Mittwoch, 23. Juli 2014

Hamburg verbietet das 21. Jahrhundert

Im Dampflokzeitalter war der Heizer ein wichtiger und verantwortungsvoller Beruf. Stimmte die Glut unter dem Kessel nicht, fuhr der Zug zu langsam oder verbrauchte zu viel Brennstoff. Der Heizer war vielleicht nicht der qualifizierteste Spezialist, aber man brauchte ihn.

Die Jahre änderten sich. Lokomotiven fuhren immer seltener mit Kohle sondern mit Diesel oder Strom. Heizer brauchte man nicht mehr. Für die Betroffenen war das natürlich hart. Sie mussten sich nach neuer Arbeit umsehen. Auf der anderen Seite: Die Welt ändert sich. Man kann die Zeit nicht aufhalten, indem man sie verbietet.

Naja, in England schon. Da schafften es die übermächtigen Gewerkschaften, dass es selbst auf E-Loks Heizer gab - überflüssig wie ein platter Reifen, aber Englands Antwort auf den Fortschritt. Zwanzig Jahre bestand diese absurde Situation, bis schließlich Margaret Thatcher dem Spuk ein Ende setzte - die vielleicht einzige sinnvolle Entscheidung ihrer Regentschaft.

Das war in den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts. Seitdem haben wir in Deutschland viele weitere Berufe sterben sehen: Schriftsetzer beispielsweise oder Kohlebergleute. Im Fall des Kohlebergbaus haben wir den schmerzhaften Umbau einer ganzen Region erlebt, aber am Ende konnte einfach niemand mehr nachvollziehen, wie jeder einzelne Bergmann mit Summen subventioniert wurde, die man in anderen Branchen für hochspezialisierte Akademikerinnen bezahlte, wobei der Bergmann etwas aus der Tiefe holte, was oben kein Mensch mehr brauchte.

Subventionen für aussterbende Berufe sind allenfalls Übergangslösungen, die man nutzt, um den Betroffenen mehr Zeit zu verschaffen, sich eine andere Arbeit zu suchen oder in die Rente zu flüchten. Über kurz oder lang muss man aber der Realität ins Auge blicken und akzeptieren, dass Heizer auf E-Loks einfach kein tragfähiges Konzept darstellen.

In Hamburg sieht man das anders.

Dort glaubt die Verkehrsbehörde, den Lauf der Zeit ändern zu können, indem sie eine App verbietet - "Uber", um genau zu sein. Hierbei handelt es sich im Prinzip um die Fortentwicklung der Mitfahrgelegenheit. Privatleute haben einen Platz im Auto frei, melden das, und wer diesen Platz nutzen möchte, kommt zu einem moderaten Preis an eine Fahrt.

Man muss jetzt nicht allzu viel Phantasie besitzen, um zu merken, dass Uber damit mitten im Revier der Taxiunternehmen wildert. Entsprechend fallen deren Reaktionen aus. Mit Streiks und Blockaden versuchen Taxifahrer in ganz Europa, den lästigen Konkurrenten los zu werden. Wo das nicht hilft, muss der Staat helfen, der dann so wie in Hamburg den Dienst einfach verbietet.

Letztlich erscheint mir das wie der Versuch, mit einem Sieb Wasser aus einem sinkenden Schiff zu schöpfen. Wir brauchen nicht darüber zu streiten, dass kontrollierte Fahrzeuge, geeichte Taxameter und Fahrer mit Personenbeförderungsschein ein qualitatives Plus darstellen. Die Frage ist nur: Merkt der Fahrgast davon irgendetwas, und ist ihm das den recht üppigen Fahrpreis wert?

Letztlich verhindern die ganzen Maßnahmen offenbar nicht, dass immer wieder Beschwerden über unpünktliche, unfreundliche und ortsunkundige Taxifahrer laut werden, deren Fahrstil irgendwo zwischen Kampfpilot und James Bond liegt. Selbst wenn seitens der Fahrer alles in Ordnung ist, bleibt doch die Frage, wie sinnvoll ein Geschäftsmodell ist, bei dem ein halbes Dutzend Autos zeitweise stundenlang auf einem Parkplatz beim Bahnhof herumsteht, um dann mit einer einzigen Fahrt die Kosten für die ganze Warterei zu kompensieren. Das kommt nämlich noch dazu: Nicht nur ist die Sache für die Fahrgäste äußerst teuer, sie lohnt sich nicht einmal für die Fahrer besonders. Reich wird man als Taxifahrer ganz bestimmt nicht. Gleichzeitig fahren die allermeisten Privatautos mit einer, vielleicht zwei Personen herum. Die ganze Situation schreit geradezu nach einer Änderung. Ob diese Änderung ausgerechnet in Uber besteht, sei dahin gestellt; sicher scheint mir, dass Verbote hier nichts bringen. Sonst geht es den Taxifahrer wie einst den Heizern auf der E-Lok.

Sonntag, 20. Juli 2014

#Gate's noch?

Mein Nachbar in der Etage unter mir hat diese fixe Idee, dass die Menschen in unserer Umgebung nach und nach von Aliens entführt und durch Roboter ersetzt werden. Bis vor einem Jahr habe ich ihn belächelt. "So ein Unsinn", dachte ich. "Warum sollte jemand so etwas wollen?" Die Frage stelle ich mir weiterhin, aber ich lächle nicht mehr dabei. Inzwischen glaube auch ich, dass die Menschen in meiner Umgebung sukzessive ausgetauscht werden - wenn auch nicht gegen Roboter, sondern gegen Bescheuerte.

Wie anders sollte es zu erklären sein, dass sich immer mehr Leute immer lauter über immer kleinere Dinge aufregen, nur um nach immer kürzerer Zeit sich noch hysterischer einer noch banaleren Kleinigkeit zuzuwenden? Irgendwann werden  sich alle in einer Art emotionalem Blitzlichtgewitter über ein im Sekundentakt wechselndes Nichts ereifern, das zu beschreiben länger dauert, als die Leute sich damit befassen.

Watergate - wisst ihr überhaupt noch, was das ist? Schlagt es mal in der Wikipedia nach. Zugegeben, für die meisten von euch eine glatte Überforderung, weil der Artikel aus mehr als zwei Sätzen besteht und am Ende kein klares Gut-Böse-Schema hinterlässt. Watergate war ein Skandal, der seinerzeit die USA und damit die gesamte westliche Welt erschütterte. Es ging um die Glaubwürdigkeit der gewählten Volksvertreter, um journalistisches Selbstverständnis, kurz: um Grundwerte der Demokratie. Letztlich führte es zum Sturz eines der beiden mächtigsten Menschen der damaligen Welt. Wenn in den folgenden Jahrzehnten jemand mit dem Wort "Watergate" herumspielte, achtete er sorgfältig auf die historische Dimension. Als beispielsweise Ende der 80er der damalige Schleswig-Holsteinische Ministerpräsident Uwe Barschel nach einigen äußerst windigen Aktionen zurücktreten musste, was die Parteienlandschaft in Schleswig-Holstein umkrempelte und bundesweit für Aufsehen sorgte, sprach man ganz vorsichtig vom "Waterkantgate".

Und jetzt, "Netzgemeinde", sieh dir bitte einmal an, was du heute alles als "Gate" bezeichnest. Irgendwelche notorisch beim Denken vom Pech verfolgten Typen hissen auf irgendeinem Sektieretreffen irgendeinen symbolträchtigen Stofffetzen: Flaggengate! Fahnengate! Zwei Sektiererinnen verherrlichen in Dresden Kriegsverbrechen: Bombergate! Was es mit dem komischen "Molligate" auf sich hat, will ich gar nicht erst herausfinden, ist bestimmt wieder irgendein Hirnausfall. Exemplarisch will ich auf zwei Gates eingehen, die innerhalb weniger Stunden vor etwas mehr als einer Woche einander ablösten und sehr schön das selbstgefällige Herumgetöse selbstverliebter Netzgroßmäuler vorführten.

#Listengate

Mitglieder der selbsternannten "Netzpartei" stellen voller Verblüffung fest, dass öffentlich ins Netz gestellte Daten - und jetzt alle festhalten - öffentlich lesbar sind. Respekt! Wir haben in Deutschland knapp 20 Jahre flächendeckend Internet, und schon begreifen unsere "Digital Natives", also Angehörige der Generation, die eine Welt ohne Internet gar nicht mehr kennt, was es mit diesem "World Wide Web" so auf sich hat. Cool, ihr habt's ja voll drauf.

Das Problem, so bekomme ich erklärt, läge auch nicht darin, dass jemand diese öffentlich verfügbaren Daten sammelt, sondern darin, dass er sie offenbar mit dem Ziel der Beweissicherung archiviert und thematisch einordnet.

Für IQ-Verlierer wie euch wiederhole ich mich gern noch einmal, diesmal ganz langsam und in fett geschrieben:

Im Internet lesen nicht nur eure Freunde mit.

Diesem Irrtum unterliegen die meisten bewussten oder unbewussten Post-Privacy-Advokaten. Sie nehmen stillschweigend an, dass ihre bewusst allgemein zugänglichen Daten nur zu wissenschaftlichen Zwecken oder sogar zu ihren Gunsten ausgewertet werden. Gern führen sie an, dass ein Netz, das mich kennt, mich auch gezielt mit Informationen versorgt, die mich interessieren. Ja, das kann es, und das funktioniert sogar sehr gut, wie man leicht sehen kann, wenn man bei Google einmal anonymisiert sucht und bei "LaTeX" eben nicht auf die Dokumentation eines Schriftsatzsystems, sondern auf die Adressen von Dominastudios stößt (OK bei den Meisten dürfte es umgekehrt sein). Es hat durchaus seine Vorteile, wenn uns das Netz kennt, aber es kann eben auch bedeuten, dass jemand eben nicht herausfindet, wie er mir nutzen, sondern wie er mir schaden kann. Dann kann es eben passieren, dass ich auf einer Liste Linksradikaler lande, für die sich Nazis auf dem nächsten Kameradschaftsabend brennend interessieren. "Ich erzähle euch alles von mir, aber ihr dürft nur lieb zu mir sein", ist in seiner Naivität schon fast anrührend.

#Gauchogate

Anrührend fand ich auch den Jubel, den ich hörte, als vor einer Woche der entscheidende Treffer im Endspiel der FIFA-WM fiel. Ich gehöre der in diesem Land zunehmend seltener werdenden Spezies derer an, die mit einer geregelten Erwerbstätigkeit ihren Lebensunterhalt bestreiten müssen, weshalb mir der Luxus, um Mitternacht 22 Millionären dabei zuzusehen, wie sie gegen eine Kugelsphäre treten, nicht vergönnt ist, weswegen ich zu diesem Zeitpunkt in Vorbereitung des nahenden Werktags zu schlafen versuchte. Kurz gesagt: Es war ein vergeblicher Versuch, zu laut waren die Jubelfeiern unter meiner Haustür. Mich hat es nicht allzu sehr gestört, denn trotz allen Lärms waren mir die Leute sympathisch. Einige hatten eine 24 Jahre dauernde Durststrecke hinter sich, in der die von ihnen favorisierte Mannschaft bisweilen grauenhafte Leistungen zeigte. Erst seit wenigen Jahren spielte sie in einer Qualität, bei der man wieder von "konkurrenzfähig" sprechen konnte. Der Sieg fiel ihr im Turnier nicht gerade in den Schoß, sie musste bisweilen wirklich hart arbeiten, und als es am Ende doch klappte, finde ich es völlig in Ordnung, wenn die Leute einmal kollektiv vor Freude ausflippen.

Jetzt rufen wir uns noch einmal die Situation in Erinnerung: Da sind also diese 11 Millionäre plus Ersatzspieler. Diese Menschen haben mehrere Jahre auf dieses Ziel hingearbeitet, haben zwei Monate hohen Stress hinter sich, mindestens zwei praktisch schlaflose Nächte, Adrenalin- und Alkoholpegel weit jenseits der Eichmarkierungen. Diese Leute werden nicht fürs Denken bezahlt, sondern fürs Treten, eine Tätigkeit, die sich am ganz anderen Ende ihres Körpers abspielt, und dann leisten sich diese 11 Leute einen Lapsus, der ganz bestimmt nicht zu ihren intellektuellen Glanzleistungen zählt, aber ganz bestimmt auch nicht zum rassistischen, sexistischen, nationalistischem Ausbruch des hässlichen Deutschen, zu dem weite Teile des Netzes das alberne Tänzchen hochstilisierten.

Wisst ihr, was aus meiner Sicht der hässliche Deutsche ist? Das ist der intellektuelle Spießer, der ganz genau weiß, wie die wahre, schöne und gute Welt aussehen muss; eine Welt in der selbst die Milchverpackung sauber durchgegendert ist, in der alle Leute immer nur reine, klare und gute Gedanken denken, in der bei einer WM gleich zu Anfang alle Teams den Pokal geschenkt bekommen, weil alles Andere ja total diskriminierend wäre. Doch selbst in einer solchen Welt fände der hässliche Deutsche noch irgendetwas, worüber er sich aufregt. Wahrscheinlich wurde der Pokal nicht komplett aus recyclefähigem Material und CO2-neutral hergestellt, und bei der Verleihungszeremonie war für einen Sekundenbruchteil jemand zu sehen, der vor 20 Jahren über einen politisch bedenklichen Witz gelacht hat. Der hässliche Deutsche ist niemals locker, niemals entspannt, statt dessen ständig auf der Lauer, auf der Suche nach dem #Haargate in der Suppe.

Insgesamt fällt mir auf, wie viele Gates von Anhängx einer Partei ins Leben gerufen werden, die einst mit dem Anspruch auftrat, die politische Kultur dieses Landes zu reformieren, inzwischen sich aber darin gefällt, den gleichen aufgeblasenen Popanz wie die Etablierten zu veranstalten. Schwankend zwischen Amüsement, peinlichem Berührtsein und echtem Mitleid lese ich Postings einer Parteiprominenz, die inzwischen selbst fürs Dschungelcamp zu irrelevant ist, die aber von einer bedeutungsschwangeren Gewichtigkeit triefen, die selbst SPD-Parteichefs nur noch selten anschlagen. Wirkt dieser Tonfall schon bei der irgendwo im 30-Prozent-Ghetto hockenden SPD in seiner Unangemessenheit lächerlich, so ist man bei einer sich von zwei Richtung einem Prozent und weniger glitschenden Zwergpartei versucht, einen ordentlichen Therapeuten hinzuzuziehen, der diesen armen Kreaturen einen Realitätsabgleich verpasst.

Ich weiß nicht, welches schreckliche Scheitern in eurer persönlichen Lebensplanung ihr mit eurem Geschrei zu kompensieren versucht, aber seid euch versichert: Das funktioniert nicht. Ich habe Kirchenchöre, Kleingartenvereine und Betriebsräte erlebt, die ihren lächerlichen Wirkungsbereich mit realer Relevanz verwechselt haben. Glaubt mir, selbst den meisten Leuten in eurer Soziosphäre ist es egal, ob die Notenmappen dunkelblau oder schwarz, die Hecken 1,50 m oder 1,80 m hoch oder die Kaffeemaschinen mit der richtigen Bohnensorte befüllt sind. Es ist vollkommen in Ordnung, wenn euch ein Thema interessiert und ihr dort etwas bewegen wollt, aber bitte lasst nicht zwangsweise den Rest der Welt an euren Problemen teilhaben. Ich bin keine Historikerin, aber ich bin mir fast vollständig sicher: In den Geschichtsbüchern kommender Generationen wird die FIFA-WM vielleicht einen Tabelleneintrag, das Internet einen Halbsatz und eure Partei maximal eine Fußnote einnehmen. An eure lächerlichen Versuche, den nächsten Talkshowauftritt durch künstlich gehypte Hashtags zu erschreien, wird man sich allenfalls in der RTL-Retrosendung "Die peinlichsten Internetmomente der 10er" durch einem Einspieler erinnern.