Vielleicht sollte ich mir einfach abgewöhnen, im Sommer Twitter zu nutzen. In dieser Zeit ist dieses Medium einfach unerträglich.
Der Sommer ist eine nachrichtenarme Zeit, zugegeben, aber das heißt doch noch lange nicht, dass man sich über jeden, und ich meine damit wirklich jeden Schwachsinn aufregen muss, als hätte man die Gene von Hitler, Stalin, Pol Pot und Dschingis Khan zusammengerührt, um mit dem Ergebnis einen unfassbar brutalen Vernichtungsfeldzug gegen lesbische Katzenbabies zu führen. Ich finde es ja in Ordnung, wenn ihr meint, zu allem, und ich meine damit wirklich allem eine Meinung haben zu müssen, aber könnt ihr sie vielleicht mit ein bisschen weniger Drama in die Welt schreien? Ich weiß ja nicht, was ihr damit bezwecken wollt, aber wenn ihr glaubt, Journalisten seien in diesen Tagen so verzweifelt, dass sie in ihrer Not jeden hinreichend lauten Selbstdarsteller in die nächste Talkshow zerren, sei euch gesagt: So einfach funktioniert das Geschäft nun auch wieder nicht.
Es gibt so viele interessante Dinge, über die man schreiben kann. Leute, wir sind am Pluto vorbeigeflogen. Am Pluto! Das kleine Kügelchen kannten wir bisher nur als verwaschenen Lichtfleck, und jetzt haben wir hochaufgelöste Fotos von der Oberfläche. Das, liebe Leute, ist Wissenschaft in ihrer ganzen Schönheit.
Wir bekommen die Vorratsdatenspeicherung. Wir haben die nahezu unkontrollierte Fluggastdatenweitergabe. Frankreich und Großbritannien verwandeln sich in Polizeistaaten. Der Bundesnachrichtendienst entpuppt sich als völlig außer Kontrolle geratene Spionagetruppe, der Generalbundesanwalt weigert sich, seiner Aufgabe nachzukommen und wegen des offensichtlichen mehrfachen Rechtsbruchs Ermittlungen einzuleiten. Lauter Themen, über die zu reden und derentwegen aktiv zu werden sich lohnt.
Griechenland zähle ich übrigens zu den für mich minder interessanten Dingen, weil doch klar war, dass man sich irgendwie einigen wird. Die griechische Regierung hat das getan, was jeder in ihrer Situation versucht hätte: Sie hat gepokert. Ich kann darin nichts Verwerfliches entdecken und bedauere es allenfalls, dass sie so wenig herausschlagen konnte. So wenig mich persönlich das Thema berührt: Relevant und diskussionwürdig ist es auf jeden Fall.
Der Sommer, meine an sich geschätzte Filterblase, ist also nicht so ereignisarm, dass ihr über den Quatsch reden müsstet, über den ihr gerade redet. Was heißt "redet"? Über den ihr ein Theater veranstaltet, das seinesgleichen erst einmal finden muss.
Es ging damit los, dass irgendein Youtuber die Kanzlerin zu interviewen versucht hat. Ein Youtuber, der draußen in der realen Welt etwa die Relevanz hat wie der Vorsitzende des Görlitzer Dackelzüchtervereins vor der UN-Vollversammlung. Heraus kam - naja ein belangloses Geplänkel, wie es bereits tausende gibt. Ein Politikerinterview halt.
Ja, aber was hattet ihr denn erwartet? Dass der Kerl sich auf einmal für den Pulitzer-Preis empfiehlt? Das hat schon bei Raabs harmlosen Tapsern auf der Polittalk-Bühne nicht funktioniert, warum sollte es auf einmal anders sein? Vor allem aber: Was war daran relevant?
Dann bricht ein kleines Mädchen angesichts der sehr realen Gefahr, bald wieder in die Heimat abgeschoben zu werden, in Tränen aus, während die Kanzlerin die Situation komplett falsch einschätzt und einen völlig am Kern der Sache vorbei gehenden Versuch unternimmt, das Kind zu trösten. Im Prinzip hat Michael Seemann in einer ausgezeichneten Analyse schon alles gesagt, was man dazu sagen muss, was natürlich die vor Selbstgerechtigkeit triefende Twitterhorde nicht davon abhält, sich über die emotionale Fehlleistung der Kanzlerin zu ereifern. Leute, wenn ihr unbedingt einen Emo als faktisches Staatsoberhaupt haben wollt, dann wählt Claudia Roth. Die ist außerstande, auch nur die aktuelle Uhrzeit zu verkünden ohne dabei in Tränen auszubrechen. Natürlich hat Merkel in dieser Situation nicht optimal reagiert, aber mit Verlaub: Das ist auch nicht ihre Aufgabe. Ein paar Stunden vorher hat sie sich noch mit europäischen Staatschefs um Milliardenbeträge gestritten, und auf einmal soll sie in einer Schule weinende Mädchen trösten? Was hättet ihr erwartet? Dass sie sagt: "Pass auf, ich bin die Kanzlerin, hier schiebt dich keiner ab?" Wisst ihr, was ihr dann geschrieen hättet? "Mimimi, an diesem einen Beispiel zeigt sie auf einmal Menschlichkeit, während gleichzeitig im Mittelmeer die Flüchtlinge ertrinken", und ihr hättet Recht gehabt. Dass wir Menschen, die hungernd und geschunden an unserer Türschwelle kauern, verrecken lassen, das ist der Skandal, und der wird nicht dadurch besser, dass wir theatralisch ein Kind vor diesem Schicksal bewahren. Nein, Ziel einer menschlichen Flüchtlingspolitik wäre es, diese Leute aufzunehmen und nicht ihre Wohnheime niederzubrennen.
Als einzige Hoffnung verbinde ich mit der Aufregernummer über Merkel, dass ihr vielleicht endlich damit aufhört, die Frau "Mutti" zu nennen. Mutti kann nämlich ordentlich trösten. Die Kanzlerin dem Anschein nach nicht.
Und jetzt hat auch noch Dieter Nuhr es gewagt, über das nach Aufmerksamkeit gierende Twittergekreisch zu lästern. Ursache war ein - zugegebenermaßen nicht besonders intelligenter - Tweet zur Griechenlandfrage. Hätte er den in einem seiner Comedyprogramme untergebracht, hätte es niemand registriert. So aber hatte er es gewagt, seine platte Pointe in den heiligen Hallen der Twittersphäre zur Schau zu stellen, und da darf bekanntermaßen nur das Edelste, was der deutsche Liberalismus zu bieten hat, zu lesen sein. Entsprechend war das Echo. Nuhrs Fehler bestand nun darin, es dabei nicht bewenden zu lassen, sondern in der FAZ einen länglichen, weinerlichen, verständnis- sowie humorlosen und in meinen Augen komplett vorhersagbaren Artikel über die Lynchmentalität bei Twitter zu verfassen. Wenn der Twittermob eines nicht leiden kann, dann ist es, den Spiegel vorgehalten zu bekommen, und entsprechend fiel die Reaktion aus. Oh, das kostet wieder Follower, die kostbare Währung der Social Media. Einige ganz Eifrige haben schon vor einiger Zeit eine Art digitale Kollektivhaft eingeführt, die sie bereits bei Don "Fonsi" Alphonso anwenden und jetzt auf Nuhr ausweiten: Sie entfolgen nicht nur das Objekt ihrer Verachtung, sie entfolgen auch alle, die ihn retweeten und alle, die ihm folgen. Vielleicht entfolgen sie auch alle, die denen folgen, die dem Geächteten folgen, Hauptsache, ihr eigenes Subnetz ist ethisch rein, von keinem falsch Denkenden beschmutzt.
Vielleicht nehmt ihr alle einfach mal ein paar Tage Urlaub. Geht an den Strand, an den nächsten Baggersee meinetwegen, aber lasst vor allem eure Twitterclients zu hause. Das ist für alle Beteiligten das Beste.