Wie ich bereits schrieb, halte ich die SPD-Mitgliederbefragung zur größten Koalition aller Zeiten für eine gute Sache. Es werden ohnehin schon wenig genug Leute gefragt, was sie von dieser Idee halten, da sehe ich es als ein Zeichen guten Stils, zumindest die knappe halbe Millionen Genossinnen um ihr Votum zu bitten. Je länger ich mir aber die Durchführung ansehe, desto mehr fühle ich mich an die DDR-Volkskammerwahlen erinnert. Das Ergebnis steht bereits jetzt fest, eine tatsächliche Auseinandersetzung findet nicht statt, und es geht nur noch darum, das Ja möglichst eindrucksvoll ausfallen zu lassen.
Zu diesem Behufe finden gerade bundesweit Mitgliederversammlungen statt, deren einziger Sinn darin besteht, das Fußvolk mit einer vorgegebenen Musterrede einzuschwören. Danach gibt es ein paar Minuten, in denen sich die üblichen Stänkerer Luft und das Gefühl verschaffen dürfen, es denen da oben mal so richtig gegeben zu haben. Die Parteioberen versuchen derweil wenigstens einigermaßen den Eindruck zu hinterlassen, das Gequatsche interessiere sie auch nur ansatzweise, um dann mit einem Appell an die Solidarität zuverlässig alle Sachargumente zu übersteuern. Entsprechend staatstragend geben sich die so Gehirngewaschenen. Es ginge darum, Verantwortung zu übernehmen. Wesentliche sozialdemokratische Forderungen seien nach zähem Ringen in den Koalitionsvertrag aufgenommen worden. Die SPD bewege sich auch keineswegs noch weiter nach rechts, immerhin habe man der Linkspartei zu verstehen gegeben, dass man ihr möglicherweise - nach einer angemessenen Entschuldigung - zu verzeihen bereit sei, dass sie als einzige in Parlamenten vertretene Kraft noch alte sozialdemokratische Werte vertrete. Stimme man jetzt mit "nein", hafte einem auf Jahre der Ruf der Regierungsunfähigkeit an. Außerdem trete in diesem Fall der gesamte Parteivorstand zurück, dann müsse man die alle neu wählen. A propos Neuwahlen: Die gäbe es dann auch für den Bundestag, und wie die für die SPD ausgingen, könne man sich ja vorstellen. Damit gar nicht erst der Eindruck entsteht, die Parteiführung sei wirklich an der Meinung ihres Parteistimmviehs interessiert, liegt übrigens den Briefwahlunterlagen ein Schreiben bei, das keinen Zweifel daran lässt, was von Leuten zu halten ist, welche die Niedertracht besitzen, mit "Nein" zu stimmen.
Worte reichen nicht aus, um mein Maß der Verachtung auszudrücken. Leute, seid doch wenigstens ehrlich. Die Option, dass eure Obermuftis bald wieder Regierung spielen dürfen, lässt euch schweißnasse Hände bekommen. Endlich können unsere dicken alten Macker sich wieder vor die Kameras stellen und den Wichtigen markieren. Endlich darf die SPD aus dem Kinderplanschbecken heraus und wieder bei den Großen mitschwimmen. Endlich dürfen die Genossinnen sich wieder an den Hebeln der Macht wähnen.
Der zweite Punkt ist das einzige Merkmal, welches sich die SPD noch aus ihrer Zeit als Arbeiterpartei erhalten hat: das Führerdenken. Schumacher, Wehner, Brandt, Vogel, Schmidt, Schröder, Steinbrück - die SPD steht auf Kerle, die so richtig sagen, wo's langgeht, zu denen man aufblicken kann. Das heißt zwar nicht, dass sie nicht nach Kräften an diesen Leuten herumkritteln, aber wenn es ernst wird, steht die Partei wieder wie ein Mann hinter ihnen. "Geschlossenheit zeigen" heißt das im Parteijargon. Schröder hat gegen Ende seiner Kanzlerschaft beinahe schon die Frage nach der Uhrzeit mit einer Rücktrittsdrohung verbunden, und statt dass die Partei diesen drittklassiken Politdarsteller mit einem gewaltigen Tritt nach Russland zu den anderen lupenreinen Demokraten kickt, vollführt sie das Einzige, was sie wirklich gut kann: einen Kotau. Himmel, der Führer könnte uns verlassen - alles, nur das nicht.
Die CDU ist nach Kohl in ein tiefes Loch gefallen, aus dem sie sich aber bemerkenswert schnell wieder befreit hat. Die SPD hingegen hat den Schock, den sie nach der Wende 1982 erlitt, bis heute nicht wirklich verarbeitet. Auch Schröders Kanzlerzeit bildet da keine Ausnahme, wurde er doch nicht etwa gewählt, weil die Leute ihn so furchtbar toll fanden, sondern weil sie Kohl und Stoiber noch viel weniger leiden konnten. Seit 37 Jahren dümpelt sie - von zwei Ausnahmen abgesehen - in respektvollem Abstand hinter der CDU her. Seit 31 Jahren begreift sie nicht, dass Regieren kein Selbstzweck ist und dass man vielleicht doch einmal darüber nachdenken sollte, ob 25 % Wählerstimmen für eine Partei, die sich so gerne "Volkspartei" nennt, nicht etwas wenig sind - egal, ob das zur Regierungsbeteiligung reicht oder nicht.
Die SPD hat sich bereits einmal an Merkel die Finger verbrannt, doch statt daraus die Lehren zu ziehen und entweder eine CDU-Alleinregierung oder Rot-Rot-Grün auszuprobieren, lassen sie sich von der Meisterin der Machtspiele erneut über den Tisch ziehen. Was jetzt kommt, ist bekannt: Vier Jahre lang wird sich die SPD vorführen lassen, während über all dem die fürsorglich lächelnde Kanzlerin schwebt.
Die SPD-Basis wird den Koalitionsvertrag ergeben abnicken, so wie sie bisher alles devot bejubelt hat, was die Parteispitze ihnen vorgab. Jede Zustimmungsrate unter 80 % wäre eine Überraschung. Immerhin geht es doch darum, einen Massenrücktritt zu verhindern. Die Frage, was so schlimm daran wäre, diese politischen Erpresserinnen vom Podium zu jagen, stellt niemand. "Ja, aber die haben wir doch eben erst frisch gewählt." Oh, das beeindruckt mich unglaublich.
Der Abstand zur Fünf-Prozent-Hürde wird kleiner.