohl zulässt und gerade einmal die Bedingungen ändert. Im konkreten Fall heißt das: Vorratsdatenspeicherung ist nicht nur zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus OK, sondern auch, um Junkies zu erwischen, die mit einem Wohnungseinbruch ihren nächsten Schuss finanzieren wollen. Dafür stellt man doch gern ein komplettes Volk unter Generalverdacht. Liest man sich die Presseerklärung der d64-Wohnzimmerhelden durch, findet man auch die Erklärung, dass sie vor genau dieser schleichenden Ausweitung immer gewarnt haben. Statt aber konsequent zu bleiben, kommt von d64 eine Erklärung, wie sozialdemokratischer sie nicht sein kann: Man bedient alle. Die Gegner der Vorratsdatenspeicherung bekommen ihren Passus, der vollmundig den Kampf gegen die Überwachung verkündet. Die Befürworter bekommen ihren Passus, der die vorhandene Überwachung akzeptiert und nur in Feinheiten einige Änderungen vorschlägt. Man versucht, alle Parteien zufrieden zu stellen und sich mit niemandem ernsthaft anzulegen. Der doofe Wähler wird schon nicht merken, dass wir uns auf nichts festnageln lassen.
Doch, merkt er. Er merkt, wenn er für dumm verkauft wird. Parteien, die allen alles versprechen und am Ende nur laue Ausreden haben, warum sie für ein paar schöne Posten ihre Positionen verraten, sind ihnen suspekt. Die CDU mag vielleicht eine Bande böser Buben sein, aber wenigstens sagt sie das ehrlich. Eine Partei, die glaubt, sich mit wuchtig tönendem Wischiwaschi durchschummeln zu können, braucht niemand.
Montag, 8. Mai 2017
Mit dem Schulzzug aufs Abstellgleis
Es muss schon einiges zusammen kommen, bis in diesem Land Wähler einen nahezu unbekannten Kandidaten ins Ministerpräsidentenamt hieven. Das geschah jetzt in Schleswig-Holstein, wo die CDU es schaffte, einen Rückstand von sechs Prozentpunkten in den Umfragen in einen soliden Vorsprung von beinahe fünf Prozent am Wahlabend zu verwandeln. Nun wissen wir alle, dass Meinungsforscher sich bisweilen Methoden bedienen, mit denen man auch die Horoskopspalte der Hörzu schreiben könnte, aber dass die Wahl derart deutlich ausfallen könnte, hätte vor wenigen Wochen niemand ernsthaft geglaubt.
Mit dem Debakel in Schleswig-Holstein droht der SPD das, was sie monatelang gemieden hat wie der Teufel das Weihwasser: Wahlkampf mit Inhalten. Mit klaren Positionen und Abgrenzungen. Das fällt den Spezialdemokraten schwer, haben sie doch in ihrer Gier nach Regierungsmacht so viele ihrer Überzeugungen verraten, dass sie in Ermangelung eigener Werte inzwischen welche verraten, die vor 10 Jahren noch nicht einmal die ihren waren. Darüber täuscht auch das zehnte Schulzzug-Lied auf Youtube nicht hinweg, über das wir alle pflichtschuldig einmal gelächelt haben, obwohl es ganz schön peinlich war.
Noch herber als die SPD hat es die Piraten erwischt. Erklärungsversuche gab es hierfür viele, klarer wird es, wenn man sich die Wählerwanderung ansieht. Hier erkennt man, dass 45.000 der 76.000 AfD-Wähler von den "Sonstigen", also größtenteils von den Piraten kommen. Heißt dies, dass zigtausend Nazis vorher die Piraten unterwandert haben, bevor sie zur AfD wechselten? Nein, das heißt, dass es ein Potenzial von etwa 50.000 Menschen gibt, die mit dem Parteienangebot so unzufrieden sind, dass sie in ihrer Verzweiflung alles einmal durchprobieren, was irgendwie neu aussieht. Das heißt aber auch, dass die AfD in vier Jahren auch wieder verschwunden sein kann, weil sie aus Sicht der Protestwähler dann auch zu "denen da oben" gehört, denen man "es mal so richtig zeigen" muss. Gänzlich überflüssig scheinen die Piraten in Schleswig-Holstein nicht gewesen zu sein, brachten sie die gemütliche Sitzungsrunde zumindest so durcheinander, dass sie mit Ausfällen wie „Ich bedaure die Menschen, die vor Ihnen stehen, wenn Sie wieder Richter sind.“, „Ich frage mich einmal mehr, wer Sie zum Richter gemacht hat.“ und „Ich glaube, dass Sie in Teilen autistische Züge haben.“ zeigte, wie es hinter der würdevollen Fassade der erlesenen Parlamentarier aussieht. Von langjährigen Politik-Profis hätte ich etwas mehr Selbstbeherrschung erwartet, auch wenn sie infantil provoziert werden. Aber na gut, das ist von Provinz-Possenreißern wie Ralf Stegner und Wolfgang Kubicki wohl zu viel verlangt. Wir dürfen gespannt sein, ob sich ähnlich wuchtig in den Kampf gegen die AfD werfen werden.
Interessant wird auch die jetzt anstehende Wahl in Nordrhein-Westfalen. Hier deutet derzeit vieles auf eine SPD-Mehrheit hin, wobei das bisherige Rot-Grün-Bündnis nicht ausreichen wird. Zusammen mit dem Loser-Image, das der SPD inzwischen wieder anhaftet, könnte es für Ministerpräsidentin Kraft eng werden, und sollte sie es nicht schaffen, zuckelt der Schulzzug überall hin, aber nicht ins Kanzleramt.
Mit dem Debakel in Schleswig-Holstein droht der SPD das, was sie monatelang gemieden hat wie der Teufel das Weihwasser: Wahlkampf mit Inhalten. Mit klaren Positionen und Abgrenzungen. Das fällt den Spezialdemokraten schwer, haben sie doch in ihrer Gier nach Regierungsmacht so viele ihrer Überzeugungen verraten, dass sie in Ermangelung eigener Werte inzwischen welche verraten, die vor 10 Jahren noch nicht einmal die ihren waren. Darüber täuscht auch das zehnte Schulzzug-Lied auf Youtube nicht hinweg, über das wir alle pflichtschuldig einmal gelächelt haben, obwohl es ganz schön peinlich war.
Noch herber als die SPD hat es die Piraten erwischt. Erklärungsversuche gab es hierfür viele, klarer wird es, wenn man sich die Wählerwanderung ansieht. Hier erkennt man, dass 45.000 der 76.000 AfD-Wähler von den "Sonstigen", also größtenteils von den Piraten kommen. Heißt dies, dass zigtausend Nazis vorher die Piraten unterwandert haben, bevor sie zur AfD wechselten? Nein, das heißt, dass es ein Potenzial von etwa 50.000 Menschen gibt, die mit dem Parteienangebot so unzufrieden sind, dass sie in ihrer Verzweiflung alles einmal durchprobieren, was irgendwie neu aussieht. Das heißt aber auch, dass die AfD in vier Jahren auch wieder verschwunden sein kann, weil sie aus Sicht der Protestwähler dann auch zu "denen da oben" gehört, denen man "es mal so richtig zeigen" muss. Gänzlich überflüssig scheinen die Piraten in Schleswig-Holstein nicht gewesen zu sein, brachten sie die gemütliche Sitzungsrunde zumindest so durcheinander, dass sie mit Ausfällen wie „Ich bedaure die Menschen, die vor Ihnen stehen, wenn Sie wieder Richter sind.“, „Ich frage mich einmal mehr, wer Sie zum Richter gemacht hat.“ und „Ich glaube, dass Sie in Teilen autistische Züge haben.“ zeigte, wie es hinter der würdevollen Fassade der erlesenen Parlamentarier aussieht. Von langjährigen Politik-Profis hätte ich etwas mehr Selbstbeherrschung erwartet, auch wenn sie infantil provoziert werden. Aber na gut, das ist von Provinz-Possenreißern wie Ralf Stegner und Wolfgang Kubicki wohl zu viel verlangt. Wir dürfen gespannt sein, ob sich ähnlich wuchtig in den Kampf gegen die AfD werfen werden.
Interessant wird auch die jetzt anstehende Wahl in Nordrhein-Westfalen. Hier deutet derzeit vieles auf eine SPD-Mehrheit hin, wobei das bisherige Rot-Grün-Bündnis nicht ausreichen wird. Zusammen mit dem Loser-Image, das der SPD inzwischen wieder anhaftet, könnte es für Ministerpräsidentin Kraft eng werden, und sollte sie es nicht schaffen, zuckelt der Schulzzug überall hin, aber nicht ins Kanzleramt.
Montag, 1. Mai 2017
Deutsche Riten Teil 4: Leitkultur
Du liebe Güte, sind euch im Wahlkampf schon so früh die Themen ausgegangen, dass ihr jetzt wieder die Leitkulturdebatte herauskramen müsst?
Es ist so langweilig, so vorhersagbar und am Ende auch ergebnislos: Irgendein CDU-Politiker fühlt sich medial unterrepräsentiert und beschließt, deswegen ein heißes Eisen anzupacken, ein ganz heißes. Naja, und dann reicht der Mut doch nur, um in das nächststehende Mikrofon das Wort "Leitkultur" zu rülpsen.
Letztlich ist es auch egal. Es wäre sogar verschwendete Energie, sich eines wirklich wichtigen Themas anzunehmen, denn es geht ja doch nur um die nächste Schlagzeile. Da reicht die Leitkulturdebatte allemal, denn Deutschlands "Progressive" funktionieren in dieser Hinsicht dankenswerterweise sehr zuverlässig.
Das Vorgehen ist immer gleich: Der CDU-Mensch nuschelt etwas davon, es gäbe so etwas wie einen kulturellen Kanon, dem "die Deutschen" sich verbunden fühlten und dem folglich alle, die hier dauerhaft leben wollten, sich unterordnen müssten. Statt nun aber mitleidig zu lächeln "jou, hatten wir schon etliche Male ohne vorzeigbare Resultate durchdiskutiert, geh woanders trollen" schreien alle, die sich politisch irgendwo zwischen Grünen, Linkspartei und SPD (die aber nur zum Teil, man ist ja immerhin staatstragend) verorten, reflexartig auf und beschwören Bilder von Fackelzügen durchs Brandenburger Tor herauf. Die Gegenthese lautet wahlweise, die behauptete Leitkultur gäbe es gar nicht, es gäbe sie zwar, sei aber total doof, weil nicht so wie beschrieben, oder es sei ja wohl eine Frechheit, wertvolle, hilflose andere Leitkulturen durch unsere Leitkultur einfach unterbuttern zu wollen.
Am Ende kommt heraus: eine Talkrunde bei Anne Will mit den üblichen Schwätzern der etablierten Dateien plus irgendeinem Nichts, dessen oder deren Tweet zum Thema mehr als hundert Retweets bekommen hat und das diese ungeheure Bekanntheit zum Anlass nimmt, schon einmal mit der Autobiografie anzufangen. Es kommt heraus: ein Vierseiter im Spiegel, eine Seite in der "Zeit" und ein bissiger Kommentar in der taz, der lustig wäre, wenn man nicht den nur marginal umgeschriebenen Text von der letzten ritualisierten Empörung genommen hätte. Die eigentliche Debatte ist keinen Millimeter vorangekommen, was aber auch kein Wunder ist, weil es nichts Neues gibt und alle denkbaren Argumente einfach immer wieder aufgewärmt werden.
Aber schön, dass wir darüber nicht geredet haben.
Es ist so langweilig, so vorhersagbar und am Ende auch ergebnislos: Irgendein CDU-Politiker fühlt sich medial unterrepräsentiert und beschließt, deswegen ein heißes Eisen anzupacken, ein ganz heißes. Naja, und dann reicht der Mut doch nur, um in das nächststehende Mikrofon das Wort "Leitkultur" zu rülpsen.
Letztlich ist es auch egal. Es wäre sogar verschwendete Energie, sich eines wirklich wichtigen Themas anzunehmen, denn es geht ja doch nur um die nächste Schlagzeile. Da reicht die Leitkulturdebatte allemal, denn Deutschlands "Progressive" funktionieren in dieser Hinsicht dankenswerterweise sehr zuverlässig.
Das Vorgehen ist immer gleich: Der CDU-Mensch nuschelt etwas davon, es gäbe so etwas wie einen kulturellen Kanon, dem "die Deutschen" sich verbunden fühlten und dem folglich alle, die hier dauerhaft leben wollten, sich unterordnen müssten. Statt nun aber mitleidig zu lächeln "jou, hatten wir schon etliche Male ohne vorzeigbare Resultate durchdiskutiert, geh woanders trollen" schreien alle, die sich politisch irgendwo zwischen Grünen, Linkspartei und SPD (die aber nur zum Teil, man ist ja immerhin staatstragend) verorten, reflexartig auf und beschwören Bilder von Fackelzügen durchs Brandenburger Tor herauf. Die Gegenthese lautet wahlweise, die behauptete Leitkultur gäbe es gar nicht, es gäbe sie zwar, sei aber total doof, weil nicht so wie beschrieben, oder es sei ja wohl eine Frechheit, wertvolle, hilflose andere Leitkulturen durch unsere Leitkultur einfach unterbuttern zu wollen.
Am Ende kommt heraus: eine Talkrunde bei Anne Will mit den üblichen Schwätzern der etablierten Dateien plus irgendeinem Nichts, dessen oder deren Tweet zum Thema mehr als hundert Retweets bekommen hat und das diese ungeheure Bekanntheit zum Anlass nimmt, schon einmal mit der Autobiografie anzufangen. Es kommt heraus: ein Vierseiter im Spiegel, eine Seite in der "Zeit" und ein bissiger Kommentar in der taz, der lustig wäre, wenn man nicht den nur marginal umgeschriebenen Text von der letzten ritualisierten Empörung genommen hätte. Die eigentliche Debatte ist keinen Millimeter vorangekommen, was aber auch kein Wunder ist, weil es nichts Neues gibt und alle denkbaren Argumente einfach immer wieder aufgewärmt werden.
Aber schön, dass wir darüber nicht geredet haben.
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