Samstag, 26. Mai 2012

My little Congress

Sigint 2012 in Köln

Nach einem Jahr Pause ruft der CCC zur zweiten Großveranstaltung neben dem Congress, und die Nerds kommen - nicht so zahlreich wie nach Berlin, aber genug, um eine angenehme Atmosphäre aufkommen zu lassen. Geboten wird, was das Herz begehrt: ein reichhaltiges Vortragsprogramm, Workshops, Ausstellungsfläche und zwei Bars mit viel Mate.

Überragende Neuigkeiten gab es nicht, dafür umso mehr Analysen und Positionsbestimmungen. Wo sind wir gerade? Diese Frage beantwortete Constanze Kurz hinsichtlich des Bundestrojaners. Udo Vetter vertiefte weiter, worauf man im Fall einer Hausdurchsuchung und beim Kontakt mit Ermittlungsbehörden allgemein achten sollte. Ein ähnliches Thema bearbeitete Dominik Boecker, der darüber aufklärte, wie Bundestrojaner und TKÜ eingesetzt werden dürfen. Die Aktivistinnen des FoeBuD stellten ihr bereits im Dezember letzten Jahres gestartetes Social Swarm Projekt vor, das sich zum Ziel gesetzt hat, datenschutzfreundliche Alternativen zu den großen sozialen Netzen zu bieten. Malte Spitz referierte über den aktuellen Stand der Vorratsdatenspeicherung. Am Rande der Veranstaltung zog der AK Zensus Bilanz, der vor zwei Jahren auf der Sigint als Widerstandsbewegung gegen die Volkszählung ins Leben gerufen wurde. Mehrere Vorträge kümmerten sich um den Eigentumsbegriff. Dass man Clickjacking nicht als alten Hut abtun sondern in seiner aktuellen Form des UI-Redressings sehr ernst nehmen sollte, verdeutlichte Marcus Niemietz. Schon mehr eine Kunstaktion als ein Vortrag waren Benjamin Fuhrmannecks Betrachtungen zum Spam.

Einer der Höhepunkte der Sigint 12 war aus meiner Sicht die Keynote Stephan Urbachs am zweiten Tag, der mit der Ausrede aufräumte, als Hacker beschäftige man sich nur mit der Technik, und was die Anderen damit anstellten, läge außerhalb des eigenen Einflussbereichs. In seiner großartig vorgetragenen Rede stellte er klar: Wir haben Verantwortung, wir können uns nicht herausreden, wir haben die Pflicht, aktiv zu werden.

Der mit Abstand am besten besuchte Vortrag war auch gleichzeitig der, um den es im Vorfeld die meisten Diskussionen gegeben hatte. Das Thema habe beim CCC nichts zu suchen, hieß es. Dass dem sogar zwei Stunden eingeräumt würden, stelle erstens den Sinn der ganzen Sigint in Frage und werfe Zweifel auf, ob der CCC noch in die richtige Richtung steuere. Was war passiert? Hatte Jörg Zierke den Vereinsvorsitz übernommen? Hatte Constanze Kurz erklärt, die Sicherheit der Bürger könne nur durch den Polizeistaat angemessen gewährleistet werden? Nein, es ging um Ponys. Nicht die dicken, stinkenden Viecher, die einem den Stall zukoten, sondern Zeichentrickfiguren. Ich erinnere mich noch mit Grausen an diese furchtbaren, in Cremefarben gehaltenen Puppen mit den übertrieben langen Haaren, die in den Achtzigern  die Zimmer kleiner Mädchen verkitschten. Inzwischen wurde zumindest die Form der verkaufsfördernden Zeichentrickserie optisch kräftig modernisiert, was absurderweise dazu führte, dass nicht nur  Kinder, sondern auch viele Erwachsene ihr Herz für die Serie entdecken. Das alles wäre für den CCC nicht weiter wichtig, fände sich nicht ausgerechnet ein besonders aktiver Teil der erwachsenen Ponyfans in seinem Umfeld. Einige von ihnen haben sogar einen Podcast zu diesem Thema, was Anlass für die Sigint-Organisatoren war, diese Leute einzuladen.

Der Vortragsbeginn rückte näher, und auf einmal füllten sich die Flure mit Fans des Podcasts. Einige von ihnen waren sogar ohne Zögern bereit, 30 € für ein Tagesticket zu zahlen, nur um dabei sein zu können. Als es losging, war schnell klar: Das Ganze mag wenig mit Technik und Hacking im engen Sinn gemein haben, aber es geht klar um ein Stück Nerdkultur. Die Referentinnen führten unterhaltsam durch die Vergangenheit und Gegenwart des Ponyphänomens, erklärten die Geisteshaltung der Fans und zeigten viele Bilder aus der Serie. Selbst wenn man den Vortrag nur nach Publikumsgröße und Stimmung beurteilt, war er ein Erfolg.

Doch noch ein anderer Punkt war interessant: das Flauschen. Gemeint ist das Gegenteil eines Shitstorms, also das betont aufmuternde und positive Behandeln eines Menschen. Davon abgesehen, dass es wirklich immer wieder schön ist, von seiner Umwelt ein wenig Zuwendung zu erfahren, berührt diese Verhaltensweise einen Punkt, der seit der Hippiebewegung von jeder Generation neu entdeckt werden muss: Kaum etwas ist entwaffnender, kaum etwas reizt mehr, kaum etwas ist schwerer angemessen zu handhaben als jemand, der auf Agression mit übertriebener Freundlichkeit antwortet. Im Prinzip handelt es sich um eine Kampftaktik der frühen Christen: Schlag mir ins Gesicht, und ich lächle dich an, weil ich weiß, dass du ein armer Sünder bist, dem ich vergebe und mit dem ich Mitleid habe. Kann man jemandem noch deutlicher zeigen, wie weit man sich ihm überlegen wähnt? Kann man jemanden noch schneller zur Weißglut treiben?

Was ist die Sigint und was will sie sein? Grob gesagt ist sie der Sommer-Congress - mit etwa 700 Teilnehmern deutlich kleiner, aber vom Zeitpunkt sehr gut geeignet für eine Halbjahresbilanz. Findet der Congress fast am östlichsten Rand der Republik statt, liegt der Veranstaltungsort der Sigint knapp vor der Westgrenze, was denen entgegen kommt, die nicht für jede größere CCC-Veranstaltung stundenlang Richtung Berlin reisen wollen. Die vergleichsweise geringe Teilnehmerinnenzahl mag etwas den Woodstock-Charakter dämpfen, dafür hat man aber um diese Jahreszeit in der Kölner Gegend eine hohe Wahrscheinlichkeit für sommerliche Temperaturen, so dass man sich auch einmal für ein paar Stunden draußen hinsetzen und auf einer Wiese die Sonne genießen kann. Versuchen Sie das Ende Dezember auf dem Alexanderplatz.

Das Komed als Austragungsort ist zwar ganz nett, allerdings zerreißt die Aufteilung in zwei Gebäude die Veranstaltung, und man kommt sich beim Weg zum großen Vortragssaal etwas verloren vor. So gesehen hat die Sigint genau mit den umgekehrten Schwierigkeiten des Congress zu kämpfen, der bekanntlich aus allen Nähten platzt.

Damit wären wir auch beim größten Plus der Sigint angelangt: Sie ist viel entspannter als der Congress.  Wer eins der - mit unterschiedlos 60 € zugegeben nicht gerade billigen - Dauertickets haben will, bekommt eins und muss nicht als 1337 |-|4X0r ein Skript zusammenzimmern. Wer einen Vortrag besuchen möchte, geht einfach hin. Schlimmstenfalls muss man stehen, aber dass der Saal wegen Überfüllung geschlossen werden muss, kommt nicht vor. Herrscht auf dem Congress eher die Atmosphäre der gegenseitigen bedingungslosen Akzeptanz, geht die Stimmung auf der Sigint noch einen Schritt weiter: Wir beide sind Nerds, also gibt es interessante Dinge, die wir voneinander erfahren können.

Was sich auf dem Congress bereits zeigt, merkt man auf der Sigint noch deutlicher: Der CCC war nie und ist nicht eine reine Technikervereinigung, sondern sieht sich als Treffpunkt der Hackerkultur, zu der nun einmal auch bizarre Erscheinungen wie Ponyfilme gehören. Wer einem Nerd vorwirft, infantil zu sein, stellt damit die Quelle seiner Kreativität in Frage. Die Stärke des Clubs besteht gerade darin, diesen verschiedenen Strömungen ein Zuhause und eine Möglichkeit zum Austausch zu bieten. Sieht sich der Congress mit einem mehr technischem Schwerpunkt, bietet die Sigint mehr Möglichkeiten zum Experimentieren und nach meinem Empfinden auch mehr Zeit, miteinander ins Gespräch zu kommen.

Bis zum nächsten Jahr.

Samstag, 12. Mai 2012

Warum ich die Piraten wähle

"Dann guck dir den Haufen doch mal an. Nicht mal ein ordentliches Wahlprogramm haben sie, aber sitzen in den Talkshows, haben auf keine der großen politischen Fragen eine Antwort und sind auch noch darauf stolz."

"Wen meinst du jetzt: CDU, SPD oder Grüne?"

Spätestens an dieser Stelle ist der sachliche Teil der Diskussion zwischen mir und dem Wähler einer "etablierten" Partei vorbei, aber ich muss auch gestehen, dass mir an solchen Diskussionen nicht allzu viel liegt, weil ihnen ein Politikverständnis zu Grunde liegt, das von meinem in so starker Form abweicht, dass es mehr Sätze zum Erklären meiner Position braucht, als das auf simple Parolen getrimmte Wahlkämpferhirn am Informationsstand verkraftet. Zum Glück gibt es ja Blogs.

Programmierte Planlosigkeit


Da wäre zum Beispiel die hartnäckige Legende, die großen, alten Parteien hätten so unglaublich tolle Wahlprogramme. Regelmäßig gönnen sich verschiedene Zeitungen vor Wahlen den Spaß, aus den Wahlprogrammen der Parteien Sätze zu zitieren und die Leser raten zu lassen, von welcher Partei sie stammen. Bei den meisten Passagen ist zwischen Linkspartei und NPD so ziemlich alles möglich, zu beliebig sind die Phrasen. Die Umwelt wollen sie alle retten, Arbeitsplätze sowieso, Bildung muss gefördert werden, das Zusammenleben von Immigranten und Deutschen auch, und die Steuerbelastung kleiner Einkommen ist zu hoch. Die angeblichen Patentrezepte unterscheiden sich im Detail, aber können Sie auf Anhieb sagen, welche Partei sich gerade für Steuersenkungen in welcher Einkommensgruppe einsetzt - wenn überhaupt? Können Sie sagen, welche Partei gerade welche Energieform subventionieren will? Können Sie sagen, welche Partei gerade Hartz IV abschaffen, erhalten, die Sätze senken oder erhöhen will? Wer will welche Schulform? Wer will welche Art von Ausländern unter welchen Bedingungen ins Land holen, hier behalten oder wieder loswerden? Seien Sie vorsichtig mit Ihrer Antwort, das ändert sich ständig.

Hauptsache Klugschwätzen


Die schlichte Wahrheit lautet: Wir wissen vielleicht noch, ob wir an unserer Lieblingskreuzung eine Ampel oder einen Kreisverkehr haben wollen, wir haben vielleicht noch ein diffuses Gefühl dafür, welcher Bildungskanon an den Schulen vermittelt werden soll, aber spätestens, wenn es darum geht, wie das geschieht, argumentieren doch die Meisten aus dem Bauch heraus. Wenn es dann noch darum geht, die Finanzierung solcher Vorhaben zu klären, sind wir vollends im Reich der Ideologie und Spekulation gelandet. Die reichen Manager, die haben's doch. Ja, aber von denen haben wir so wenig, und wir wollen doch den Standort Deutschland (TM) nicht gefährden, lasst uns lieber den Sozialmissbrauch beenden, damit sparen wir genug Geld. Sozialmissbrauch - ist es das, wenn Kommunen mit abenteuerlichen Begründungen monatelang Zahlungen an Bedürftige verweigern, obwohl die Sache vor Gericht schon längst geklärt ist? Sozialmissbrauch - ist es das, wenn reiche Familien Betreuungsgeld bekommen, während armen Familien dieser Betrag vom Hartz-IV-Geld abgezogen wird?

Demographischer Wandel, Eurorettung, Klimakatastrophe - wer hier im Besitz einer Lösung zu sein behauptet, lügt ganz schlicht. Wir haben es hier mit komplexen und chaotischen Interaktionen zu tun, von denen man allenfalls hoffen kann, ihr Wirken verstanden zu haben. Da es aber offenbar ehrenrührig ist, seine eigene Ratlosigkeit einzugestehen, zeigt jetzt alles auf die Piraten: Hey, guck mal, die kommen nicht mit ihrer eigenen, zusammengekoksten Weltformel daher, wie sind die denn davor?

Im Zweifelsfall sind Wahlprogramme ohnehin am Wahlabend Makulatur. Entweder landet man in der Opposition, dann kann man sie ohnehin nicht durchsetzen, oder man landet in einer Regierungskoalition, was heißt, dass man sich mit Anderen zusammenraufen und überlegen muss, welches der eigenen Vorhaben man über Bord wirft. Selbst eine Alleinregierung wird es niemals schaffen, ihre Wahlversprechen exakt umzusetzen. Meist scheitern sie schon an den Grundlagen der Mathematik und dem Hauptsatz der Thermodynamik.

Denn sie wissen nicht, was sie wählen


Natürlich haben die Piraten allein schon aus formalen Gründen nachgelegt und können wie ihre etablierte Konkurrenz inzwischen ganz tolle Wahlprogramme vorweisen. Deswegen geht die Argumentation zur Stufe zwei über und sagt, es möge ja Wahlprogramme geben, aber die lese keiner, was Umfragen vom September 2011 belegen, in denen es heißt, gerade einmal sechs Prozent der Piratenwähler gäben ihre Stimme wegen der politischen Ziele dieser Partei. Wollen wir einmal die gleiche Untersuchung auf die Altparteien loslassen? Gönnen Sie sich doch einmal die Freude und fragen Sie die Leute, warum sie CDU, CSU, SPD, FDP oder Grüne wählen. SPD und CDU, so werden Sie hören, täten "was für die kleinen Leute". 

Beide gleichzeitig? Dann braucht man doch eine der beiden nicht.

"Naja die SPD engagiert sich für die Arbeiter."

Die CDU nicht?

"Doch die auch. Die will, dass sich Leistung wieder lohnt."

Aber die SPD will doch auch, dass Arbeit fair entlohnt wird. Oder war das die Linkspartei?

"Ja, die auch."


Die Grünen, wird man Ihnen dann erklären, seien "für die Umwelt".

Das sind die Anderen doch auch.

"Ja, aber die Grünen ein bisschen mehr. Mehr als die FDP auf jeden Fall."

Wofür steht die FDP eigentlich?

"Die steht für völliges Versagen."

Sie sehen schon, besondere programmatische Tiefe haben solche Unterhaltungen nicht. Ich habe schon Sozialdemokraten getroffen, welche die SPD wählen, weil sie das schon seit Jahrzehnten getan haben. Inhaltlich, so sagen sie, seien sie von der SPD schwer enttäuscht, aber von der Sozialdemokratie fiele man nicht ab, nur weil sie seit einigen Jahrzehnten völligen Mist verzapft.

Da sage noch mal einer, die Piratenwähler hätten ein diffuses Weltbild.

Piratennazis


Es gibt in Deutschland ein paar Argumentationskeulen, die immer funktionieren, wenn einem sonst die Worte ausgehen. Dokumentierter Kindesmissbrauch, vulgo "Kinderporno" und Nazis gehören dazu. In die "Kinderporno"-Falle sind die Netzaktivisten im Jahr 2009 prompt getappt, als sie sich gegen den von SPD und CDU vorangetriebenen Versuch, das Internet zu zensieren, wehrten und ein kollektiver Aufschrei durchs Volk lief, diese Internet-Hacker wollten, dass man straffrei Kinder vergewaltigen darf. Daraufhin war es wochenlang nicht möglich, gegen die Internetzensur anzugehen, ohne jedes Mal eine mehrminütige Erklärung abzugeben, dass man natürlich nicht für Kindervergewaltigung sei. Ähnlich ist es mit dem Nazivorwurf. Man kann nahezu jedem unterstellen, ein Nazi zu sein, und statt dass man handfeste Belege für diese Behauptung beibringen muss, ist die Gegenseite gezwungen, zu erklären, warum sie kein Nazi ist - was ungleich schwerer fällt, als Anderen dies vorzuwerfen. Egal, wie geschickt man sich anstellt, man kommt nicht aus der Defensive heraus. Wenn mir gar nichts mehr einfällt, verlange ich einfach lauthals von Ihnen, endlich "ein klares Bekenntnis gegen rechts abzugeben".

"Was? Wie? Wieso, ich bin doch kein -"

Ah, wusst ich's doch, kein klares Bekenntnis, Sie gehören also doch zu denen.

"Nein, ich halte es nur für überflüssig, so eine Selbstverständlichkeit -"

Na, dann erklären Sie's doch endlich. Je mehr Sie sich herumwinden, desto klarer wird doch, dass Sie in Wirklichkeit mit diesem Pack sympathisieren.

Wahrscheinlich werden Sie versuchen, abzuwiegeln, mir zu erklären versuchen, die Gefahr sei doch nicht so, wie ich sie darstelle.

Dann ist es an mir, den Mahner zu spielen. "Wehret den Anfängen", werde ich schreien. Klein habe schon einmal alles angefangen, aber wir hätten aus der Geschichte gelernt, weswegen es unsere heilige Pflicht sei, der Schoß sei fruchtbar noch, aus dem dies kroch.

Merken Sie, wie Sie langsam aggressiv werden, wie meine haltlosen Unterstellungen Sie nerven? Nur zu, lassen Sie Ihrem Ärger freien Lauf, denn genau das will ich. Nazis sind bekanntlich keine sanften Gemüter, und je mehr Sie die Kontrolle verlieren, desto besser passen Sie in die Ecke, in die ich Sie dränge.

In exakt dieser Klemme stecken die Piraten gerade. Man hat bei ihnen das entdeckt, was jede junge Partei mit noch nicht gänzlich geschliffenem Profil aber umso mehr Ideen und Elan mit sich herumschleppt: einen Bodensatz an Idioten. Die Grünen hatten in ihrer Anfangszeit auch mit diesem Phänomen zu kämpfen. Sehen Sie sich beispielsweise an, wo Baldur Springmann am Ende politisch gelandet ist. Trotzdem standen sie nie in Gefahr, von diesen Kräften übernommen zu werden. Hinsichtlich der Piraten sieht man das freilich anders. Auch hier melden sich immer wieder Leute zu Wort, deren politisches Weltbild einfach noch extrem unreif ist oder die tatsächlich eine sehr zweifelhafte Vergangenheit haben. Da im Internetzeitalter jeder über alles schreiben kann und sich immer ein Journalist findet, der genau über solche Texte stolpert, kommt es früher oder später dazu, dass in den Massenmedien Texte von zentralen Figuren der Piratenpartei auftauchen, die zumindest sehr fragwürdig sind. Darüber hinaus wäre das Internet nicht das Internet, wenn sich in solchen Fällen nicht auch einige Piraten fänden, die solche Texte begrüßen. Da bislang alle anderen Versuche, die Piraten zu diskreditieren, nicht so recht wirken wollen, greift man nun zum Nazivorwurf. Das hat bislang immer funktioniert.

Die Strategie hat nur einen Fehler: die Zielgruppe. Die Piraten mögen sich ja langsam aus der Nerdecke heraus bewegen, ihre Klientel bleiben aber weiterhin: relativ junge Menschen, hohe Bildung, internetaffin, die Plakate wie dieses verstehen. Wie werden solche Leute wohl reagieren, wenn man ihnen erzählt, die Piraten seien Nazis? Richtig, sie greifen zum I-Phone, stellen eine kurze Internetrecherche an und fragen Sie dann, woher Sie diesen Blödsinn haben. Die Einzigen, die sich von  der Nazinummer beeindrucken lassen, sind diejenigen, die ohnehin niemals Piraten wählen - allen voran Anhänger einer Partei, deren Führungsriege gern einmal Diktatoren zum Geburtstag gratuliert und ihre Stasi-Altlasten nicht loswird.

Um Himmels Willen keine Demokratie


"Volksentscheide, was für ein Unsinn. Sieh dir doch an, über welchen Quatsch die abstimmen. Wenn wir heute die direkte Demokratie einführen, haben wir morgen die Todesstrafe."

Ja, es stimmt, wir leben in hysterischen Zeiten. Wurde in meiner Jugend noch jede Woche eine neue Sau durchs Dorf getrieben, spricht man heute schon von Langeweile, wenn nicht jeden Tag ganze Schweinsrudel durch die Straßen hetzen. Wir regen uns immer mehr über immer weniger auf. Ich habe auch meine Bedenken, ob nicht aus einer zufälligen Stimmungsschwankung heraus nicht eine blödsinnige Entscheidung nach der nächsten getroffen wird, wenn wir erst einmal die Möglichkeit dazu haben. Auf der anderen Seite: Im Prinzip geschieht das bereits jetzt, und die Messinstrumente für Volkes Stimme könnten unzuverlässiger nicht sein.

Nehmen wir S 21. Wer die Diskussion um den Bahnhof verfolgte, musste den Eindruck bekommen, dass nahezu das ganze Ländle den Umbau vehement ablehnt. Diese Stimmung dürfte einer der Gründe gewesen sein, warum die normalerweise als drittstärkste Kraft agierenden Grünen auf einmal den Ministerpräsidenten stellten - was mich als Demokraten übrigens sehr freut, weil es das klassische CDU-SPD-Schema aufbricht. Der einige Monate später in deutlich ernüchterter Lage durchgeführte Volksentscheid hingegen zeigte überraschend ein ganz anderes Bild.

Anderes Beispiel: Als vor einem Jahr im fernen Japan ein ungewohnt starkes Erdbeben, ein ungewohnt großer Tsunami und ein nicht optimales Krisenmanagement dazu führten, dass ein an denkbar ungünstiger Stelle aufgebautes Atomkraftwerk explodierte, führte ein kollektiver Aufschrei in Deutschland dazu, dass die Regierung Merkel innerhalb weniger Tage eine komplette Kehrtwende vollführte und die sämtlich in wenig erdbeben- und flutgefährdeten Gegenden stehenden Nuklearanlagen überhastet abschalten ließ. Gegen den Ausstieg aus einer prinzipiell nicht beherrschbaren Technologie habe ich zwar nichts einzuwenden, wohl aber gegen die von Hysterie getriebene Art, die weder das Risiko nennenswert verringerte, noch die Frage beantwortete, wohin man den auf einen Schlag anfallenden, hoch radioaktiven Müll bringen soll, geschweige denn erklärte, welchen Sinn es hat, relativ sichere deutsche Kraftwerke abzuschalten, um sich Atomstrom teuer im Ausland einzukaufen, wo er unter teilweise haarsträubenden Umständen erzeugt wird. Ich wüsste zu gern, was herauskäme, führte man jetzt, da Japan aus den Schlagzeilen verschwunden ist, einen Volksentscheid zum Atomausstieg durch.

Hysterie ist ein schlechter Ratgeber, so viel dürfte klar sein. Dummerweise treffen wir aber aus einer aufgeheizten Stimmung heraus Entscheidungen, die für die nächsten Jahrzehnte, bisweilen sogar Jahrhunderte Auswirkungen haben. Ist das ein Argument gegen Volksentscheide?

Natürlich trifft die Vorstellung, der Deutsche sei quasi aus genetischer Veranlagung zu blöd für die direkte Demokratie, voll den Nerv der die Selbstzerfleischung liebenden und grüblerisch-obrigkeitshörigen Teutonen. Die Schweizer, ja die hättens drauf, da liefe das, aber hier? Niemals. Überhaupt: Selbst den Schweizern unterliefen peinliche Patzer, siehe Minarettverbot.

Ich habe nie behauptet, dass Demokratie eine einfache Sache ist. Ich glaube auch nicht, dass es eine gute Idee wäre, morgen über alles direkt abstimmen zu können. Ich bin mir aber sicher, dass es für das Volk an der Zeit ist, einige Rechte, die es im Lauf der Zeit zu voreilig aufgegeben hat, wieder zurück zu fordern.

Wir haben es uns bequem eingerichtet. Alle vier Jahre werfen wir mit Bleistiftkreuzchen versehene Zettel in Kästen, heben kluge, stets dem Wohlergehen des Volkes dienende Parlamentarier auf ihre Throne, von denen herab sie in der kommenden Legislaturperiode unsere Geschicke lenken. Realitätsabgleich mit der Wählermeinung ist in dieser Zeit weder nötig noch erwünscht, die weisen Abgeordneten wissen sowieso viel besser als wir selbst, was gut für uns ist. Haben sie Erfolg - umso besser. Vermasseln sie es, sind wir schuld, besaßen wir doch die Dummheit, sie zu wählen.

Ich bin froh, nicht jeden Tag über jede politische Frage entscheiden zu müssen. Die meisten Themen interessieren mich nicht einmal besonders, geschweige denn, dass ich mich dort gut auskenne. Bei ein paar Dingen möchte ich gern ein Wörtchen mitreden. Netzpolitik zum Beispiel, Datenschutz, Urheberrecht, Bürgerrechte. Gerade, wenn es um den Lebensraum Internet geht, möchte ich nicht von Lehrern, BWLern und Juristen regiert werden, welche die Parlamente in Scharen bevölkern, sondern von Leuten, die das Netz als Chance begreifen, Ländergrenzen verschwinden und freie Menschen in Austausch treten zu lassen. Im Zweifelsfall will ich die Sache lieber selbst in die Hand nehmen, und vor allem will ich die Entscheidung haben, wann ich wo direkt eingreife. Auf Neudeutsch nennt man das Liquid Democracy.

Wer hat uns verraten?


"Nur sieben Prozent wählen die Piraten wegen des Programms, der Großteil wählt aus Protest." Die Zahlen ändern sich, zum Teil werden auch zwei Jahre alte Studien zitiert, was bei einer Partei, die erst seit drei Jahren auf der politischen Bühne überhaupt wahrgenommen wird, sehr viel Zeit ist. Die angedeutete Schlussfolgerung hinter solchen Aussagen ist klar: Das Phänomen Piraten wird sich bald erledigt haben, weil dem Wähler völlig egal ist, was er aus Protest wählt, so lange er aus Protest wählt. Wenn sich sein Ärger verzogen hat, wird er brav wieder das wählen, was die kosmische Ordnung vorsieht: CDU oder SPD.

Mit genau diesen Selbsttäuschungen lügen sich die beiden ehemaligen Volksparteien seit Jahrzehnten die Lage schön. Die CDU hat dabei sogar noch halbwegs Erfolg, weil sich in ihrem politischen Lager keine ernsthafte Konkurrenz etablieren konnte, obwohl rechts von ihr nach ihrem angeblichen Linksruck doch angeblich so viel Platz ist. Was aber auch aufkam - Republikaner, DVU, NPD, um nur die erfolgreichsten zu benennen - mehr als zu gelegentlichen Achtungserfolgen in einigen Landtagen reichte es nicht. Selbst, wenn man die Stimmanteile der rechten Splittergruppen zusammenzählt, erreicht die Summe selten beeindruckende Werte. Kurz gesagt: Die CDU blutet an ihrem rechten Rand nicht aus.

Wohl aber die SPD, was vielleicht daran liegen mag, dass man im linken Spektrum naturgemäß zu einer gewissen Eigensinnigkeit neigt. Die SPD wiederum sieht sich als Volkspartei, als die große linke Kraft, die mit einer Stimme machtvoll auftritt. Das mag zu Zeiten der Industrialisierung noch funktioniert haben, als Heerscharen von Fabrikarbeitern mit weitgehend gleichen Interessen jemanden brauchten, der sie gegen einen Block bürgerlich Situierter, die um ihre Pfründe fürchteten, vertrat, aber wer sich heute in der deutschen Arbeitslandschaft umsieht, findet nicht mehr viel von den riesigen Kohlezechen, Stahlhütten und Schiffswerften. Selbst die Automobilindustrie hat viel von ihrer ehrfurchtseinflößenden Größe verloren, seit die weltweite Konkurrenz qualitativ gleichwertig und preislich günstiger herstellt. Wer heute durchs Ruhrgebiet fährt, findet statt rauchender Schlote meist nur noch rostende Stahlskelette. Die malochenden Arbeiterscharen sind durch Fortbildungen gegangen, programmieren heute Fertigungsroboter oder arbeiten irgendwo anders. Mit einer Stimme sprechen sie längst nicht mehr. Ihre Interssen sind inzwischen vielfältig.

Das hätte die SPD ahnen können, als in den Achtzigern mit den Grünen eine Partei entstand, die linke Gedanken mit bürgerlich-akademischem Milieu verbanden. Doch wie reagierte die SPD? Mit Verachtung. Die linken Zausel kämen schon zurück, wenn sie sich ausgetobt hätten. Grün - was sei das schon im Vergleich zur ruhmreichen, hundertjährigen Geschichte der Sozialdemokratie?

Das kostete die SPD rund ein Viertel ihrer Wähler.

In den Neunzigern wiederholte sich das Schema. Die SPD führte sich immer noch als die große linke Volksstimme auf, verabschiedete sich allerdings immer mehr von klassischen Vorstellungen der Arbeiterbewegung. Das brachte ihr am Ende des Jahrzehnts sogar noch einmal die Kanzlerschaft ein, verprellte aber die traditionellen Sozialdemokraten, die sich in Parteien wie der WASG oder der PDS zu sammeln begannen. Wieder reagierte die SPD mit der arroganten Haltung der großen Traditionspartei seit 1863.

Auch das kostete die SPD Wähler. Ein wenig Glück im Unglück hatte sie, weil sich das Zusammengehen klassischer Sozialdemokraten mit Steinzeitkommunisten aus dem Osten und die Garnierung dieses Haufens mit einem Kampfkläffer wie Lafontaine als taktischer Fehler erwies. Doch die Gefahr war nicht vorbei.

Spezialdemokraten


Im Jahr 2009 - die SPD hatte inzwischen mit der Einführung von Hartz IV und Studiengebühren sowie einem ständig die Grundrechte verletzenden Innenminister den Eindruck hinterlassen, jetzt vollkommen durchgeknallt zu sein - kam die damalige Familienministerin von der Leyen im Rahmen eines wahltaktischen Manövers auf die Idee, das Internet zensieren zu wollen. "Spitzenidee", sagte die SPD, "lass uns gleich ein ganzes Gesetz dazu schreiben."

Ich halte es für historischen Zufall, dass es ausgerechnet dieses Gesetz war, das die bis dahin im analogen Leben weitgehend stillen Netzbewohner auf die Palme brachte. Innerhalb weniger Wochen formierte sich ein Protest. Im Verlauf des Protests begann sich eine Partei zu profilieren, die bis dahin vollkommen irrelevant war, ein Ableger einer skandinavischen Nerdidee, irgendwelche Leute, die im Netz Filme kopieren wollen. In Deutschland bekamen sie mit Mühe und Not die Pflichtposten ihrer Partei besetzt, aber von ernsthafter politischer Arbeit konnte kaum die Rede sein. Selbst Hardcore-Nerds kannten von dem Haufen kaum mehr als den Namen: Piratenpartei.

Kein Mensch wäre auf die Idee gekommen, in dieses Grüppchen irgendeine Hoffnung zu setzen. Hoffnung setzte man hingegen auf die SPD - die Partei, die trotz aller Enttäuschungen noch am ehesten als die Kraft gesehen wurde, die der Idiotie eines Internetzensurgesetzes Einhalt gebieten konnte.

Das musste scheitern - aus mehreren Gründen: Erstens denkt die SPD in Mitgliedern, bestenfalls Wählern. Wer von der Partei etwas will, soll gefälligst erst einmal ein paar Jahre Mitgliedsbeiträge gezahlt haben. Darüber hinaus muss er sich stundenlang in Ortsvereinsversammlungen zu Tode gelangweilt, Plakate geklebt, Flugzettel verteilt, Wahlkampfstände betreut haben. So stellt sich die SPD einen Menschen vor, der das Recht hat, mit ihr zu reden. Vielleicht, ganz vielleicht und auch nur in Ausnahmesituationen ist man bereit, jemandem zuzuhören, der glaubhaft belegen kann, seit jeher und bis in alle Ewigkeit SPD zu wählen. Ansonsten, und damit kommen wir zu Punkt zwei, entscheidet die Partei nicht von unten nach oben. Statt dessen betet sie Hierachen an - Brandt, Schmidt, Rau, von solchen Leuten reden wir. Gucken Sie sich die aktuelle Führungsriege an: Steinmeier, Beck, Gabriel, dicke, alte Männer, politische Sumoringer. Wenn die etwas sagen, sickert das die Gremien runter bis zum Ortsverein Ingeln-Oesselse, der dann pflichtschuldig seine Delegierten so auswählt, dass genau das Ergebnis in der Kaskade hoch gereicht wird, welches die Parteispitze vorgab.

Bevor Sie mir jetzt entsetzte E-Mails schreiben, das sei ja alles ganz anders: a) Ich war eineinhalb Jahrzehnte Mitglied. b) Es läuft natürlich nicht immer und genau so ab, aber das Handlungsmuster taucht immer wieder auf. Von der Basisdesmokratie ist die SPD jedenfalls so weit entfernt wie Philipp Roesler von einem seriösen Auftreten.

Als die Netzaktivisten auf die SPD zutraten, war dort schon längst alles entschieden. Dieses komische Internet gehört sowieso endlich in die Schranken gewiesen, und wer etwas Anderes meint, ist Terrorist, Kindervergewaltiger oder Räuber. Entsprechend verfuhr man auch mit innerparteilichen Kritikern, die sich sehr schnell ausgegrenzt sahen. Der Versuch, das Zensurgesetz zu stoppen, hatte nie eine Chance.

Hätte sich die SPD im Sommer 2010 weniger tapsig angestellt, hätte sie glaubhaft zu verstehen versucht, was die Netzbewohner wollen, hätte sie die Anfragen nicht so arrogant abgebürstet und das noch als großartige Leistung zu verkaufen versucht, wären die Piraten wahrscheinlich weiterhin unter der Fünf-Prozent-Marke.

Das Wesen des Protests


Egal, ob Grüne, Linke oder Piraten - sie alle konnten in ihrer Anfangsphase dadurch Profil gewinnen, dass die anderen Parteien sich so vehement von ihnen distanzierten. Die Argumente gleichen sich und gewinnen dadurch nicht gerade an Glaubwürdigkeit: Die sind ja so unerfahren, die haben keine Themen und vor allem: Die wollen nur protestieren. Dass Protest etwas Schlimmes ist, kann auch nur in der Kleingartenmentalität der deutschen Parteienlandschaft jemand sagen, ohne ausgelacht zu werden.

"Das sind nur Protestwähler." Hinter dieser Aussage steht die Haltung, wer protestiere, sei selbst schuld, er könne doch auch brav den Mund halten, und alles sei gut. Das Gegenteil ist wahr. Wer protestiert, hat lang genug dem bisherigen Treiben zugesehen, hat die Diskrepanzen zwischen sich und dem Rest der Welt immer weiter wachsen sehen und sieht sich nun gezwungen, etwas zu unternehmen.  Zuerst mag es ihm tatsächlich nur darum gehen, gegen etwas zu sein, beispielsweise gegen die etablierten Parteien. Diese wiederum ziehen daraus den Schluss, es reiche aus, sich gemütlich hinzusetzen und darauf zu warten, dass die verlorenen Kinder reumütig zurückgekrochen kommen. Das hat schon bei den Grünen nicht funktioniert, das funktioniert bei der Linkspartei nicht so richtig, das wird mit einiger Wahrscheinlichkeit bei den Piraten auch nicht funktionieren. Grund dafür ist die Formbarkeit dieser Partei und damit die Möglichkeit, mit seiner Stimme nicht nur gegen das vorhandene System, sondern auch für eine von einem selbst gestaltete Alternative zu votieren.

Wenn die etablierten Parteien herumjammern, die Piraten seien nur ein Haufen Protestwähler, übersehen sie dabei, dass sie es sind, die gegen diesen Protest handeln müssten, die versuchen müssten, die Protestierer zu verstehen und ihnen wieder eine poltische Heimat zu bieten. Einfach nur arrogant lächelnd herumzusitzen und zu meinen, Netzpolitik bestünde darin, eine Webseite aufgesetzt zu haben, ist zu wenig.

Der Versuch ist es wert


Vielleicht ist es wahr, und die Piraten entpuppen sich als eine spinnerte Luftnummer. Auf der anderen Seite: Was haben wir zu  verlieren? Ich habe nicht den Eindruck, als hätte irgendeine Partei gerade den Stein der Weisen in ihrem Besitz. Die Piraten haben wenigstens einen interessanten Ansatz zu einer neuen demokratischen Entscheidungsfindung, und ich finde, diesen Ansatz kann man ruhig noch einmal ausprobieren. An mir soll es nicht scheitern.