Die Masse macht's. Das Internet ist voll von Kommentaren, die das behaupten. Nimm nur reichlich Leute, heißt es, und schon evoziert das Kollektiv quasi ein höheres Bewusstsein, eine geistige Entität, die mehr ist als die Summe ihrer Einzelteile, getragen von der intellektuellen Energie tausender, ach was sag ich, zigtausender Gehirne - die Schwarmintelligenz eben.
Das ist etwa so, als wenn ich nur genug Schweinegülle in einen Tank pumpen müsste, und heraus kommt feinster Chardonnay.
Es mag ja sein, dass das Kollektiv den einen oder anderen Glückstreffer landet. In den meisten Fällen ist die Masse aber vor allem eins: bis an die Grenze der Erträglichkeit berechenbar. Nehmen wir zwei Beispiele:
Microsoft bringt ein neues - nennen wir es großzügig "Betriebssystem" - heraus. Es ist fast egal, welches genau wir nun nehmen, sei es Windows 95 mit Nachfolgern, Windows XP oder jetzt Windows 8. Microsoft fummelt kräftig am Benutzungskonzept herum, die Grafikdesigner ziehen ein paar Linien Koks extra durch und werfen mit verspielten Sperenzchen um sich wie Karnevalsprinzen mit Kamellen. Die Community reagiert mit Entsetzen. Wie konnte Microsoft nur die heiß geliebte, wenn auch völlig hirnverbrannte Menustruktur durch ein anderes nicht minder hirnverbranntes Konstrukt (Konzept kann man es wohl kaum nennen) ersetzen? Nein, diesmal sei Microsoft endgültig zu weit gegangen, jetzt ginge man zu Apple oder (man stelle sich vor, wie ich gerade vor Lachen brüllend am Boden liege) Linux. Nichts gegen Linux, ich setze es selbst seit eineinhalb Jahrzehnten ein, aber wer wegen der grafischen Oberfläche von Windows zu Linux wechselt, geht wahrscheinlich auch von den US Marines in die französische Fremdenlegion, weil die Ausbilder da netter sind. Auch die vielgerühmte bessere Benutzbarkeit der Mac-Oberfläche vermag sich mir nicht ganz zu erschließen. Apple, das sind doch die Typen, die zu einem Zeitpunkt, als alle Welt die Vorzüge von zwei Tasten und einem Scrollrad schätzte, stur Mäuse mit exakt einer Taste auslieferte und stolz herumtönte, was für eine grandiose Idee das doch sei. Apple, das sind doch die Typen, die das wichtigste Zeichen der Mailkommunikation hinter einer völlig uneinsichtigen Tastenkombination verstecken, während der Rest der Welt sich an international normierte Layouts hält.
Doch wir schweifen ab. Eigentlich ging es mir um die Maulhelden, die ungefragt jede Leserbriefspalte, jeden Forenkommentar damit volltönen, nun sei das Ende von Microsoft besiegelt, wenn sie, sie höchst persönlich, jetzt den Wechsel zu Apple oder sonstwohin vollzögen.
Hic Rhodos, hic salta. Man muss nur ein Vierteljahr später in die Wirtschaftsblätter schauen, in denen sich die Analysten vor Begeisterung überschlagen, wie das neue Windows wieder jeden Verkaufsrekord bricht.
Natürlich gibt es da noch die Anderen, die nicht minder dämlichen Fanboys, die ebenfalls die Forenkommentare fluten. Das neue Kacheldesign von Windows, verkünden sie, sei ja so prima, man hätte ja eh nie gewusst, wie man einen 22-Zoll-Bildschirm vernünftig ausnutzen soll, aber jetzt, mit diesen hubschrauberlandeplatzgroßen Schaltflächen, da sei endlich wieder alles voll, und erst die fantastische Idee mit diesen vier Bildschirmecken, in die man die Maus nur grob steuern müsste, um eine Aktion auszulösen. Tolle Sache, da muss man endlich nicht mehr präzise zielen, sondern es reiche schon eine ungefähre Bewegung in diese Richtung. Mit Verlaub, wir reden hier von der Grobmotorik eines Braunkohlebaggers, die hier dankenswerterweise unterstützt wird. Alle, die sich glücklich schätzen können, mit einem auch nur unwesentlich präziseren Bewegungsapparat gesegnet zu sein und vielleicht auch noch über genug Intelligenz verfügen, um verstanden zu haben, dass man Mäuse nicht steuert, indem man sich auf sie setzt und mit dem Hintern wackelt, sollten in der Lage sein, mit der Maus differenziertere Kommandos abzusetzen. Was aber ein echter Fanboy ist, der verteidigt seine Götzen blind, egal was sie anstellen. Der fände Windows selbst dann noch toll, wenn es ihnm unangekündigt die komplette Platte löscht - großartig, Gratis-Neuausrichtung der Elementarmagneten, was für ein tolles Feature, das kriegt man bei anderen Systemen nur viel umständlicher.
Zweites Beispiel: Irgendein Pseudoprominenter aus der vierten oder fünften Reihe bringt ein Buch heraus. Das ist in einer Zeit, in der nahezu alles Denk- und Meinbare in relativ kompakter Form im Netz gefunden werden und man es sich meist schenken kann, die auf 200 Seiten aufgeblähte Langfassung zu lesen, ohnehin schon ein gewagtes Unterfangen, aber fürs Ego ist es einfach schöner, ein Buch mit seinem Namen drauf im Regal statt auf einer Website stehen zu haben. Genau da liegt natürlich auch die Schwierigkeit. Nach wie vor meint so ziemlich jeder, der Subjekt und Prädikat halbwegs sauber voneinander trennen kann, seine geistige Leere in Buchform offenbaren zu müssen, weswegen weiterhin unfassbar große Mengen an Neuerscheinungen den Buchmarkt fluten. Wer hier bestehen will, braucht Aufmerksamkeit. Die könnte man durch Intelligenz zu erreichen versuchen, aber mangels ausreichender Ausstattung oder einfach auch aus wirtschaftlichen Erwägungen heraus verlegt man sich meist lieber aufs Grobe. Ob ein abgehalfteter Banker einmal ganz tief in die gleiche rassistische Klamottenkiste greift, in der eine geschasste Nachrichtenredakteurin gerade herumwühlt, oder die karrieresüchtige Lebensabschnittsgefährtin eines niedersächsischen Provinzfürsten, der ein paar Wochen lang den Sessel des höchsten deutschen Staatsamts warm hielt, bis wir nach vier Jahren wieder so etwas Ähnliches wie einen Bundespräsidenten hatten, einen Suchmaschinenhersteller verklagt, weil er die Realität abbildet - völlig egal, wie peinlich man sich anstellt, die Verkaufserlöse entschädigen schnell dafür, dass man von keinem empfindungsfähigen Wesen mehr ernst genommen wird. Wenn Sie mir nicht glauben: Raten Sie mal, wer gerade die Spiegel-Beststellerliste anführt, obwohl das Buch ausnahmslos Verrisse erntete.
Wäre der Schwarm wirklich so intelligent, wie er es von sich meint, er hätte schon längst Filter entwickelt, um solche Ereignisse angemessen zu behandeln. Er hätte neue Windowsversionen mit der gleichen Gelassenheit zur Kenntnis genommen, wie er die durchschaubaren Marketingtricks viertklassiger Buchautoren ignorierte und deren Machwerke in den Regalen verrotten ließe. Statt dessen - aber lassen wir das, ich rege mich nur wieder unnötig auf.